Berufung

Der Arzt war gegangen. Er war da gewesen und hatte das letzte getan, was er tun konnte, dem Kranken durch eine Morphiumeinspritzung die letzten Tage - die letzten Stunden vielleicht - zu erleichtern. Gedämpftes Licht lag über dem Raum. Geräuschlos waltete die Krankenschwester ihres Amtes. Nicht lange mehr würde sie hier zu tun haben. Nicht lange mehr, - denn bald musste es ja vorbei sein. Da lag einer, den der Tod sich erkor in den besten Lebensjahren, im besten Mannesalter. -

Der Kranke war noch wach. Noch hatte das Schmerz stillende, Schlaf bringende Gift seine Wirkung nicht getan. Er wusste um sein Los. - Das war nun das Ende ... Seine Gedanken schweiften - gingen zurück in die Jugend- und Kinderzeit. Hier - im Stübchen, da hatte er gesessen auf Mutters Schoß. Hier hatte er geträumt ... Mutterhand hatte über seinen Scheitel gestrichen ...

Und da draußen - der Spielplatz, von wo frohe Kinderstimmen hereindrangen - die Heimat. Der letzte Mai war gekommen - und war vergangen. Mit brennendem, sehnsuchtsvollem Auge hatte er an den Bergen gehangen. Die waren seine Sehnsucht, und dahin konnte er nicht. Und nun - bald war es vorbei. Die Welt wurde ein Traumphänomen - unwesenhaft - geisterhaft wurde alles um ihn her. - Dann versank alles in ein Nichts. - - -
Wie lange es so war - er wusste es nicht. - -

Dann kam langsam das Erwachen nach traumlosem, festem Schlaf. Nun wusste er wieder, er war ein Kranker. Wie schön es war, dieses Versunkensein in Nichts ... "Schwester, wie lange mag es noch dauern?" Die stille Schwester trocknet ihm den klebrigen Schweiß von der Stirn. "Das steht in Gottes Hand." "Schwester, beten Sie, dass es schnell zu Ende geht." "Oder, dass es besser geht", antwortet die Schwester. Dann gibt sie dem Kranken Labung für die trockenen Lippen. - Schwer geht der Atem des Kranken. Leise tickt die Wanduhr. Hat die Schwester aus Verlegenheit die Antwort gegeben? - Oder glaubt sie wirklich hier noch an eine Wendung? "Sie können, wenn Gott es will, genesen - und noch Gutes tun." - Ein mattes Lächeln geht über die Züge des Kranken. - Noch Gutes tun? -Er gibt keine Antwort.

Draußen auf dem Spielplatz ist es still geworden. Das Kinderlachen ist verstummt. Die Schatten der Dämmerung huschen ins Gemach. Dann kommt die Müdigkeit wieder und der Schlaf - aber nicht mehr narkotisch, bleiern und traumlos, nein traum- und visionenhaft. - Da lag er als Kind wie ehemals im blumigen Grase der Bergwiese. Vom Rain her dufteten die weißen Dolden der Holunderbüsche und über den sanft ansteigenden Hügel her drangen Hackenschläge an sein Ohr. Dort werkte sein Mütterlein, rang mit spröder Scholle. Da - keine zwanzig Schritt von ihm graste die braune Kuh - die Lotte. Und nun - blonde Knäblein stiegen herab - kamen herbei mit leicht beschwingtem Schritt im wallendem, matt glänzendem Lockenhaar, trugen Leier und Laute und sangen nie gehörte Lieder. Da floss leise murmelnd der Waldquell. -Da konnte er nicht anders. Er beugte sich über das schmale Ufer und trank begierig und lange. Eines der blondlockigen Märchenknäblein lächelte ihn an, drückte ihm die Laute in die Hände - und aus war der Traum.

Der Kranke erwachte. Draußen hatte sich die schweigsame Nacht herabgesenkt. Elf Schläge zitterten von der Turmuhr herab. Mattes, abgedämpftes Licht erhellte den Raum. Der Kranke tastete über die Decke und suchte die Laute. -Dann kam ihm das Erkennen. - Er hatte keine Laute, hatte nie eine besessen und konnte sie nicht spielen. Das nicht mehr Gehoffte trat ein. Es war besser, viel besser geworden.

Draußen, unter schattigen Bäumen lag der Kranke im Liegestuhl und schaute hinüber auf den Spielplatz, wo die Dorfkinder tollten. Da kam still ein seltsamer Wunsch. Könnte er doch wieder ein Kind sein und - könnte er die Laute spielen. Irgendwo spielte doch eine Laute - irgendwo. Wehmutsvoll klagend, schwermütig, melancholisch - und auch hell jubelnd, überschwänglich tönten Lieder - irgendwoher. - - Und dann wusste er auf einmal, dass sie aus seinem eigenen Herzen heraufquellten. Das war die wiedergekehrte Freude am Leben, an Jubel und - Leid. Und jeden Tag lag er da draußen, sah den Spielplatz, sah die heimatlichen Berge und die Waldwiese. -Und jeden Tag spielte die Laute. Niemand hörte sie klingen als er allein. - - -

Dann kam ein Tag, wo er nicht mehr liegen musste in dem Krankenstuhl. Langsam konnte er einher wandeln. Da ging er an einen Schrankschub, griff nach vergilbten Blättern, welche er vor Jahren beschrieben hatte. Das waren kleine Lieder. Niemand hatte sie gesungen als er allein. Auf diesen Blättern stand geschrieben seine Jugend, sein Leben, seine Wonnen, sein Schmerz und sein Leid. - Da dachte er an den rauschenden Waldquell auf der Bergwiese im Traum. Da hatte er doch getrunken - lange und begierig. - - Wie lange hatte er nun nicht mehr getrunken an den Quellen der Erinnerung? Wie lange hatte er mit lechzender Zunge im Alltag gestanden? - Das Beste war gewichen vor der überschwänglichen Not ums Leben. - - - Nun trank er wieder von dem belebenden Quell der Erinnerung und jubelfroh klang die Laute in seinem Herzen.

-Zu den vergilbten Blättern kamen neue. Zu den ersten Liedern kamen andere und wieder andere und dazu das Verlangen, der Wunsch, dass auch andere Menschen ihnen lauschen möchten. -Da nahm er seine stillen, ungesungenen Lieder und sandte sie einem Verleger. - - -
Dann sah er sie vor sich in gedruckten Lettern. Nun wusste er, - seine schlichten Lieder gingen hinaus in die Welt und andere Menschen empfanden mit, was er empfand. Da dachte er an das Wort der guten Krankenschwester: "Sie können noch Gutes wirken", dachte an den Traum von der Waldwiese, an die Laute und wusste um seine "Berufung".

Anton vom Friedabach
(Adam Richwien)