Aus alter Zeit

Wer von uns kennt sie nicht, unsere Dorfälteste, die Frau Richardt auf dem Kirchberge. Im Dorf ist sie als Base Marielene allen bekannt. Trotz ihrer 93 Jahre ist sie noch rüstig und geistig auf voller Höhe und erinnert sich noch all der Geschehnisse aus der Jugendzeit. Lassen wir sie einmal berichten!

Meine Kinder- und Jugendjahre waren hart. Als Kind schon mussten wir den Eltern im Felde helfen. Unsere Lehrer waren sehr streng in der Schule und wir haben es manchmal nicht gut gehabt. Die Not war groß damals. Es gab viele arme Leute. Um nun für die vielen Kinder das tägliche Brot zu schaffen, gingen viele Leute betteln. An jedem Freitag gingen die armen Frauen, den Korb auf den Buckel, bettelnd von Tür zu Tür. Sie beteten ein: „Vater unser“ und bekamen dafür ein Stückchen Brot. Manche Dorfbewohner schlossen dann unter dem Ruf „Die Korente kimmt“ die Tür ab. Es gab also auch damals schon hartherzige Leute. Auch der Gänsehirt, von dem sie zu berichten weiß, der im Sommer jeden Tag die Gänse zusammentrieb und auf dem Siegrasen hütete, bekam für sein Hüten nur Brot von den Leuten.

Von dem alten Dorfkirchlein erzählt sie sehr ausführlich. Es war baufällig und man traute sich kaum noch hinein. Und eines Tages geschah es beim Gottesdienst, dass sich irgendwo ein Brett löste. Eine große Panik entstand, alles drängte zur Tür. Der Organist sprang zum Fenster hinaus, stieß sich dabei ans Fensterkreuz und musste dabei einen Teil seines langen Haarschopfes hängen lassen.

Nach der Schulentlassung ging es fort in die Fremde auf die großen Güter zum Rübenhacken. Der Weg bis nach Eschwege wurde zu Fuß zurückgelegt. Oft bei trockenem Brot und Kaffee hat sie bei der größten Hitze auf dem Rübenfeld gestanden und die Rüben bearbeitet. Acht Morgen wurden jedem Mädel zugewiesen. Für den Morgen Rüben bezahlte der Gutsherr 12 Mark. Erst im Spätherbst kam sie wieder heim und da hieß es, jede Mark der Mutter daheim abliefern. Lachend erzählte sie, dass sie jeden Groschen erst dreimal rumgedreht hat, ehe sie ihn ausgab.

Auch von dem Bau der Eisenbahn und der Eisenbahnbrücke weiß sie zu erzählen. Viele fremde Arbeiter, vor allen Dingen Italiener, waren im Dorf. Das Fleisch war deshalb im Dorf sehr knapp und aus Geismar wurde Fleisch geholt.

Spuk- und Wanergeschichten weiß sie auch noch zu erzählen und es wäre für unsere Nachwelt schön, wenn diese Erzählungen gesammelt, niedergeschrieben und erhalten würden. Wir wünschen unserer Dorfältesten noch einen schönen Lebensabend.


Josef Menge
(Quelle: Lengenfelder Echo, April 1958, S. 5)