Winterlandschaft um Lengenfeld unterm Stein (1940)

Dicht und tief verschneit liegt Tal und Dorf. Vor den Fenstern in den Futterkästen sitzen dick aufgeplusterte Kohl- und Blaumeisen und picken, was ihnen mitfühlende Menschen spenden. Große Schwärme von Sperlingen, Goldammern und Buchfinken in buntem Durcheinander beleben mit Geschrei die Bauernhöfe und Dorfstraßen.

In den Gärten balgen sich Amseln, Krähen und jetzt sogar die scheuen und sonst unnahbaren Eichelhäher, um die faulen Fallobstreste, die sie mühsam aus dem Schnee scharren. Diesen Tieren all hat der schneebedeckte Winter ihr wildes unnahbares Wesen genommen, denn Hunger und Kälte tun weh. Alles was sonst in Wald und Feld keuchte und fleuchte, scheint zum futtergebenden und schützenden Dorf zu ziehen. Schön gewahrt man im Schnee der Dorfgärten Linien paarweiser Tupfen, die Fährten von Wiesel, Iltis und Marder.

Doch nicht alle unserer heimischen, in freier Wildbahn lebenden Tiere kommen zu uns ins Dorf; viele gibt es, die meiden die Nähe der Menschen und bleiben ihm fern, trotz Eis und Schnee. – Um diese im Kampf ums Dasein zu beobachten, müssen wir schon selbst zum nahen ausgestorben scheinenden Tannenhochwald des Dienbergs steigen, um zugleich von der großen Kuppe aus, die herrliche Winterlandschaft unseres Friedatales auf uns einwirken zu lassen.

Langsam steigen wir den noch unbetretenen Pfad zur Höhe empor, links am Wege liegt still verträumt und weiß eingehüllt, unsere ehemalige Grotte; sie ist leider durch ein unter ihr liegendes, ausgewaschenes Gipsnest im Röt halb Versunken, noch umgeben von einigen Zeugen ehemaligen Glanzes, einiger schöner Linden und Ziersträucher. Von letzteren zupft sich gerade ein Schwarm rotbrüstiger Dompfaffen mit melodischem „süd-süd“ die letzten Vogelbeeren.

Rings um die Grotte zeichnen sich im Schnee scharf die Fährten von Freund Löffelmann, dem Hasen, ab, aber auch dazwischen die schnürende Fährte von Reineke Fuchs und im Höhersteigen sehe ich im Geiste die Überfälle, die die Familie Reineke an gerade dieser geschützten Stelle schon auf Löffelmanns ausgeführt haben mag.

Kurz vor dem Hochwald fällt unser Blick auf einen Feldapfelbaum, dessen kahle Zweige geschmückt sind mit einer grünen Mistel, über und über besetzt mit silberweißen Beeren, gleich Perlen. Lasst auch der Mistel ihren Platz, sie war den Ahnen heilig, war sie doch der immergrüne Schmuck im Hause der Germanen am Julfest.

Der Hochwald ist erreicht, geheimnisvoll stumm und still scheint er ausgestorben im tiefen Winterschlaf. Doch, äfft uns nicht ein Trugbild? Sitzt dort nicht am Stamm einer Buche ein lebender Schmetterling? Wir wähnten doch in dieser Zeit jegliches Insektenleben ruhend oder tot! Beim Näherschauen stellen wir fest, dass es ein Hasenöhrchenspinner ist, so benannt wegen seiner ungewöhnlich großen Fühler. Sein wissenschaftlicher Name ist Ptilophora plumigera. Diese Art, die im Dezember und Januar, trotz Eis und Schnee ihre Flugzeit hat, bildet so ein lebendes frisches Futter für unsere insektenfressenden Vögel. Wie vorsorglich ist doch die Natur!

Über uns am Hang, am Rande des beginnenden Tannenwaldes, tönt schon das immerwährende „zit-zit-zit“ eines gemischten Schwarmes zierlicher kleiner Tannenmeisen und Goldhähnchen. Blitzschnellen geflügelten Elfen gleich, huschen sie unter den schneebedeckten Tannenzweigen umher auf der nimmer ruhenden Suche nach Eiern, Larven und Puppen von Kiefernschädlingen. Hier und da blitzen die Häubchen der Goldhähnchen auf wie gleißendes Gold.

Da, was ist das? Dort schießt ein grauer Pfeil mitten zwischen die muntere Schar. Ängstliches Zirpen erfüllt die Duft, eine Wölke Pulverschnee wirbelt auf, dann ein ärgerliches kurzes „kerrkerr“, und aus dem Schneestaub löst sich ein Sperber. Mit Schadenfreude stellen, wir fest: Nichts in den Fängen! Ärgerlich schießt er dem Dorfe zu, um auf irgendeinem Gartenbaum aufzubäumen und dort in aller Ruhe abzuwarten bis er in einen Schwann Sperlinge einstoßen kann oder gar eine ahnungslose Amsel erwischt. Die soll ihm gegönnt werden, aber um die Goldhähnchen wäre es zu schade gewesen und leben will ja auch der Sperber.

Noch ein kurzer Aufstieg und die große Kuppe ist erreicht. Tief atmen wir die herbe Winterluft ein. Der uns gegenüberliegende Walperbühl und die vielen unser Tal umschließenden Berge scheinen zum Greifen nahe. Nicht sehr weit reicht unser Blick, denn dicht hinter den umschließenden Bergen lagert sich kulissengleich eine Schicht feinen nebeligen Dunstes.

Unser Tal bildet eine abgeschlossene Welt für sich. Kerzengerade steigen die Rauchsäulen aus den Schornsteinen Lengenfelds in die Luft; majestätische Ruhe und Frieden. Friede doch nur scheinbar, dort gegen Faulungen löst sich aus der Dunstschicht kommend schemenhaft ein großer Vogel. Fast zwei Meter klaftern seine Flügel. Ein zweiter folgt, und mit ruderndem Flügelschlag durchschneiden sie das Friedatal, fallen plötzlich in eine eisfreie Stelle der Frieda ein und stehen da, wie wir durch das Fernglas beobachten können, zwei eingerammten Weidenpfählen gleich, im Wasser, um mit lang gestreckten Hälsen auf Forellen zu warten. Denn auch die Fischreiher wollen leben, wenn auch zum Leidwesen der Fischereiberechtigten.

Rückwärts wandern wir auf den mit kerzengeraden Fichten eingesäumten und tief verschneiten Wegen durch den Tannenhochwald der Tauschfläche. Die verschneiten Tannen bieten mit ihren Schnee- und duftbehangenen Zweigen immer neue und schönere bizarre Formen von unvergleichlicher Schönheit. Halblinks vor uns schreckt plötzlich ein Rehbock „böh-böh“. Mit zwei Weitsprüngen schießt er quer vor uns über den Weg. Zwei Ricken folgen und lassen die weißen Spiegel blitzen.

Aus dem angrenzenden Laubwald hört man durch die harte Winterluft das Hämmern der Spechte, die an ihren Spechtschmieden die Fichtenzapfen zerhacken, um so den öligen Fichtensamen bloßzulegen, eine Hauptwinternahrung der Spechte. Von der westlichen Höhenwand des Gaiberges werfen wir noch einen Blick auf das eingeschneite Hildebrandshausen. Der Jubel rodelnder Kinder schallt herauf bis zu uns.

Langsam steigen wir bergab. Unten im Tal schlängelt sich neben uns am Weg der Rosenbach. Auf einem über das Wasser hängenden Weidenast sitzt ein Eisvogel und späht nach Beute. Herrlich leuchtet sein grünblau schillerndes Kleid. Wir haben ihn erschreckt; wie ein glitzernder Edelstein schießt er ab, ein Tier der Tropen, wie sein schillerndes Kleid verrät, und nicht des hohen Nordens, wie fälschlich angenommen wird, ob seines Namens.

Schon fängt es an zu dämmern. Kurz vor dem Dorf geistert schon mit lautlosem Flug eine Schleiereule durch die Luft auf der Suche nach Mäusen. Durch Winterzauber und Daseinskampf in der Natur neu gestärkt an Körper und Geist beenden wir unsere Wanderung.

Lambert Rummel
(Quelle: „Lengenfelder Echo“, Februar-Ausgabe 1958)
(erstveröffentlicht unter dem Titel „Winterwanderung um Lengenfeld unterm Stein in „Eichsfelder Heimatbote“, Ausgabe vom 13.01.1940 sowie erneut in der Ausgabe vom 25.02.1956)