Vision

Droben in den Bergen, in den tannenduftenden Bergen meiner eichsfeldischen Heimat habe ich einmal gelegen im weichen, flaumigen Moos und habe mich berauscht am prickelnden, narkotischen Duft eines Kleefeldes, das am Waldsaum gebreitet lag wie ein kunstvoll gewirkter Blumenteppich, habe mit halb geschlossenen Augen die weißen Wolkenflocken gleiten sehen auf blauem Grunde, habe des Waldbächleins Flüstern, Glucksen und Raunen gehört. Dabei ist mir ein unaussprechliches, seltsames Empfinden gekommen und hat mich im Bann gehalten. Es war mir, als wandele sich die Landschaft rings um mich her in eine gewaltige Naturbühne, auf der ein erschütterndes Drama spielte. -
Und ich habe die Augen, die halb geöffneten, geschlossen und gesehen, erlebt und empfunden...

Dort der einsam raunende Waldquell...
Doch, klingt's nicht von daher wie ein Lied, ein nie gehörtes, wonnig und hell wie der Nachtigall Schlag?...
Sitzt dort nicht in nie gesehener Tracht, im Gold bestickten Mieder, ein liebliches Märchenkind? -Ist's nicht, als lächelt es den Träumer im Moos bezaubernd an? -Dort im Tal, im Blankental, am Hang des Walperbühls, wirft ein Bauernbursch' braune Furchen. Im Halbschlafe, der mich umfängt, höre ich seinen anspornenden Zuruf an das klapperige Zugtier. Doch das stört nicht, - es gehört zur Szene, passt sich harmonisch dem Ganzen an...

Sieht der einsame Pflüger dort gemeinsam mit mir das Zauberbild? Nicht lange gehe ich der Frage nach. Doch ich empfinde, dass ich hier einen seltsamen Wachtraum träume am heimatlichen Waldbronnen, der unablässig sein kühles Wasser hinabsendet ins Tal, wo die Menschen siedeln. Was wissen diese Menschen von diese Menschen von diesem Quell? Nichts, als dass man ihn Köhlersborn nennt. Aber mir will er vielleicht heute anvertrauen, was einst um ihn her war. –

Dort am Quell sitzt des bärtigen, rußigen Köhlers Kind. Drüben am Hanstein raucht des Vaters Meiler. – Und der Bursche im Grund – im Herzen heimlich trägt er die Minne...
Das ist kein Bild unserer Tage; es ist ein Traumbild aus längst geschwundener Zeit - Vision...
In ein braunes, seltsam geformtes Steinkrüglein sprudelte Waldborns kühles Wasser. –
Nun ist es gefüllt bis zum Rand und behänd wie ein Rehlein ist meine Heldin hinter den waldigen Naturkulissen verschwunden... Mit leisem, geheimnisvollem Klucks springt eine schmutzig-graue Kröte in den Rinnsal im fußschmalen Bettlein des Köhlerborns. Deuten mir ihre starr glotzenden Äuglein nicht schwangerndes Unheil den lieblichen Waldkinde?...

Dort am Hanstein die Köhlerhütte. Davor primitiver Holzbank der Schweiß triefende, bärtige Köhler. Sein Leben sind der rauchende Meiler und sein singendes Kind. Dort kommt es geeilt und trägt ihm Labung, unverfälschte Köhlerbornlabung zu von seinem Born, dem Waldquell, der sprudelt fürs Waldgetier, ihn und sein Kind... Und sein Trank ist ein Zaubertrank, denn den Krugrand küssten die sangesfrohen Lippen seiner Irmriede...

Dort im Westen, ganz vorn auf vorgeschobenem, schroffen Felsgrat blinken die Zinnen und Türme des alten Raubnestes Stein. Dort haust im erzklirrenden Ritterkleid ein grimmiger Falke. Was Wunder, wenn er auf seinen verschlagenen Ritten auf verschlungenem Waldpfade meinem Köhlermädchen begegnete! Was Wunder, wenn es ihm die braunen Rehaugen des Waldfeeleins angetan, gleich dem pflügenden Burschen am Hang.
– Ich sehe ihn, sehe deutlich seine unheildrohende Gestalt. Sieht er nicht aus in seiner erzstarren Ritterkappe bei geklapptem Visier wie die unheildrohende Kröte dort im schmalen Wasserbettlein?...

Nun wahre dich du Köhler – nun wahre dein liebliches Kind! Im Westen, dort am Horizont hängen Gewitterwolken. Unheilverkündend stieben graue Ballen über den Uhlenstein. – Doch hier summen noch die Bienen in emsiger Arbeit. Hier singt noch die Amsel im Busch; hier schaukeln noch bunte Falter auf schwankem Blütenstängel. Noch duftet das Kleefeld so narkotisch am Waldsaume.

Da erscheint die braune Sängerin am Quell. Sorglos gleitet sie ins Gras und ihr Lied klingt wie schmetternder Nachtigallklang. – Einsam liegen die braunen Schollen am Hang. Krähen begehen die aufgewühlte Erde und zerstückeln mit unbarmherzigen Schnabelhieben das sich windende Gewürm...

Hier am Quell aber klingt ein Lied und im bezaubernden Klang schwingen die Töne hinüber zum Walperbühl, hinab ins Blankental – und westwärts zum Stein:

"Ich bin eines Köhlers Kind,
ich bin eine arme Maid;
wenn ich ein Blümlein find,
soll's zieren mein Miederkleid. -
Ich bin eines Köhlers Kind,
wart bis ich ein Herze find',
das küret mich arme Maid -
zum Bräutlein im Miederkleid."
- - -

Da krächzt in unheimlichem, misstönendem Schrei heiser ein Häher im Tann, heraus bricht der Ritter vom Stein. Erschrocken starren die eben noch so lieblichen Züge der Sängerin, dann liegt sie quer vor dem wilden Räuber auf schnaubendem Rosse. In Hast und Eile spielt die Handlung. Schon klappern des flinken Tieres Hufschläge den Hügel hinauf und verlieren sich im weichen Waldpfad. – Lauschend reckt sich die Kröte am Uferrain, dann ist's wie immer – nur, als ob die sprudelnden Wasser schluchzen...

In der Köhlerhütte wartet einer vergebens auf sein Kind. Schwächer steigt der Rauch vom Meiler. – Am Quell sitzt der Alte nun Tag für Tag und Nacht für Nacht und bleicher wird sein Haar und bleicher seine Züge...
Über die Hänge ringsum wechselt mit schaurigem Eulengeschrei eines Wahnsinnigen erschütternder Ruf: "Irmriede, mein Kind – komm zum Vater geschwind. - - - Irm – riede – mein Kind..." Dann ist's, als ob in die Klagerufe des Waldgreises ein Schluchzen sich mischt aus dem wasserspeisenden Fels – oder sind's nur die gurgelnden Laute des Köhlersborns? - -

Er wendet Tränen getrübten Blick hinauf zum Hanstein, wo noch schwach der Meiler raucht und wankt dann fort mit knorriger Stabstütze. In der folgenden Nacht lodern dort oben mächtige Feuergarben. Ihr Schein dringt hin in die Schlafkämmerlein des Dörfchens im Grund und spiegelt an den Zinnen des Steins – blutrot; an einem Gitterfenster lugt eine Schattengestalt, deren bleiche Lippen flüstern: "Wie dort des Vaters Meiler glüht"...

Am anderen Morgen liegt da, wo die Hütte stand und der Meiler, rauchendes Balkenwerk, Geäst, Trümmer und ein zerbrochenes Krüglein. Die Glut zehrt an sengenden Kleidern. Sterben und Vernichtung haucht alles... Die Tragödie endet. Des Köhlers Gebein verglüht zu Asche in den brennenden Resten seines Meilers.

Da fühle ich im Halbschlummer die Pulse heftiger Schlagen ob des Geschauten. "Srrr - srrr", dringt's im langsamen Erwachen herauf vom duftenden Kleefeldsaume. – Kaum zehn Schritte entfernt, knacken im Gebüsch dürre Äste. Da schnelle ich empor und reibe schlaftrunken die Augen. Dort ist eine Reisig sammelnde Greisin aus dem Taldorfe. Sie blinzelt mich an und nickt freundlich: "Na, gut geträumt?" Dann sehe ich am Kleefeld einen Bauern eifrig die Sense schwingen. In Massen fallen die duftenden Blütenstängel geordnet von der unerbittlichem Schneide in kundiger Hand zu langen Schwaden...

Wie lange ich da gelegen? Unten im Westen sinkt blutrot der Sonnenball und Dämmerung steigt langsam ins blütenschwangernde Waldtal. Einsam liegt der Köhlersborn. Im Hinabschreiten redet mich der mähende Bauer an: "Ich wollt, der läge auf dem Rücken", dabei über das weite Kleefeld weisend. Mich aber hielt ein seltsames Empfinden umfangen und halb unbewusst gab ich die Antwort: "Ich wollte, ich wäre ein Dichter."

Aber schon sinkt die Sense schon wieder ihr Lied in den Stängeln und er hat meine Rede überhört, - und das war gut so... Und wie ich weiter hinabschreite in Tal, am schmalen Rinnbett des Waldquells entlang, da raunen die Wasser: Es war einmal...

Unten im Blankental wende ich noch einmal den Blick hinauf. Blutrot glüht im Scheiden der Sonne der Hansteinfelsen und glitzerndes Flimmern spielt über den tannen- und buchenbestandenem Hang...
Sinnend muss ich an die Stunden denken, wo ich dort oben im Moose gelegen. – Ob es schon jemand außer mir erlebt hat, dort oben, dieses Drama?
Ich wollte, ich wäre ein Dichter...