Auf heimatlichen Pfaden

Wie könnte je dein lieblich Bild erblassen
Mein Heimatdorf mit deinen Winkeln, Gassen,
Du bist mir wie ein Kindermärchenbuch,
Bist wie ein Trunk aus einem Zauberkrug.

Wieder mal schlossen sich die Pforten der Schulen für einige Wochen. – Ferienzeit – Ausspannzeit für Geist und Nerven. Hinaus geht’s in die Ferne. Es tut ja so wohl, in einer fernen unbekannten Gegend das Gemüt zu stärken. Wie so wundersam sind fremde Berge und Täler, wie lieblich murmeln da die Bächlein, wie traumhaft und geheimnisvoll raunt es in den Baumkronen. Süßen Melodeien klingen im Herzen und mischen sich in das erhebende Empfinden, frei und ungehemmt von Alltagspflichten und Sorgen die Natur und ihre Wunder in sich aufnehmen zu können. Ja es ist schon so … Aber noch anders – noch erhebender muss es sein, in der lieben trauten Heimatwelt die wenigen Ausspanntage, die Beruf und Leben übrig lassen, zu verbringen.

Mancher liebe Landsmann, den das Schicksal in die weite Welt verschlagen, hatte denn auch dieses Jahr wieder, von Heimatsehnsucht gepackt, den Weg zu seinem lieben Heimathaus und Heimatdorf genommen. Wer noch gezögert hatte, als Tag für Tag der Regen klatschte, der entschloss sich schnell, als endlich die Flut verebbte. Das Dampfross trug ihn zur Heimat, hin an die Stätten tausenderlei Jugenderinnerungen. Da hatten auch die „Bimmelbähnchen“ ein bisschen mehr Arbeit bekommen. An den Wagenfenstern sah man frohe Gesichter. Unermüdlich sprühte das Dampfross zischende Gischt auf den Schienenweg und puffte sein rhythmisch Lied: „Man daas nit schafft, dann wäis ich’s nit – dann wäis ich’s nit …“ Noch heller werden die Gesichter an den Wagenfenstern. Hände strecken sich. Dort – dort der Hilfensberg. Aber schon türmen sich zu beiden Seiten wieder massige Felsblöcke. Traumhaft stehen dunkle Föhrengruppen. Unter einer dicken Buche äugt ein Reh. Ein schriller Pfiff und hinein geht’s in die dunkle Nacht des Tunnels. Bald sieht man wieder die weißen Schwaden an den Fenstern vorüberhuschen. –

Man tritt wieder an die Fenster, um das überaus wechselvolle Bild der „eichsfeldischen Schweiz“ in sich aufzunehmen. Der tosende Hall verflaut und eh man sich versieht, bricht wieder lachender Sonnenstrahl durch die Fenster. Das wiederholt sich einige Mal, bis der Bilstaltunnel genommen ist. Ein wildweinumranktes Wärterhäuschen kuschelt sich vor das dunkle Tunneltor. Ganz nah der Heimat. Scharf windet sich die Kurve nach Osten. Oben von schroffer Felswand grüßt die Schlossberglinde. Der Zug gleitet über eichsfeldischen Heimatboden von reicher Historika. Im Westen wird der Hilfensberg wieder sichtbar. Dort schlängelt der „Rosenbach“. Ganz drüben, südlich, sehen wir das idyllische Dörfchen Hildebrandshausen. Einer zeigt hinüber und sagt seinem Jungen: „Dort wohnt Großmutter.“ „Winke, winke Großmutter“, ruft der Kleine und klatscht lustig in die Hände. Sicher erwartet die gute Großmutter drüben am Lengenfelder Bahnhof schon, ausgerüstet mit dem eichsfeldischen Tragekorb, den Zug, der den Sohn, die Schwiegertochter und das Enkelein bringt. – Sicher steht sie schon drüben und späht mit beschatteten Augen herüber auf den fahrenden Zug.

Weit gebreitet liegt das Friedatal vor uns. Aber alles gleitet wie ein Film vorüber. Nicht viel Zeit ist mehr, Eindrücke haften zu lassen. Schon sind wir im „Schacht“ und donnern über die Brücke. Man wir irregeleitet. Man greift nach dem Gepäck. Aber nein – das war einmal … Man meint, hier müsste man aussteigen, müsste hier das charakteristische Gesicht des alten Vetter Nikolaus sehen, dem Gestrengen die Fahrkarte präsentieren: ’N Tag Vetter Nikolaus.“ Aber nein – in rasender Eile geht’s vorbei an einem verlassenen Häuschen, das wohl gar keine Bedeutung mehr hat. – Früher mal, da war es so. Da ging man hier den steilen Kirchberg hinab. Da sprudelte der Heimatborn – der alte „Lochborn“. Da lag der schattige Rasen. Aber heute geht’s vorbei, so ungefähr, wo der „rote Graben“, o ich kenne ihn gut – lag, hält der Zug. Die Schaffner rufen: „Lengenfeld“ – die Betonung legen sie auf „feld“. – So – nun ist’s gut, jetzt sind wir am Ziel. – Ganz in der Nähe des Bahnhofs ein modern eingerichtetes Restaurant.

Also bis hierher – „auf die Heide“, hat sich Lengenfeld schon ausgedehnt – und wäre der Krieg nicht gekommen, wer weiß, ob nicht hier brotschaffende Fabrikanlagen ständen. Der „rote Graben“ ist auch noch da; aber eingezäunt. Ob er noch die schönen Kirschen, die „Suibelsteele“, die Platschbirnen hat wie in der Zeit, wo wir ihm gern einmal „so nebenbei“ – mit dem „Grasebittel“ durchstreiften. – Wie gesagt – er war nicht eingezäunt. – Warum ich nur solche Kleinigkeiten erwähne? Jugendträume – „kieme Jungenstreiche“. Wem geht es anders, der nur ab und zu ins Heimatdorf kommt? – Der „hohle Weg“ – früher recht ausgefahren – wo manchmal einer mit dem Fuhrwerk stecken blieb, ist zur gut gepflegten Bahnhofstraße geworden. Die Nordseite ist bebaut. Schmucke Neubauten im Villenstil. An der anderen Seite kuschelt noch das Klüschen „Klüschen“, der bekannte Bildstock, den wir mit Feldblumen schmückten. Er steht nicht mehr so einsam als einst – aber die zwei schattigen Linden zu seinen Seiten sind dahin. Schade. –

Dann kommt ein für dörfliche Verhältnisse recht ansehnlicher Bau, das Krankenhaus (Niederlassung der armen Franziskanerinnen). Erbaut wurde es um 1905 herum und hat schon unendlich viel Segen gestiftet. Die Schwestern haben eine „Kleinkinderverwahrschule“ eingerichtet, pflegen Kranke und alte Leute und halten Kochkurse ab. Seit Jahren wird das Haus auch als Kuraufenthalt geschätzt und gewinnt mehr und mehr Bedeutung. Jeder Fremde, der nach Lengenfeld kommt, bezeichnet die Gegend als schön. Selbst der nüchterne Geschäftsreisende bestätigt das, von den Eindrücken überwältigt, die Täler und Höhen hervorrufen. Man hat in der letzten Zeit ab und zu von Lengenfeld gelesen. Man liest gern von seiner Heimat.

Solche Geisteskost stärkt die Heimatliebe, und kommt man einmal wieder zur Heimat, so sieht man alles mit geschärftem Blick. – Der Kirchbergrasen ist in Gemüsegarten umgewandelt. Es ist gut und praktisch, Gemüse zu ziehen; gleich gut ist ein Spielplatz für Kinder. Da am Kirchbergrasen hat man den toten Kriegshelden ein Denkmal errichtet. Es ist eine lange Reihe von Namen, die hier eingemeißelt ist. Man kann leider nicht sagen, dass die Denkmalsfrage gut gelöst ist. Lengenfeld hatte wohl das erste Denkmal für die Gefallenen, aber nicht das beste. Bei der alten Dorfschenke vermisst man den Anger. Früher war wohl kein eichsfeldisches Dorf ohne so einen schönen lindenumrauschten Anger. Auch Lengenfeld hatte einen solchen. Schon lange sind nun die alten Linden gefällt. Der Dorfanger musste den Platz hergeben zu einem Saalbau. Schade, dass man es unterlassen hat, an irgendeinem passenden Platz einen neuen Anger zu errichten und ihn mit Linden zu bepflanzen. Vielleicht hätte der Kirchbergrasen einen schönen Platz dazu hergegeben. Manches hat die Heimat geben müssen; manches ist dahin. Manches hat sie noch. Mir gefällt die schöne Sitte des Aveläutens und noch mehr, dass man noch gewohnt ist, beim Glockenklange den englischen Gruß zu beten. Besonders gut hat mir gefallen, als alte harte Männer, die im Dorfwirtshaus saßen, beim Klange der Aveglocke ihr Schafkopfspiel unterbrachen und still beteten, dann aber, nach Beendigung des Gebetes sich laut: „Guten Nobd“ wünschten. Ja – das war noch ein altes unverblasstes Heimatbild – das war noch etwas …

Es sind viele Fremde im Dorf. Aber nein – es sind keine Fremden. Es sind Kinder der Heimat, die in die Fremde verschlagen, die Heimatsehnsucht zur Heimat trieb, um hier zu wandeln für kurze Zeit auf lieben Jugendpfaden. Mancher hat Weib und Kinder und mit ihnen unternimmt er Streifen in die heimatlichen Berge, wo er jeden Quell, jeden Baum kennt. Er zeigt hinauf an die Hänge: „Dort war uns Land!“ Und er erinnert sich – er plaudert und Weib und Kinder hören zu. Vaters – Mutters Heimatwelt liegt vor ihnen gebreitet und die Eltern erzählen davon. Mutter spricht vom Großvater, wie er auf dem Sterbebette gelegen. Wie der, nach einem letzten Wunsch gefragt, meinte: „Ach hätt’ ich einen frischen Trunk vom Börnchen an meinem Land – da oben vom Rimbiehl.“ Dann fühlen die Kinder, was den Alten die Heimat war. Sie erkennen das Wesen der Heimatliebe und fühlen: Ein frischer Trunk vom Quell der Heimat ist manchem Sehnen bis in die Sterbestund’ …

Schön und erhebend ist es dann auch, in der Heimatkirche dem Gottesdienst beizuwohnen. Tausend Erinnerungen knüpfen sich ja auch an die Dorfkirche. Die Lengenfelder Kirche war ein Schmerzens- und Sorgenkind. Eine durchgreifende bauliche Maßnahm vor etwa 20 Jahren hat der Angst und Not ein Ende gemacht. Die Gesangmelodien sind auch auf dem Eichsfelde allenthalben modernisiert. Trotzdem – die alten Melodien waren schön und erhebend. Es lässt sich darüber streiten, ob man dem eichsfeldischen Volke damit Schlechtes genommen und Besseres gegeben hat. – Jedoch – das ist eine rein persönliche Meinung. – Vielleicht irre ich darin …

Die Tage gehen schnell dahin. Streifen werden gemacht in die Berge, nach dem nahen Kloster Zella. Es ist erfreulich, dass der Besitzer zurzeit das Klosterkirchlein wieder in Ordnung bringen lässt. – Wer weiß – vielleicht klingen hier im engen Klostertal noch einmal wieder die Glocken und rufen zum Dienst des Allerhöchsten – wie ehedem.

Reizende kleine Ausflüge in die nahe Umgebung: zum Bischofstein, Burgberg, Schlossberg. Droben auf dem kleinen schmucklosen Bergfriedhof liegt auch „Schloss-Müller“. Der einstmalige Besitzer von Bischofstein. Lebendig steht diese robuste Bauerngestalt vor mir auf. – Man steht still und sinnt. Unten dreht sich das Rad der Hagemühle rastlos – wie ein Sinnbild der Zeit. Dort der Friedhof im Tal. Man denkt an manchen Alten – an manchen Jungen, der dort liegt. – Die Masten der Überlandzentrale ragen. Niemand ist imstande, die Zeit und ihre Entwicklung zu hemmen. Wer will sich ihr entgegenstemmen? Aber dennoch – beim Schein der Petroleumlampe gab es auch „Lichtstunden“ – heller vielleicht als heute, wo die elektrischen Birnen glühen.

Ja – da sang man noch Volkslieder – und Mütter konnten Märchen erzählen. Glückliche Mutter du – wenn du es noch fertig bringst, deinen Kindern ein Lied zu singen – ein schlichtes Märchen zu erzählen – und hättest du es selbst erdichtet. – O es sind andere Zeiten. – Aber wir – sind nicht andere Menschen? … Warum sehen wir es so wenig, wie Gott unsere Heimat so üppig gesegnet hat. Ein alter Baum – eine dunkle verträumte Tannengruppe – ein Bildstock am Wege – ja ein altes vergilbtes Buch, ein Madonnenbild – verstaubt in der Rumpelkammer – fragt es nicht: „Weißt Du noch?“ – Und wenn Du Dich erinnerst: „Ja ich weiß es noch.“ – Dann hast Du das Märchen, das anhebt: „Es war einmal“. – Auf dieses: „Es war einmal“, warten die Kinder. Versuch es, zeichne ihnen deine Jugend mit Wäldern und Wiesen, mit Mühlen und Bächen – mit Liebe und Leid. – Dann hast Du eine Genugtuung: Du wandelst auf den verschlungenen Pfaden Deiner Heimat und Du kannst sprechen:

O traute Heimat, bist mir wie ein Märchenbuch
- Bist wie ein Trunk aus einem Zauberkrug.