Erinnerungen an Lengenfeld unterm Stein

Die Teilnahme an den Eichsfelder Heimattagen 1970 in Duderstadt gab mir die Anregung, meine Erlebnisse aus meiner Jugend der Gegenwart kundzutun. In meinem Familienalbum fand ich einige Fotos, die ich gern den Lesern der Eichsfelder Heimatstimmen zur Kenntnis bringen möchte.

Als Sohn des Lehrers Gregor Mahr, der vom Fuldaer Land aufs Eichsfeld versetzt worden war, erblickte ich 1918 in Langenfeld u. Stein das Licht der Welt. Meine Eltern wohnten damals im Mehlerschen Hause im Unterland. Umringt von herrlichen Wäldern, Bergeshöhen und lieblichen Tälern ist wohl kaum ein Dorf schöner eingebettet in die Landschaft. Das Wahrzeichen des Ortes: „Die Eisenbahnbrücke der sogenannten Kanonenbahn“ verleiht dem Dorfe eine idyllische Note. Als Ausgangspunkt für Ausflüge zum Hülfensberg, Kloster-Zella, Bischofstein, Plesse und viele andere machen mein Heimatdorf auch heute noch zu einem begehrten Ferienaufenthalt.

Im Herbst 1918 zogen meine Eltern in die alte Schule gegenüber von der Gemeindeschänke um. Wir schliefen im 1. Stock, wo sich außer uns noch ein Klassenzimmer für das 1. – 4. Schuljahr befand. Ich kann mich noch erinnern, dass mein Vater täglich außer seinen Büchern auch einen Rohrstock mit zum Unterricht nahm. Jungen und Mädchen wurden gemeinsam unterrichtet. Wir hatten noch Griffel und Schiefertafeln. Vom Frühjahr bis Herbst gingen wir barfuß und hatten meistens geflickte Hosen an, Fett- oder Zuckerbrot war täglich unsere Verpflegung.

Das Einkommen eines Dorfschullehrers war auch damals noch sehr gering. Wir hatten darum im Effelderschen Tal noch einen Morgen Ackerland, wo wir unsere Kartoffeln zogen. Es wurde ein Schwein gefüttert sowie Hühner und Gänse gehalten. Bauer Menge bestellte unser Feld.

In meiner Klasse waren Alois Höppner, Albert Ruhland, Ewald Wehenkel, Alois Hardegen u. a. Die Mädchennamen sind mir entfallen. Ein Ereignis war es, als 1927 ein Fotograf aus Mühlhausen kam und von allen Schulkindern und vom Lehrerkollegium Gruppenaufnahmen machte.

Wer erinnert sich noch an die alten Lehrer?
Lehrer Richard, Jungl. Thyess, Hauptl. Jünemann, Lehrer Mahr und Lehrer Menge. Unsere Lehrerin Frl. Wolfram ließ sich mit Männern nicht fotografieren, darum fehlt sie auf dem Bild.

Ich erinnere mich noch, dass mein Vater jeden Samstagabend Skat spielte. Seine Partner waren Pfarrer Kirchner, Lehrer Richard, Landwirt Hildebrand und später Lehrer Massberg. Ohne lange Pfeife gab’s keinen Skat und keine Feier. Hatte ein Lehrer in Lengenfeld Namenstag, so wurden die Kollegen aus Faulungen, Geismar, Großbartloff, Hildebrandshausen und Struth, ebenso die Geistlichen, eingeladen. Als ich 8 Jahre alt wurde, diente ich fast täglich bei der hl. Messe. Wir gingen dreimal im Jahr mit der Prozession zum Hülfensberg, einmal nach Effelder und einmal nach Hildebrandshausen. Dort trafen sich dann nach der hl. Messe auch viele Freunde und Verwandte. Die Jungen aus den einzelnen Dörfern maßen ihre Kräfte und ich weiß noch, wie bei einer Auseinandersetzung mit den Hildebrandshäusern auf dem Hülfensberge beide Fahnenstangen zu Bruch gingen.

Ab 1928 besuchte ich die Rektoratsschule in Dingelstädt unter Leitung von Rektor Raffers. Mein Religionslehrer war der jetzige Bischof Dr. Bolte in Fulda, den ich in Duderstadt zwar gesehen habe, aber leider nicht sprechen konnte. Meine Klassenkameraden waren: Neineretter, Kirchberg, Ziegenfuß, Schmerbauch, Schollmeier aus Dingelstädt, Faupel und Sonnabend aus Küllstedt, Hey aus Büttstedt, Wenzel aus Döringsdorf, Gelbe aus Geismar u.a.

1932 zogen meine Eltern in die neue Schule. Das Bürgermeisteramt wurde in dem alten Schulgebäude untergebracht.

Eine echte Freundschaft verband meinen Vater mit Lehrer Herbst aus Marth, der jedes Jahr seinen Onkel, Pfarrer Kirchberg, besuchte und mit Lehrer Höppner, gebürtig aus Lengenfelds Backs vom Oberland.

Weil nun auch meine Schwester Ingeborg seit 1931 in Dingelstädt das Lyzeum besuchte und ich ab 1934 in Heiligenstadt weiterstudierte, suchte mein Vater einen zentraler gelegenen Wohnort aus und erwählte sich Birkungen. Er tauschte mit Lehrer Leister, der ein gebürtiger Faulunger war. Die Umstellung fiel mir anfangs schwer, da die Birkunger Mundart ganz anders als die Lengenfelder war. Jedoch nach einem Jahr sprach ich das Birkunger Platt genauso und bin stolz darauf, es bis heute noch nicht verlernt zu haben. Ich bin froh, auch von einer Birkunger Schulklasse ein Foto zu besitzen, es stammt aus dem Jahre 1935.

Lehrer Mahr, Frl. Waldmann, Pfarrer Propst Streb, Lehrer Schwanstecker, Schulze Vogt und Lehrer Küster.

Mein Vater verließ nach dem Kriege das Eichsfeld und war als Lehrer in Ulenbach und Ürzell, Kreis Schlüchtern, tätig bis 1953. Dann ließ er sich nach Frankfurt versetzen, wo er 1954 nach einer schweren Krankheit verstarb. Ich wohnte in Leinefelde und baute mir ein Haus, doch 1958 verließ ich meine Eichsfelder Heimat und zog zu meiner Mutter, die sich als Witwe so einsam fühlte. Noch heute fühle ich mich mit meiner Eichsfelder Heimat verbunden und bin eifriger Leser der Eichsfelder Heimatstimmen, die ich jedem Landsmann gern empfehlen möchte.

Wolfgang Mahr
(Quelle: Eichsfelder Heimatstimmen. Nr. 9 – September 1970)