Reisewege im Eichsfeld: Klus Hagis

Stille um ein Gnadenbild fernab der lauten Straßen

In ein romantisches Waldtal eingebettet liegt tief unter der alten Burg Gleichenstein das legendenumwobene Kirchlein Hagis. Hagen, mhd. Hag, Hain = umfriedeter Wald, zu Beginn des 13. Jhs. vermutlich ein Siedlungshof, zählte als Dorf Nuenhagen (Neuenhagen) 1358 schon 22 Familien, nachdem der Mainzer Erzbischof 1294 Grundherr des Amtes Gleichenstein geworden war. Als Gerichtsuntertane der erstmals 1287 erwähnten Burg Glichensteyn, leisteten sie unter Observanz des Burgvogtes Hand- und Spanndienste. Jedoch scheinen Nachfolgegenerationen wegen immer nachteiligerem Fronen nach und nach abgewandert zu sein, so dass Hagen am Ende des Mittelalters Wüstung wurde. Mit dem Gras kam auch die Legende.

Noch immer umfängt Waldeinsamkeit die Stätte, wo die vermeintliche Heilquelle des Klüschenborns ihr kristallklares Wasser der Rosoppe zufließen lässt. Viel Wundersames rankt sich um die jetzige Hagiskapelle von 1751, mehr noch um ihre Nuenhagener Vorgängerin Ende des 16. Jhs. Damals pilgerten immer mehr Gläubige in das geheimnisvolle Tal, um in der unscheinbaren Hagener Kapelle vor einem Marien-Gnadenbild zu beten.

1573 hatte sich der Eremit Claus Scheffer am Rande der Nuenhagener Wüstung niedergelassen. 10 Jahre später entstand neben seiner Klause das unscheinbare „Hagen Capeligen“. Aus der Korrespondenz des Mainzer Erzbischofs Joh. Schweikart mit dem Heiligenstädter Kommissarius Rudolf v. Hildessen geht 1606 hervor, dass „berührtes Kleußlein nit allein sehr baufellig, sondern auch den Wallfahrenden großen Zulaufs willens Deines Ermessens wo mehr zu erweitern nötig sein müsste“. Also wurde verfügt, dass der Überschuss aus der Wallfahrtskasse als Kirchenvermögen anzulegen sei, damit davon eine Kapellenerweiterung finanziert werden konnte. Aus diesem Fonds wurde 1614 zusätzlich die Errichtung der steinernen Kanzel außerhalb der Kirche bestritten. Damals hieß das Kirchlein Kapelle Hagis beim Gleichenstein. Eine andere Notiz besagt: „Weil auch erregt Klauslein von Jahren zu Jahren sehr baufellig worden, hat solches abgewichenen Jahres als einen steinernen Giebell gegen Westen fast von Grund auff neugebauet. Auch eine ganz neue Pfarrey erricht und Dach sampt einem neuen Türmblein aufgesetzet und repariert werden mußte. Soll auch, ob Gott will, sobald es zu erwarten, mit allbereit zur Handt gehaltenen Schiefersteinen das Türmblein gedeckt und dieselbig inwendig renoviert und zurecht gemachet werden“ (B. Opfermann, 1962). Die Eremitenklause wurde um 1620, während der Gleichenstein-Belagerung im 30-jährigen Krieg, bis auf den Grund zerstört. Fast jeder Besucher, der von der Burg Gleichenstein ins Hagistal hinunterblickt, fragt, welche Legende dort unten eigentlich angesiedelt ist. Die Antwort darauf gab 1777 der Gleichensteiner Amtsvogt Peter Anton Jordan dem Mainzer Generalvikariat, indem er sich auch die Auffindung des Marienbildes bezog und berichtete, „daß Anno 1583 dieses Gnaden Bild der schmerzhaften Mutter Gottes durch den damaligen Gleichensteiner Amtsvogt (Hans Pein), auf stetes Anliegen seiner Frau(en), in einer zwischen Kurfürstlicher Waldung, an einem leeren Ufer befindlichen Wasserquell ohnweit der jetzigen Kirche geschehen Nachgraben gefunden sey. Dieses ungefähr 15 Zoll hoch geschnittene anmuthige Bild wurde sogleich und verschiedentlich in die ein halbe Stunde davon entlegene Wachstedter Kirche getragen und aufgestellt. Gedachtes Bild aber stund jedesmal des anderen Tags früh an dem Ort der geschehenen Entdeckung. Dieses veranlaßte, daß der Amtsvogt auf dem 50 Schritte von der Quelle befindlichen Hügel eines geringes Capellgen erbauen und dieses Bild allda unter Obdach bringen ließ, wo dasselbe ohnverrückt stehen blieb. Nach verschiedenen allda sich ereigneten Geschichten wurde anno 1585 (unter Amtsvogt Joh. Elgot) auf Kosten des hohen Erzstifts eine geringe Kirche mit einer Wohnung für einen Geistlichen bey gedachtes Capeligen gebauet und eine Kaplaney errichtet.“

Das legendäre Bild ist eine Pieta, deren Datierung schwierig ist. Wegen der volkstümlichen Ursprünglichkeit des Sakralwerkes ist anzunehmen, dass es aus der Region stammt und für die frühe Nuenhagener Kapelle gearbeitet wurde. Es entspricht der Übergangsperiode der Sakralkunst der Schönen Madonnen zur Spätgotik um 1400, nachdem eine mystische Strömung das Jahrhundert durchzogen hatte.

Die kleine Pieta und das Klüschen, die Eichsfelder den Wallfahrtsort nennen, lebten auf wunderbare Weise fort und wurden demzufolge für Generationen Bedrängter Fürbittort. Neben Hauptwallfahrtstagen gilt die Männerwallfahrt an Christi Himmelfahrt als bedeutendste Jahreswallfahrt. Sie wird umso mehr geschätzt, weil hier eichsfeldische Glaubensgemeinschaft bekundet wird. Wer dorthin wandert, wird eine Erinnerungstafel für den Historiographen und Protestanten Carl Duval vorfinden, dessen romantische Eichsfeldbeschreibung noch nach 150 Jahren auf die eichsfeldische Heimat einstimmt. Über Hagis schrieb er u.a.:

„Reizender und idyllischer als Hagis kann keine Kapelle liegen. Schwellender Rasen breitet sich neben ihr aus, alte Linden umflüstern ihre Mauern. In der Nähe murmelt eine Quelle, hohe mit den schönsten Bäumen bedeckte Bergwände ragen dicht neben ihr empor, und von dem gewaltigen Feldgipfel schauen die alten Mauern der Burg Gleichenstein herab [...]
Da wird klar, dass ein Gottesdienst im Freien eine andere Wirkung hervorbringt, als eine in einer düsteren Kirche vorgetragene Predigt. Schon der Vers eines Liedes, abends unter einem Kruzifix still und andächtig gesungen, der Blick eines betenden Greises auf einsamem Waldplatze zum leidenden Christus hinauf, der Kuss, den das Kind auf seinen Rosenkranz drückt, die Träne der Mutter, welche den Sohn verlor, sagen mehr als alle kalte Weisheit verkündigen und lehren kann.“

Wolfgang Trappe
(Quelle: Eichsfelder Heimatstimmen, 37/1993)