Gottes Wege

Ein Herbsttag führte mich dahin, wo die Toten ruhen. Allerseelenstimmung hielt mich umfangen und ich wollte die Gräber zählen derer, die mir nahe gestanden. – Dort liegt Vaters Grab, nicht weit davon in der folgenden Reihe das der Mutter. Das sind die Gräber derer, die mir nahe, ganz nahe gestanden. Und nun – wie viele sind es noch? – Da drüben … eins – zwei – drei – vier … und ich zählte und zählte die schier endlosen Grabhügel. – Da empfand ich sie alle, die hier ruhten, standen mir nahe. Sie alle waren meine Leid- und Weggenossen.

Mein Blick glitt über die Grabsteine und Kreuze. Dort ein efeuumrangter Hügel. Der darunter schläft, war Jahre lang mein Nachbar gewesen im Kirchenstuhl. Dann ging er hinaus, war an des Lebens Glücksschmiede getreten, hatte mit Jugendkraft das spröde Eisen gehämmert, und neben ihm hatte das Schicksal gestanden und noch wuchtiger geschmiedet, bis ihm der Hammer entfallen. Im Schrein kehrte er den Weg zurück. Stand der mir nicht nah?

Und dort noch ein Grab. Da schläft ein jungfrohes Mädchen, mit dem ich gemeinsam manches Jahr an gleicher Arbeitsstätte gewerkt, bis sein Platz eines Tages leer blieb, weil der unbarmherzige Tod mit blutleeren Lippen das Leben fortgeküsst hatte. Stand es mir nicht auch nah – nah, wie noch so viele, viele andere. –

Da erfasst mich Einsamen tiefes Weh und ich wende mich nach der Mitte des reich bestellten Totenfeldes, nach dem Friedhofskreuz. Eine Frage will sich aus der Brust ringen: „Warum, o Herr?“ Als ich dort in der Mitte des Friedhofes stand, wo die Kastanienbäume im Winde rauschen, da fiel mein Blick auf ein Grab nah zu Füßen des Kreuzbildes. Hier ruhen die toten Hirten inmitten ihrer schlafenden Herde – gute Hirten, die gleich ihrem Lehrmeister bereit waren, das Leben zu geben für die ihnen anvertrauten Schafe. Da liegt ganz zuerst beim Kreuz ein junger Priester, ein Sohn des Heimatdörfchens, im stillen Schlafe.

Da entstehen meinem regen Geiste Bilder, die der Alltag nicht schafft. Jahrzehnte liegen sie zurück und sind doch so lebenswahr, so süß und doch so – herb: Die Straßen des Ortes tragen Festschmuck. Daher zieht die Prozession, inmitten der junge Priester, der hier schläft. Ein Ehrentag ist angebrochen, ohnegleichen für ihn und seine betagten Eltern. Ein Freudentag ist es für die ganze Gemeinde. Heute feiert er am festgeschmückten Altare seines Heimatkirchleins sein erstes, reines Opfer. – Er war schlichter Leute Kind. Bald erhielt er im schönen Sauerlande eine Stelle als Vikar. Sein rastloser, wissenbedürftiger Geist ruhte nicht; weiter oblag er unermüdlich dem Studium.

Wenn er aber einmal daheim war und die Kanzel der Dorfkirche bestieg, da riss ihn die Begeisterung empor und pflanzte sich fort in die Herzen der Zuhörer. Wenn er aber im schlichten Priesterrock durch die Dorfstraße schritt, dem elterlichen Hause zu, da sagten die Leute: „Es wird einmal etwas Großes aus ihm.“

Als der große Krieg entbrannt war und das Leid auch in die Häuser seines Heimatdorfes zog, da verstand er es, den lindernden Balsam des Trostes in die Herzen der andächtig horchenden Dörfler zu gießen und auch in das Herz seiner betagten, schwergeprüften Eltern, die mit verhaltenem Herzeleid im Kirchstuhle zu Füßen der Kanzel knieten; denn auch in seine Familie hatte der Krieg dunkle Schatten geworfen.
Da hatte er dort oben gestanden, ein Gottgesandter, ein Samaritan, der Öl und Balsam in klaffende Wunden goss.

„Gottes Wege sind nicht unsere Wege!“ – das war sein Vorspruch gewesen. Dann hatten seine trostvollen Worte sich hineingesenkt in die heimgesuchten Herzen und hatten sich ausgerungen in manchem ergebungsvollen Gebet: „Herr, Dein heiliger Wille geschehe an uns.“
Das war seine letzte Predigt gewesen von der Kanzel seines Heimatkirchleins. Der Krieg tobte weiter und brachte einen Wechsel in seine Amtstätigkeit. Da war an den Schmerzenslagern der Kriegsopfer sein Platz gewesen, wieder als berufener Samaritan des barmherzigen Gottes und heilend gab er in seinem Auftrage den tröstlichen Balsam: „Ego te absolvo“ – „Deine Sünden sind dir vergeben.“ Da holte er sich den Keim zu einer heimtückischen Krankheit. – Der gute Hirt lässt sein Leben für seine Schafe. –

Langsam rollte der Wagen, auf der der verhängte, blumengeschmückte Sarg stand, daher. Die alte Linde am Bildstock am Weg durchzitterte ein schmerzliches Rauschen und sachte warf sie herbstgefärbte Blätter auf den Heimkehrenden im stillen Schrein. Auf dem Friedhofsgang nah beim Kreuz ist sein Grab.

Nun versinkt das Bild. Ich schaue trostlos und traurig darauf. Abenddämmerung bricht herein. Ich gedenke des stillen Schläfers und dann blicke ich empor zum Kreuz. Wieder drängt sich die zagende Frage aus dem Herzen herauf und ringt sich los von meinen Lippen bebend: „Warum, o Gott, musste es so kommen? – Siehe, was er uns hätte sein können.“

Aber als ich so aufschaute, da war es, als hätte das wuchtige Kreuzbild sich verändert, als trüge es die Form der Kanzel unseres Kirchleins droben am Berge. Es war, als lösten sich die nägeldurchbohrten Hände langsam von ihren Fesseln. Der Schmerzensmann dort bekam Leben – es war, als trüge er die Züge des dort ruhenden jungen Seelenhirten. –
Segnend erhob er die Hand über die Gräberreihen ringsum und weit hallend trug der Wind es darüber hin: „Meine Wege sind nicht eure Wege.“

Da erstarb mein banges „Warum?“ auf meinen Lippen. –
In den Kastanienbäumen aber ging ein Rauschen wie stimmungswehes Präludium einer Kirchenorgel. –
Da schritt ich durch das Friedhofstor dem Leben entgegen. Aber es war nicht mehr das große dunkle Tor des Menschenvergehens. – Da drinnen im tothauchenden Friedhof war Leben und die Toten hatten ihre Predigt – „Gottes Wege sind nicht unsere Wege.“

Adam Richwien