Weiße weite Herrlichkeit

Von Willy Schiefelbein

Es ist für uns eine Zeit angekommen,
die bringt uns eine große Freud’.
Übers schneebedeckte Feld
wandern wir, wandern wir
durch die weite weiße Welt.

Es schlafen Bächlein und Seen unterm Eise,
es träumt der Wald einen tiefen Traum.
Durch den Schnee, der leise fällt,
wandern wir, wandern wir
durch die weite weiße Welt.

Vom hohen Himmel ein leuchtendes Schweigen,
erfüllt die Herzen mit Seligkeit.
Unterm sternbeglänzten Zelt
wandern wir wandern wir durch
die weite weiße Welt.

Alte Sterndreherweise

Die frische Wintermorgenluft, die heute überall spürbar weht, zieht wie Balsam in die Lunge. Es ist schön in dieser weißen Dorfeinsamkeit. Nur wenige Schritte vom Hause entfernt, und die Augen gehen voraus streifend über die Felder, die Berge, die Hänge und Bergkuppen. Von jeher zog mich das Dreieck mit seinem Saum aus Nadelbäumen besonders an. Ich liebe diesen Teil der großen deutschen Heimat, dieses Waldgebiet um Lengenfeld unterm Stein, das mit seiner weiten, abgelegenen Einsamkeit tröstend und befreiend alle Qualen der Seele löst, sie mit kraftvoller Hoffnung füllend.

Ich grüße den Hülfensberg im Westen und die lieblich lockende Ferne dahinter. Ich grüße die Keudelskuppe mit der Plesse, deren Westhänge zur Werra blicken. Die Augen wandern nach Norden zu und begegnen dem Entenberg, dem Schlossberg, auch Burgberg, auf dem Ruinen die frühere Besiedlung verraten. Gen Effelder steht in erhabener Ruhe eine Baumkulisse aus Laubbäumen, die den rauen Nordwinden den Eintritt in unser Siedlungstal wehren.

Weiter wandern die Augen in die Runde, vorbei am Walperbühl, Kälberberg, dem Hanstein, der Klosterschranne, im Südosten dem Faulunger Stein zu, und wieder – der Ring schließt sich – zum Gaiberich und Dünberg mit dem Dreieck, das der Ausgangspunkt des Rundblicks war.

Und lang und breit, so weit das Auge blicken kann, Schnee und Schnee und Schnee. Weiß ist das Feld umher, und das Dorf, weiß sind die Zäune und Bäume, Sträucher und Hecken. Silhouettenhaft stehen beiderseits der langen Dorfstraße die Bauernhäuser, mit ihrem Fachwerk leuchtend.

Die Laubbäume an Straßen und Rainen, festlich mit Schnee bestreut, umrahmen das Tal; nur ab und zu erfreut die Pyramide eines Nadelbaumes des Betrachters Auge. Mitten im säumenden Kranz der Baumkulissen schimmert das weite Schneefeld.

Es ist schön, durch diese weiße Landschaft zu wandern. Sonst eingeengt in knapper Behausung, winkt hier die beste Erholung, zieht Lebensfrische in die Lungen; sie färbt die Wangen rot und macht die Herzen weit. Es beginnt selbst die Seele übermütig zu jauchzen, die sonst so sorgen- und schwermutsstille Seele. Sie jauchzt, dass hier alles so festlich und so friedlich ist und so frei, dass gar keine Sehnsucht aufsteigen kann.

Hoch über uns zieht ein Stößer seine Bahn. Meisen schnurren vorüber und schaukeln sich auf den Zweigen. Im Schlehdornbusch am Gücksrain streiten sich zwei Goldammern herum. Im Gestrüpp am Iber grüßt mich die Amsel mit lautem „tock-tock“ und antwortet immer wieder, wenn ich sie anrufe.

Meine Blicke aber fesseln Fußspuren, tief und frisch, die über das Feld führen und verraten, dass hier trotz der Morgenfrühe schon Naturfreunde gewandert sind. Der Gang über das weiche, leichte Schneemeer ist beschwerlich und störend. Es läuft sich wie auf einer schwach gefrorenen Wasserfläche, auf der man Schritt für Schritt knietief einbricht. Knackend und krächzend knirscht der Schnee unter den Schuhen. Die ganze Landschaft ruht unter der weißen Decke. Kalt und starr breitet sich um uns das Feld. Und weiß und blank und klar und rein ist es in dieser hellen Stille. Alle leuchtenden Farben des vergangenen Herbstes sind jetzt mit der Erde Winterkleid zugedeckt. Drüben in Richtung „Heide“ ist plötzlich ein Mordsgeschrei. Krähen beleben die weiße Fläche. Sie erscheinen heute groß und schwarz. Und sie sind wachsam und schlau. Sie lassen sich nicht ankommen. So gern einige Bauern im Dorf eine Krähe haben möchten, die sie als abschreckendes Mal für die andere Sippschaft an einen Pfahl aufs Feld stecken wollten. Bei der geringsten Bewegung aber stieben die sonst so dreisten, unverschämten schwarzen Gesellen mit lautem Gekrächze auf und davon und umjohlen hoch oben den Störenfried.

Die Schneedecke an den Ufern blitzt und blinkt und glitzert. Schnee liegt auch fest auf Ästen und Zweigen der Weiden und Dornenhecken, die die Ufer der Frieda besäumen, Schnee klebt um die verwitterten Stämme, als hätten sie weiße Halskrausen aus urgroßmütterlicher Zeit. Augen und Ohren sind auf jedes Geräusch, auf jede Bewegung eingestellt. Alle Naturlaute werden als wohltuend von unserem Ohr empfunden. Die flinken Wellen des geschäftigen Baches singen eine eigene wundersame Melodie, die zu jeder Jahreszeit anders klingt.

Vom Tunnel her ertönt der Pfiff der pünktlichen Lokomotive. Bald zeigen aufsteigende Rauchwolken das Nahen des Zuges, der nach kurzem Aufenthalt in Richtung Geismar davonrollt. Dann aber liegt wieder wohltuende Stille über der Gegend, nur ab und zu vom Gebrumm durchfahrender Autos unterbrochen. Wenn wir nun stehen und lauschen, zieht Schweigen über diese weiße weite Einsamkeit. Das Blut springt warm durch die Adern und die Gedanken, die heute uns umflattern, sind licht und rein.
Und noch lange zieht durch Herz und Seele die weihevolle Freiheit der Winterluft im weiten Feld und tiefen Schnee.

Willy Schiefelbein
(Quelle: Lengenfelder Echo, Nr. 2/1957)