Von der Heimat zur Heimat

Ein weniges außerhalb, wo die schlanken, dunklen Tannen, ihre langen, zackigen Finger zum Himmel empor strecken, liegt der Dorffriedhof. Dahin bin ich einmal gegangen, an einem sonnigklaren, leuchtenden Herbsttage. Da glitzerte die Sonne über die Steine und Kreuze und im leichten Luftzuge raschelten die welkenden Blätter. Da bin ich durch die schmalen Gänge zwischen den Grabstätten gewandelt und habe, eingemeißelt in Stein und gemalt auf Holzkreuze, viele Namen Bekannter gelesen, deren einstige Träger da unten in der kühlen Grabeskammer der Urständ (Auferstehung) entgegenharren.

Und dann ging ich weiter hinüber, jenseitig, wo der Rasen üppiger steht. Dorten sind nur noch letzte Spuren von Gräbern und die darin liegen, sind mir unbekannt. Heimatmenschen mögen hier liegen, die längst vor meiner Geburt schon hier schliefen. Die paar Kreuzlein, die da noch stehen, sind windschief und gebeugt, wie Greise - sind morsch und die Tage bis zu ihrem völligen Vergang sind gezählt. Dazwischen ragt auch hie und da ein ganz alter, flechtenüberwucherter Stein, der ein Denkmal ist für einen, den die jetzige Generation nicht mehr kennt. Da musste ich an das alte, längst vergangene Dorfgeschlecht denken, an seine schlichte Lebensart und Biederkeit, an seine Tage der Not und Freuden, die der Tod ausgelöscht hat wie flackernde Kerzen mit kaltem Hauch und zerdrückt mit knöcherner Hand. –

Heimatmenschen meiner Dorfheimat, die auch in ihren Tagen ihre Idyllen und Schönheiten hatte, sind es, die hier ruhen, so kam es mir in den Sinn – Heimatmenschen, die einstens ringsum die Hänge gerodet, die die Straßen bauten, auf denen wir wandeln, die Gehöfte anlegten, in denen wir siedeln, die wallend gezogen durch die Heimatfluren mit Kreuz und Fahnen hinauf zum lieben Hülfensberge. Die mit Sorgenstirnen zusammengekommen unter der alten Dorfangerlinde – die frohsinnig da auch ihre Kirmes feierten, die die Bäume gepflanzt, von denen wir die Früchte brechen, ohne dankendes Gedenken an sie. An solches musste ich denken, wie ich vor solch’ einem alten Grabdenkmal stand, das hingesunken ins Moos. Und ein Drang überkam mich, zu wissen, wem einstens es gesetzt worden. Aber die kargen Schriftzeichen waren verwaschen und verborkt wie alte Narben, die nicht mehr schmerzen. Auf der Vorderseite nichts mehr und nichts weniger als ein Kreuzlein. Auf der Wendseite noch einige Zeichen, die zu enträtseln ich mich rechtschaffen mühte. Das gelang mir recht und schlecht mit Mühe. Ein Vierzeiler war’s in etwa der Fassung:

"Von der Heimat zur Heimat
Von der Unrast zur Rast
Von der Ernte die Aussaat
- Auf Erden ein Gast."

Das war die Inschrift. Die schrieb ich mir in mein Taschenbüchlein und sann dann wieder ein weniges nach. Die Inschrift – sie gab mir nun zwar keine Auskunft in dem Sinne, wie ich sie heischte. Sie gab mir weniger – und gab mir mehr. So stand ich vor dem alten Stein und entblößte das Haupt, denn er kam mir vor wie ein altehrwürdiges Kanzelgestühl, auf dem der Tote im vergeistigten Prälatenantlitz stand und anknüpfend an die Worte obiger Inschrift eine Predigt hielt an mich, den Lebenden.

Von der Heimat zur Heimat! – Wir wähnen dahier eine Heimat zu haben - und irren. Denn wir haben sie nicht als im Staube des Todes.
Von der Unrast zur Rast! – Unruhig ist unser Herz, bis es ruhet in dir, o Gott! Von der Ernte die Aussaat – Wie ein Samenkorn wird unser verweslicher Leib gebettet, damit daraus sprießet die große Ernte des Herrn am Auferstehungs- und Richtetage. Auf Erden ein Gast. Wie ein heimatloser Wanderer eingekehrt in die Gaststätte des irdischen Daseins. Weiter gewandelt auf der staubigen Lebensstraße. Ein Fremdling geblieben unter der Menschengemeinschaft unserer Tage – und zuletzt Herberge heischend stehen vor den Toren der Ewigkeit. Das ist unser Weg. –

So stand ich eine Weile versunken vor dem geheimnisvollen Prediger. Dann wandte ich mich und ging durch lärmende Gassen. Da wollte einer den Zaun neu setzen und es war Streit unter hitzköpfigen Männern um den Grenzstein. „Der steht so recht; der Jägernikel kunnt’ Zeuge sein“, eiferte einer. Und der andere: „Wenn er nit allängstens auf dem Kirchhofe die Knochen ruhte.“
...Da komm’ ich her – da komm ich hin... Da kommt auch ihr hin, ihr unrastigen Menschen! Von der Heimat – o schändet das Wort nicht – zur Heimat. – Von der Unrast zur Ruh...