Ein Nikolaustag vor 60 Jahren

Auch damals kam er schon, der Nikolaus, der die guten Kinder belohnt und die bösen bestraft. Ich war damals etwa 6 Jahre alt. Wir waren mit den Eltern und den großen Geschwistern im Zimmer und warteten der Dinge, die da kommen sollten. Ein böses Gewissen hatte ich nicht, aber meine Angst vor dem hl. Mann war groß. Um sie zu unterdrücken, stichelte ich an einem Puppenjäckchen, lauschte dabei aber gespannt auf jedes Geräusch. Zwei jüngere Geschwister saßen mit am Tisch, aber der größere Bruder, etwa 11 Jahre und sein Freund Heinrich brüsteten sich mit ihrem Heldenmut.

Als draußen eine Kette klirrte, wagten sie es, aus dem Fenster zu rufen: „Nikleis, kumm rin!“ Ich war starr vor Schrecken, denn nun rasselte laut eine schwere Eisenkette; schwere Stiefel stapften eine Treppe herauf, und wenige Augenblicke darauf klatschte die Rute an die Tür. Ich konnte mich nicht von der Stelle rühren und fing an zu weinen. Dass die anderen Kinder verschwunden waren, als hätte sie die Erde verschluckt, hatte ich gar nicht bemerkt. Nun stand er vor mir, der schreckliche Mann, im dicken Schafspelz und mit dem schweren Sacke auf dem Rücken. Er wusste gar nicht, dass ich ja so artig war, aber jetzt solche Angst hatte. Mit seiner dicken Rute schlug er gar hart auf den Tisch und brummte: „Wills du jetzt beten?“ Ich fing an mit dem „Vater unser“, aber, o je, vor Schluchzen konnte ich fast kein Wort herausbringen. Die Mutter half, dass ich zu Ende kam. Nun wurde er ruhiger, er sprach freundlich und schenkte mir einen Apfel.

Da war ich erlöst, doch wunderte ich mich, dass es im Himmel so grüne Äpfel gab. Unterdessen waren auch die beiden Kleinen wieder unter dem Tisch hervorgekrochen; ich sehe das noch heute, wie ihre Gesichter wieder über der Tischkante erschienen. Viel weniger ängstlich als ich sagten sie ihre Gebete, und sie wurden mit zwei schönen, rotwangigen Äpfeln belohnt. „Ungerecht!“, dachte ich. Aber wo waren die beiden großen Bengel geblieben? Total verschwunden. Doch der hl. Mann wusste ja, sie mussten da sein. Mit der Rute suchte er unter dem Sofa, doch da war keiner. Die Tür zur Kammer stand offen.

Also ging er mit schweren Schritten hinein und strich scheltend mit der Rute auch unter den Betten hin, ja, er suchte hinter dem Schrank und unter dem Tisch. Mutter hatte schon Angst, er würde noch die Petroleumlampe umstoßen. Die Jungen waren nicht da. Schimpfend und polternd tapste er nun wieder hinaus, und kurz darauf waren die beiden frechen Jungen wieder da. Nikolaus hatte nicht daran gedacht, dass auch hinter der aufgeschlagenen Tür ein feines Versteck war. So waren die bösen Buben nicht gefunden worden.

Wenn Sie auch hinter der Tür heftiges Herzklopfen gehabt hatten, nun war er ja fort. Ein lauter Jubel brach aus, und sie waren nun doch die Helden des Tages. Nach einiger Zeit ließ die Mutter aber keine Ruhe, dass der Heinrich nun nach Hause gehen sollte. Ach, jetzt verließ ihn doch der Mut, doch Mutter blieb unerbittlich. Sie ließ ihn hinaus, und ich sorgte dafür, dass sie die Tür richtig verriegelte. Doch er war kaum auf der Straße, da rasselten in geringer Entfernung wieder schwere Eisenketten. Heinrich machte kehrt, kam zur Pforte hereingestürzt, ballerte mit beiden Fäusten an die Haustür und schrie: „Wase Sabine, macht uff, macht uff!“ Die Tür ging auf und noch rechtzeitig hinter ihm wieder zu. Kreidebleich und zitternd vor Schrecken trat Heinrich ganz kleinlaut in die Stube. An diesem Abend ging er nicht mehr nach Hause.