Was der Onkel vom Schlampanjesmann erzählte

Eine Jugenderinnerung von Lorenz (Döbernitz)

Von allen Dörfern des Eichsfeldes ist es ganz gewiss Lengenfeld, das die reizendste Lage hat, die Eichsfeldische Schweiz hat man es auch genannt.

Ringsherum Kalkberge mit den herrlichsten Buchenwäldern. An den Abhängen klettern kleine Landstreifen weit hinauf, bis das Terrain so steil und felsig wird, dass ein Anbau unmöglich wird.

Und jeder Waldstrich hat seine Eigentümlichkeit, seinen Reiz, seine Sage. Da ist der Dünberg mit seinem herrlichen Plateau mit dem großen Nadelwalde, mit der berühmten und z. T. gefürchteten „Menschenhöhle“, mit der früheren Kohlerstelle (Dallen), an der jetzt noch Kohlenüberreste herumliegen, dann das Saunest, Kloster Zella. der Stein, der herrliche Schlossberg mit den Überbleibseln der alten Burg.

Und das Walperbühl! Davon wollte ich gerade erzahlen. Wenn man von Lengenfeld aus den Tippstieg hinaufklettert und immer geradeaus weiter steigt, so kommt man nach dem Dorfe Effelder. Ehe man aus dem Walde heraustritt, gewahrt man fast, am Rande des Waldes, nahe am Wege, eine alte ehrwürdige Buche. Hoch ist der Stamm nicht, aber eine mächtige Krone hat er. Seinen Riesenleib können vier Mann kaum umspannen. Das Alter ist an dem Riesenbaume nicht spurlos vorübergegangen; er ist hohl. Zwei Knaben haben in seinem Innern Raum genug.

Hier wohnt der Schlampanjesmann, ein Riese, wie sein Aufenthaltsort.

Zehn Schritt vom Waldesrand entfernt stehen auf einer Steinsrutsche einige Hecken, das sind die Spinnhecken. Hier sitzt der Schlampanjesmann bei Tage und spinnt.

Wehe dem Vorübergehenden, der sich unterstehen wollte, ihn zu necken, der mit Steinen in die Hecken werfen oder gar seinen Namen rufen wollte.

Der Schlampanjesmann versteht keinen Spaß, er hängt sich auf des Spötters Rücken und lässt sich tragen.

Nicht weit vom Schlampanjesmann entfernt wohnt der Siebenackersmann. Sieben Äcker bewacht er, der Riesenkerl. Er ist den Menschen nicht so feindlich gesinnt, er wacht nur auf sein Gut. Einige Leute wollen ihn gesehen haben und behaupten, er hatte nicht einen Kopf wie die Menschen, auf seinem Halse befände sich ein großes Wagenrad. Das muss ihm wohl etwas unbequem sein. Deshalb kann er sich weniger um die Menschen kümmern als sein Freund und Nachbar Schlampanjesmann.

Doch der Onkel wollte erzählen.

Es war an einem kühlen Herbstmorgen, zur Zeit der Kartoffelernte und der Herbstferien. Einige Schulkinder waren mit dem Onkel zum Walperbühl gegangen, um ihm bei seiner Kartoffelernte zu helfen. Dichter Nebel lagerte im Tale und als die Sonne von Struth her kam, hatte sie einen bitteren Kampf zu führen, bis der letzte Nebelschwaden verschwunden war.

Doch darauf hatten wir weniger zu achten als auf unsere Kartoffeln und erkalteten Hände.

Onkel Niklais war ein gemütlicher redseliger Mann, der es mit uns Kindern gut meinte. Aber heute Morgen war er sehr still. Es musste ihm eine Laus über die Leber gekrochen sein. Wer und was aber die Laus war, wussten wir nicht.

Da brachte der lustige Hans das Gespräch auf den Schlampanjesmann. „Ei“, rief er, „der Schlampanjesmann könnte aus dem Walde kommen und mit Kartoffeln lesen.“

Dann hielt er seine schmutzigen Hände vor den Mund und rief laut in den Wald: „Schlampanjesmann, kumm, les met Kartüffel uff! Wir Jungens riefen Ähnliches in den Wald.

Der Onkel guckte uns komisch an. Dann sagte er, indem er seine Mütze auf das andere Ohr schob, und mit der Arbeit aufhörte: „Kinder, wenn ihr das erlebt hättet, was ich mit dem Schlampanjesmann erlebt habe, so tätet ihr nicht so rufen.“

„Na was?“, schrien wir alle.

„Seid nur fleißig bis zu Mittag, dann erzähl ich“, meinte der Onkel.

Der Mittag kam nur langsam heran, aber endlich sahen wir vom Dorfe aus ein Madchen mit unserem Mittagbrot herankommen.

Wir setzten uns zu Tisch, d. h. auf die Erde und warteten der Dinge, die da kommen sollten. Die alte Lene sagte: „Beten wollen wir hier nicht. Ich bete jedes Mal zu hause des Abends für den ganzen Tag mit, mein Morgen- und Abendgebet.“ Da wir der Ansicht waren, das sei eine neue Erfindung, nahmen wir uns vor, es auch so zu machen, bekreuzten uns und aßen.

Nach dem Essen zündete der Alte noch ein Pfeifchen an. Wir bestürmten ihn, nun vom Schlampanjesmann zu erzählen.

Onkel Niklais blies mächtige Wolken aus seiner Pfeife, wie ein Mann, der gut gespeist hatte, und setzte eine Amtsmiene auf, wie immer, wenn er erzählte. Dann hub er an:

„Die meisten Menschen glauben nicht an den Schlampanjesmann. Ich habe ihn aber gespürt und habe ihn sogar schon mal auf meinem Rücken gehabt.

Wie ich noch so ein Bürschchen von so 22 Jahren war, gingen wir nach Effelder zur Kirmes. Es war so um diese Jahreszeit. Es waren uns fünf Mann; Hans, dein Vater war auch mit. Da war grad die schönste Clique zusammen und hatten wir den schönsten Spatz. Die Effelderschen haben sich sehr geärgert, weil die schönsten Madchen mit den Lengenfelder Burschen tanzten.“

„Du Timpel, – konntest ja nicht mal ’n Schottisch“, unterbrach ihn da seine zarte Ehehälfte.

„Halt’n Schnabel!“, fuhr Onkel Niklais fort. „Also als wir nun den Hals voll hatten, so um zwölf rum, machten wir uns auf die Strümpfe. Wir kamen schnell an den Wald, bis an die dicke Schlampanjesbuche. Da muss mich nun der Schinder geritten haben. Ein bisschen angeheitert waren wir ja auch. Ich rufe nun ganz laut: „Schlampanjesmann, du bist verrückt!“

Wie ich das gesagt habe, – „Pums!“, gibt’s einen Knall und ein Kerl huppt auf meinen Rücken. Es war in der Nacht heller Mondenschein, aber von dem Augenblick an sah ich nichts mehr. Der Kerl wurde doch ein bisschen schwer, aber ich konnte ihn nicht abschütteln, er hielt sich zu fest. Ich tappte nun im Finstern weiter, immer hinter den Stimmen der anderen her. Der Schweiß floss mir von der Stirn herunter, aber ich wollte ihnen doch nichts sagen, sonst hätten sie mich bloß ausgelacht.

So waren wir aus dem Walde herausgetreten und kamen da an den Rain. Da fiel ich hin – und der Kerl war fort. Nun konnte ich auch wieder sehen. Die anderen standen um mich rum und lachten mich aus. Der Vater des Hans sagte noch: „Na, Klaus, du willst dich wohl hier schon hinlegen? Warte doch noch ein bisschen, dann find wir zu Hause, – und Kerl, du schwitzt!“

Das war der Schlampanjesmann, welcher ...“

„Du bist nicht nüchtern gewesen“, meinte da seine Lisbeth.

„Nee, da bin ich nüchtern geworden“, entgegnete er. „Frag nur Hans seinen Vater, der war dabei. Schwer war der Schlampanjer, wenigstens seine zwei Zentner wog er. Bis da an den Rain geht sein Gebiet. Hier kann er uns nichts mehr anhaben.

Doch, nun wollen wir wieder zur Arbeit.

In Schlampanjesmann-Stimmung arbeiteten wir weiter, bis der Abend hereinbrach.

Die Lene ging in ihr Häuschen. Ob sie das Gebet des ganzen Tages eingeholt und noch einige Tage Vorrat gebetet hat, weiß ich nicht.

Wir aber schlichen an unser Bett und träumten vom Schlampanjesmann. Er kam mit dem Siebenackersmann Arm in Arm.

„Du hast mich gerufen“, sagte er, „nun sollst du mich zur Ruhe tragen“, und ich trug und trug ihn, wohl durch die halbe Welt. Auf einmal gab’s einen Knall – der Schlampanjesmann hatte mich verlassen.

Vor dem Belle aber stand meine Mutter und fragte: „Willst du denn noch nicht aufstehen?“

Am nächsten Sonntag zwischen 3 und 4 Uhr waren wir bei der Schlampanjesbuche und spielten in ihrem Innern Versteck. Der Schlampanjesmann hätte uns wohl gern geohrfeigt, aber er konnte ja nicht aus der Spinnhecke; er musste ja spinnen.

Einige Tage darauf traf ich Hansens Vater.

„Vetter Michel“, sagte ich zu ihm, „ist es denn wahr, dass Vetter Niklais mal den Schlampanjesmann getragen hat?“

Er lachte verschmitzt und sagte: „So, das hat er euch wohl erzählt? Na, ich kann’s ja sagen: Mich hat er damals getragen und ich habe ihm die Augen zugehalten. Mir hat's ja ganz gut getan. Hahaha!

Sobald ich Vetter Niklais begegnete, sagte ich zu ihm: „Ihr habt ja damals den Schlampanjesmann gar nicht getragen“

Das war ihm doch ein wenig viel. An seinen Worten zweifelte man! „Waaas, Junge!“, schrie er.

„Ja, ja“, sagte ich. „Hansens Vater habt ihr getragen; er hat’s mir gestern erzählt.“

Da riss er erst recht Mund und Nase auf. Sollte das wahr sein? Endlich musste ihm doch wohl ein Licht aufgehen. Er murmelte so was aus Brehms Tierleben und empfahl sich auf Englisch.

Ein halbes Jahr lang hat er mich keines Blickes mehr gewürdigt.

Bei den Spinnhecken ist’s nun still geworden. Schlampanjes- und Siebenackersmann haben lange nichts von sich hören lassen. Aber manch altes Weiblein, das an den Hecken vorbei muss, schlägt ein Kreuz, dass ihr die Riesen nicht schaden.

Die Buben spielen noch heute im Innern der Buche und nehmen eine Tasche voll faulen Holzes mit nach Hause.

Autor: Lorentz (Döbernitz)
Quelle: Eichsfelder Land. Schilderungen und Forschungen. Organ zur Förderung des Natur- und Heimatschutzes. Herausgegeben von Georg Heinrich Daub unter Mitwirkung heimatkundlicher Fachmänner. (Beilage zur Eichsfeldia) Nr. 9, 1924. Druck und Verlag von F. W. Cordier, Heiligenstadt (Eichsfeld), (4. Jahrgang).