Die große Glocke auf dem Hülfensberg

Zu einer sagenumwobenen Kirche gehört auch eine sagenumwobene Glocke. Noch im vorigen Jahrhundert konnte man, wenn die große Glocke auf dem Berg läutete, hören, dass die Kinder in Geismar zu den Tönen der Glocke folgenden eigentümlichen Vers riefen:

"Sui fand,
Maichen band,
blinder Gül zogk mich har
uffen Hilfensbargk!"
"Sau fand,
Mädchen band,
blinder Gaul zog mich her
auf den Hülfensberg!"

Die große Glocke auf dem Hülfensberg


Mit diesen wenigen Worten erzählten die Kinder, wie die Glocke auf den Berg gekommen sein soll: In der Nähe des Hülfensbergdorfes Geismar lag in alter Zeit das Dorf Bolkendorf, in Urkunden auch Pulkendorf genannt, das dann in einer Fehde zerstört wurde. Der Turm der Kirche war dabei stehen geblieben. Nach einiger Zeit fiel er in sich zusammen und versank im Erdboden. Nach einer Reihe von Jahren waren alle Überreste der ehemaligen Ortschaft verschwunden. An der Stelle, wo ehemals friedliche Menschen wohnten, war Ackerland entstanden, auf dem gesät und geerntet wurde. Vor vielen, vielen Jahren nun hütete hier eines Nachmittags der Schweinehirt von Geismar seine Herde. Sein wachsamer Hund hielt die Tiere in guter Ordnung. Auf einmal bemerkte er, dass eine Sau zurückgeblieben war. Der Hirte schickte seinen Hund nach ihr, um sie heranzuholen, doch das Borstentier blieb hartnäckig an der Stelle, an der es ihm besonders zu gefallen schien. Das kam dem Hirten verwunderlich vor und er begab sich selbst zu dem eigenwilligen Tier. Und was bemerkte er? Aus dem vom Schwein aufgewühlten Boden sah ein Stück Metall hervor. Im ersten Augenblick dachte der einfache Mann an einen Schatz, der hier vergraben sein könnte und er sah sich schon als Besitzer großer Reichtümer. So begann er zu kratzen und zu schnarren und als er die Erde entfernt hatte, erblickte er zu seinem Erstaunen den oberen Teil einer Glocke. Da es ohnehin dämmrig wurde und der Abend sich ankündigte, trieb der Hirt seine Herde dem Dorfe zu und erzählte hier von seinem Funde. Die Einwohner schüttelten die Köpfe und hielten ihn für einen Aufschneider. Da er aber fest bei seiner Behauptung blieb, eilten die Leute zu der bezeichneten Stelle und fanden zu ihrer Verwunderung die Worte des Hirten bestätigt. Noch am Abend kam der Gemeinderat in der Dorfschänke zusammen und beratschlagte, wie die Glocke zu heben sei. Man beschloss, am folgenden Morgen unter Führung des Schultheißen mit Hebebäumen, Ketten, Seilen und einem mit zwei Pferden bespannten Wagen an die Arbeit zu gehen. Schon bei der Morgendämmerung war die Bevölkerung des ganzen Dorfes zur Stelle. Ein langes Seil wurde an der Glocke befestigt und die anwesenden Männer begannen aus Leibeskräften daran zu ziehen. Doch die Glocke gab nicht nach. Nun spannte man die beiden Pferde an das Seil, gleichfalls ohne Erfolg. Darauf wurde ein halbes Dutzend der zugkräftigsten Pferde aus dem Dorf geholt, aber auch diese vermochten die Glocke nicht herauszuziehen. Man war ratlos. Inzwischen hatte sich die Nachricht in der ganzen Umgebung verbreitet und auch aus den Nachbardörfern hatten sich Schaulustige eingefunden. Unter ihnen befand sich auch ein Mädchen von eigenartiger Schönheit. Es trat zum Schulzen und erklärte, die Glocke ganz allein herausziehen zu wollen. Die Zuschauer lachten laut auf, als sie von dem Angebot des Mädchens erfuhren und überall hörte man spöttische Bemerkungen. Der Schultheiß aber, der seine Freude an dem unbefangenen Mädchen hatte, verwies die Leute zur Ruhe und sagte mehr im Scherz als im Ernst: „Versuche deine Kunst!“ Nun löste die Schöne von ihrem Haar ein rotes Band, befestigte es an der Glocke und mit leichter Mühe gelang ihr das, was viele Männer und Pferde nicht vermocht hatten. Die Glocke war völlig unversehrt. In der Form wich sie jedoch von den anderen bekannten Glocken ab: Nach unten zu, wo die anderen Glocken sich weiten, verengte sie sich stark. Aus der Menge tönten Worte der Bewunderung und des Beifalls. Aber bei einigen alten Weibern zeigten sich Anzeichen von Missgunst und man begann zu rufen: „Das geht nicht mit rechten Dingen zu! Eine Hexe! Verbrennt sie!“ Einige junge Burschen traten ihnen jedoch entgegen und riefen: „Die Hexen sind ganz woanders zu suchen!“ Das Mädchen aber schien sich um all das nicht zu kümmern. Es sagte ruhig: „Ladet die Glocke auf den Wagen und spannt ein blindes Pferd davor. Es wird die Glocke ohne jede Führung an den rechten Ort bringen!“ Nach diesen Worten trat das Mädchen in die Menge zurück und war plötzlich verschwunden. Nachdem sich die Aufregung unter den Zuschauern gelegt hatte, ordnete der Schultheiß an, ein blindes Pferd aus dem Dorfe zu holen. Inzwischen wurde die Glocke auf den Wagen geladen und als das Pferd herangebracht war, spannte man es ein. Zum Erstaunen aller setzte sich der blinde Gaul in Bewegung und nahm die Richtung nach dem Hülfensberg. Ohne große Schwierigkeiten kam das Pferd mit seiner Last auf dem Berge an. Da man eine offensichtliche Fügung Gottes zu erkennen glaubte, errichte man schon bald einen Glockenstuhl und hängte die Glocke darin auf. Als sie aber zum ersten Mal geläutet wurde, staunte man nicht wenig über den wunderbaren klaren Ton und als man genau hinhörte, glaubte man die Worte zu verstehen:

"Sui fand,
Maichen band,
blinder Gül zogl mich har
uffen Hilfensbargk!"

Die Glocke hing bis zum Jahre 1890 noch oben auf dem Berg. Aus irgendeinem Grund kam man auf den Gedanken, aus der einen großen zwei kleine Glocken gießen zu lassen. Das geschah auch. Und so hört man heute nicht mehr den schönen vollen Ton der Glocke – und aus dem Mund der kleinen Kinder auch nicht mehr den erzählenden Spruch.