Das Damen-Ballett auf Schloss Bischofstein

Bis 1930 war Bischofstein eine reine Jungenschule. Seit den Tagen Dr. Marseilles, der eine Gemeinschaftserziehung beider Geschlechter im Internatsbereich ablehnte, konnten Mädchen nur die Schule besuchen. Erst 1930 entschloss sich das Ehepaar Ripke das Internat auch für Mädchen zu öffnen.

Schon vorher hatte es erste vorsichtige Versuche gegeben, Kontakte mit der heranblühenden weiblichen Jugend herzustellen. Die Eltern, die gelegentlich ihre Sprösslinge in Bischofstein besuchten, sprachen sich bei Ripkes immer sehr lobend nicht nur bezüglich deren schulischer, Fortschritte aus. In den Ferien würden diese als wahre Kerle auftreten, höflich und zuvorkommend gegen jedermann, vielseitig interessiert und sportlich trainiert. Nur eines wurde moniert: im Umgang mit gleichaltrigen Mädchen wirkten sie im Vergleich mit den Jungen aus den Stadtschulen geradezu gehemmt und unbeholfen. Ripkes besprachen dies mit Frau Krasselt, die selbst drei Söhne in Bischofstein hatte, und „Tante Grete“ schritt zur Tat. Sie organisierte einen Besuch der jugendlichen Damen-Hockey Mannschaft des ASC Göttingen in Bischofstein.

Die Kunde schlug auf unserer Schule wie eine Bombe ein. Die sonst sehr salopp und rustikal herumlaufenden Burschen brachten ihre „besten Klamotten“ auf Hochglanz. Sie ließen sich ihre Haarpracht nicht wie bisher für 20 Pfennige beim Schreiner K. im Schnellverfahren absäbeln, sondern hingen schon eine Fahrt nach Eschwege zum Haarstudio daran. Und sie forderten einen Tanzkurs.

Der fand statt im obersten Flur des Alten Schlosses. Zu den Klängen von Eberhard Oesterreichs Grammophon mit dröhnendem Lautverstärker brachte ihnen Pih Unger die „Aufforderung zum Tanz“ und elegante Tanzhaltung bei. Zu seinem Kommando marschierte alles hintereinander her: „Links-Rechts-Wechsel-Schritt“. Das ging schon recht gut, nur wenn Hälfte der Kursisten umschichtig die „Dame“ darstellen musste, gab es Probleme besonders im Fußbereich: In den nächsten Tagen sah man Schüler in dunklen Gängen und selbst auf Waldwegen den Wechselschritt üben.

Dann war es endlich soweit. Tante Grete als „Anstandswauwau“ erschien mit 15 munteren Teenagern am Lengenfelder Bahnhof, höflich begrüßt vom Festkomitee ausgewählter Kameraden. Nach dem Essen im Speisesaal, bei dem wagemutige Schüler mit den an den Tischen verteilten kichernden Schülerinnen „parlierten“, stieg das Hockey-Spiel im Schlosshof. Man hatte gemischte Mannschaften aus kurzröckigen „Damen“ und kurzbehosten „Herren“ gebildet, die Zuschauer hingen aus den Fenstern. Man behandelte die Gäste mit größter Rücksicht und tat sich nicht weh. Das Spiel endete 5:5.

Nach dem Kaffee saßen die Akteure auf dem oberen Flur im Kreis. In der Mitte wurde eine Weinflasche gedreht. Der Junge und das Mädchen, auf den die Öffnung zum Schluss zeigte, verschwand in Frau Ripkes Küche zum Küsschen, bei der Rückkehr fröhlich begrüßt. Man sah viele rote verlegende Gesichter.

Abends dann an selber Stelle Tanztee. Dabei waren die meisten Mädchen „Meister“, aber unter ihrer Führung machten auch manche von uns Fortschritte. Tante Grete sorgte dafür, dass ihre Truppe um Mitternacht geschlossen in den Betten des Krankenzimmers lag. Sie verscheuchte auch späte Gestalten, die sich auf Socken im Treppenhaus näherten. Am folgenden Tag führen die Gäste zurück, bei der Vorbeifahrt am Schloss von der ganzen Schule mit Hallo verabschiedet.

Nach diesem erfolgreichen Start wiederholten sich die Besuche der „Göttinger Mädchen“ mehrmals, meist Anfang Dezember und zur Karnevalszeit im Februar. Sie trugen wesentlich dazu bei, dass die Jungen „lockerer“ wurden. Manche hin und her gehende Briefe verkürzten die Zwischenzeit.

Von einem Treffen berichtet Irmgard Gernand geb. Pilz, eine Nichte von Frau Krasselt und eine der ersten Internatsschülerinnen in Bischofstein.

Autor(in) unbekannt