Die alte Buche

Irgendwo an einem Punkte meiner eichsfeldischen Heimat steht eine alte Buche. Nun, was ist das Besonderes? Buchen gibt es viele. Recht – es gibt viele alte Buchen – gerad' so, wie es viele alte Häuser, alte Mauern, alte Leute gibt. –Die Buche, von der ich schreibe, steht so, dass heller Sonnenschein in ihren Wipfeln liegt. An ihrem Fuße, im Schatten ihrer weit ausgespannten Äste, lässt's sich gut träumen. Es ist ein anheimelndes Plätzchen, reiche Ausschau bietend in die wechselvolle Gegend. Und wer noch mehr will, kann auch Einschau halten ins wechselvolle Leben. Die alte Buche ist Symbol für alles an Kindheit, Jugend, Liebe, Tragik und Schicksal. Solche alten Waldbäume haben viel gesehen, sie wüssten – wenn ein fühlendes Herz unter der borkigen Rinde schlüge – um Liebe und Leid der Menschen da drunten im Tal. Aber Bäume können nicht reden. Nur Gnomen und Waldfeen können ihnen lauschen und sie verstehen und ab und zu einer, der im Waldmoose träumt, den eine süße, liebliche Fee mit ihrem geheimnisvollen Schleier streift, versteht die Sprache. Und das ist einem geschehen drunten aus dem Dorfe im Tal. Dem hat die alte Buche eine Geschichte erzählt und die war so:

Vor langen Jahren war's. Da waren an einem blütenschweren Maientag zwei herauf gestiegen. Im Schatten des alten Waldbaumes hatten sie sich niedergelassen. Hier hatten sie gesessen, der Jochem und die Liesel, weil ihre Herzen sich gefunden hatten, hatten hoffnungsvoll Zukunftspläne geschmiedet, sich froh in die Augen geschaut und der Jochem hatte da in die Rinde ein Herz geschnitten, da hinein zwei verschlungene Zeichen L.J. – Liesel-Jochem hatte die Liesel sie richtig gedeutet. Sie hatte ihm dabei lächelnd zugeschaut und zustimmend genickt. Das Herz mit dem Zeichen darin gibt heute noch Zeugnis, dass es so war, damals. –

Und eines Tages, als unten im Tal die Glocken einen daherschreitenden Hochzeitszug begrüßten und die Böller heraufhallten, da raunte die alte Buche froh. Sie wusste um die beiden, die sich im Dorfkirchlein die Hand reichten zum Lebensbunde. Dann waren sie noch oftmals heraufgestiegen, der Jochem und die Liesel und hatten hier im Schatten geruht. – Eines Tages waren sie dann zu dreien gekommen. Ein liebes, kleines Hascherle hatten sie mitgebracht und Annemarie nannten sie es. Dann, ein Jahr später, kam auch ein pausbäckiges Buberle mit, der Hansi geheißen hat. –Aber dann war eine Zeit, wo sie nicht mehr kamen. Andere Menschen kamen herauf. Doch der Jochem kam nicht mehr. Eine geraume Zeit ist das so gewesen.

Aber da – eines Tages ist er doch wieder gekommen, ganz anders als sonst freilich und allein, hat verwildert dreingeschaut – und wie alt war er geworden, die Zeit her. Eine harte, borkige Rinde mochte sich wohl auch um sein einst so jungfrohes Herz gelegt haben. Der Wald war am Frühlingsrüsten – Knospen schwollen, Waldblumen erwachten vom Winterschlafe. Unten im Dorfe rüstete man zum Auferstehungsfeste. Ostern war vor der Tür. Allerdings – dem Jochem sah man es nicht an. Der stand lange, lange bei der alten Buche. Sein Blick irrte hinüber und blieb an den Grabmälern haften. – "Jochem – mach ein Ende!" kam es im müden Aufstöhnen über seine Lippen. Dann zog er einen Revolver aus der Brusttasche und richtete den Lauf auf die entblößte Brust. Sein Finger lag am Abzug. Hier würde man ihn morgen finden – morgen, wenn die Auferstehungsglocken läuteten. Dann war es vorbei. –Vorbei? –Da fiel sein Blick auf das eingeschnittene Herz und die verschlungenen Zeichen. Er starrte danach wie geistesabwesend – mit weit geöffneten Augen. Sein Arm sank herab. Die Tod bringende Waffe entfiel seiner Hand. Langsam und scheu schlich er davon. Er hatte gesehen, dass der alte Baum neue Knospen trug, dass er bald grünen würde – und morgen war Ostern. –

Wohl – das Unglück war über ihn gekommen und hatte gerüttelt mit dämonischer Gewalt an seinem Gottvertrauen, hatte ihn untergekriegt und nun hatte er allein ein Ende machen wollen. Seine Kinder hatte eine schlimme Krankheit dahingerafft. Sein Liesel, sein Weib, lag in der Kammer im Fieber. Er hatte mit Bangen in den besorgten Zügen des Doktors gelesen, wie es stand. Mit erdrückender Schwere lag der Gedanke auf ihm, dass auch sein Weib den Kindern in das Grab folgen würde. Da hatte es ihn gepackt wie Fieberwahn mit grimmer Faust, hatte ihn gerüttelt mit dem geheimnisvollen: "Jochem, mach ein Ende – für dich wird's nie mehr Ostern - mach ein Ende".-

Nun stieg er hinab und schlich durch den Garten dem Häuschen zu. Sein Herz klopfte zum Zerspringen; aber er war entschlossen, alles auf sich zu nehmen, mochte kommen, was da wollte. In der Tür trat ihm der Arzt entgegen. Er reichte Jochem die Hand und sagte: "Gerettet – die Krise ist glücklich überstanden. Die Kranke schläft und bedarf der Ruhe. Morgen sehe ich wieder nach und treffe weitere Anordnungen." Der Doktor fühlte, wie Jochems Hand in der seinen zitterte. "Auch sie müssen Ruhe haben. Legen sie sich schlafen." Dann ging er fort. Da ging Jochem hinein zu der Kranken, welche in wohltuendem, schweren Schlafe lag. Er nahm ihre Hand in die seine und bedeckte sie mit heißen Küssen und seine Tränen fielen darauf. Als das Frührot des Auferstehungsmorgens an den Fenstern spiegelte, schlug Liesel die Augen auf. Da kniete der Jochem an ihrer Lagerstatt und weinte und schluchzte. In das Schluchzen des Mannes drangen Glockentöne – Auferstehungsgeläut. Zwei hatten eine schwere Krise glücklich überstanden. Liesel nahm Jochems Hand und sagte leise: "Jochem, heut ist Ostern – und bald ist Mai – dann gehen wir hinauf, wo die Buche steht, dann schneidest du ein Herz in die Rinde."