Ein Junimorgen und Wallfahrt zum Hülfensberg

Ganz leise graut schon der Morgen. Hinter der waldumkränzten Höhe des Kälberberges steigt die Sonne empor und lässt ihre goldigen Strahlen auf Wald und Wiesental fallen. Die grauweißen Wolken haben sich am klarblauen Junihimmel verflüchtet. Es ertönt ein ganzer Chor von gefiederten Sängern, die Drossel flötet und Lerchen singen trillernd in die Lüfte steigend ihr Morgenlied. Wie Edelsteine und Diamanten funkeln und glitzern an den Gräsern die unzähligen Tautropfen. Goldgelber Hahnenfuß und Löwenzahn öffnen ihre Blüten und weiße Margueriten wiegen sich in leisem Morgenwinde. In voller Blütenpracht leuchten an den Rainen die Heckenrosen und kleine weiße Blütensternchen füllen die Dolden des Holunders. Ein zauberschöner Junitag bricht an!

Verträumt und still liegt im Tal das Dorf. Noch schwebt stille Einsamkeit über Straßen und Gassen. Nur leise plätschern die Wellen des Friedabaches. Fensterscheiben blinken; und die weißen Giebel der alten Fachwerkhäuser leuchten in der aufgehenden Sonne. Vom hohen Turm der Kirche kündet die Uhr die fünfte Stunde. Dann beginnt in Dorf und Tal ein reges Leben. Die Dörfler rüsten sich zur Wallfahrt nach dem Hülfensberge.

„Noch liegt der Berg im Dämmergrau,
kaum ahnt der Ost den ersten Strahl,
und harret sein erwartungsfroh;
da wird es laut zu Berg und Tal!
Durch alle Wälder ein Gebraus,
und ein Gesumm durch jeden Hag,
bringt eine Völkerwanderung
der zauberschöne Junitag.“

(Hermann Iseke)

Wie schon in alten Zeiten ziehen die Wallfahrer durch das Tal. Singend und betend pilgern sie auf jahrhundertalten Pfaden den Berg empor. Immer neuer Zustrom füllt das wogende Menschenmeer auf Eichsfelds heiliger Höhe. Dicht gedrängt, unter dem grünen Blätterdach alter Linden, nehmen Tausende von Pilgern am feierlichen Gottesdienst teil. Fromme Lieder schallen herab ins Tal der Frieda und Werra; und stille Gebete in besonderen Anliegen steigen himmelwärts. Kaum wird es einen Waller geben, der nicht vom Berg aus in die einzig schöne Fernsicht schaut. Viele werden es auch sein, deren Denkwelt Fernflug nimmt zu irgendeinem lieben Verwandten jenseits der unten liegenden Zonengrenze.

Wie schön der Ausblick vom Hülfensberge ist, schildert J. Feldmann in folgenden Versen:

„Von heil’ger Höh ins Land zu schaun,
ist Himmelslust und Segen!
Wie tief das Tal, wie weit die Au’n
im Sonnenglanz gelegen!
Ein Funkeln von Unendlichkeit
wird meiner Seele eigen;
auch meiner Wünsche Nichtigkeit
sie hüllen sich ins Schweigen.“

Frohgemut – und getragen von tiefstem inneren Lebens- und Seelenglück ziehen die Pilger wieder heimwärts in die Tal- und Höhendörfer zurück, wo sie beim Eintreffen mit dem Geläut der Heimatglocken empfangen werden.

Heinrich Richwien
(Quelle: „Lengenfelder Echo“, Nr. 6/1959)