Eichsfelder Botengänger: Deckblattbote Vetter Jakob aus Struth

Etwa drei Jahrzehnte später, nach Beendigung des I. Weltkrieges, war es ein anderer Botengänger, der Tag für Tag die Strecke zwischen Lengenfeld und Struth passierte. Es war der biedere Zigarren-Deckblattbote Jakob Hoppe aus dem Höhendorf Struth, kurz »Vetter Jakob« genannt.

Nach zweijähriger französischer Kriegsgefangenschaft kehrte er erst 1920 wieder heim und damit in das zivile Leben zurück. Vor dem Krieg war er Eichsfelder Handweber gewesen, und nun nach der Heimkehr stand für ihn die Frage einer neuen Existenzmöglichkeit im Vordergrund. Dabei kam ihm ein Kriegskamerad, der Zigarrenmeister Karl Schminke, zu Hilfe, welcher den Struther Zigarrenherstellungsbetrieb der Firma Leopold Engelhardt als Werkmeister leitete. Schminke stellte seinen Leidensgefährten sofort ein.

Nun unterhielt damals dieser Betrieb für alle seine Eichsfeldfilialen in Witzenhausen an der Werra nur eine einzige Deckblattaufsetzerei (gemeint ist die sorgfältige Vorbereitung des wichtigen Deckmantels um die Zigarren). Diese Deckblätter mussten aber für jeden Filialbetrieb alltäglich in Witzenhausen frisch abgeholt werden. So wurde dann Vetter Jakob festangestellter Tabakbote. Alltäglich sah man ihn mit dem großen Rucksack auf dem Rücken nachmittags kurz vor 4 Uhr in Richtung Lengenfeld unterm Stein wandern, wo ja für Struth die nächste Bahnstation in Richtung Werratal war. Das machte er 16 lange Jahre täglich bei Wind und Wetter und auf Schusters Rappen, denn außer Handwagen und Fahrrad gab es damals keine anderen Beförderungsmittel. Diese waren aber bei der starken Geländesteigung vom Friedatal bis auf die Struther Höhe vollkommen unbrauchbar.

In Witzenhausen standen die abgepackten Deckblattballen für alle Filialen schon bereit. Nach der Übernachtung im Witzenhäuser Betrieb musste der Bote in aller Frühe um 5 Uhr bereits wieder auf den Beinen sein, um mit Hilfe eines großen Karrens die ca. 2 Zentner Deckblätter, in Ballen verschnürt, zum Bahnhof zu schieben. Hier war ein Güterwagen für ihn reserviert, und an den Bahnhöfen der einzelnen Orte lieferte er die für jeden Ort bestimmte Menge aus.

Übrigblieben zuletzt die Ballen für die Betriebe in Lengenfeld und Struth. Gemächlich seine Zigarre schmauchend, buckelte er dann in der Morgenfrühe zwischen 7 bis 9 Uhr den letzten, 40-50 Pfund schweren Ballen die steile Höhe hinauf, vorbei an der „Schwarzen Brücke“, der Klosterschranne und Kloster Zella. In der Struther Fabrik wartete man bereits auf die frischen Deckblätter.

Mit der Präzision einer Uhr hielt er pünktlich seine Zeit ein. Im Lengenfelder Volksmund hieß er bald nur „d’r Deckermann“. Kam er um die Vesperzeit am Nachmittag im Lengenfelder Grund daher, sagten die auf den hängigen Feldern des Teichhölzchens beschäftigten Lengenfelder Bauern: „D’r Deckermann kimmt, es äs Ziet zum Vasperbröd“. Tauchte er am Morgen aus Richtung Lengenfeld auf, war es für die Lengenfelder nicht mehr weit bis zum Frühstück.

Nebenher besorgte Vetter Jakob zwischen den beiden Dörfern noch mancherlei Botendienste: Struth ohne Bahnstation hatte damals noch keinen Arzt und keine Apotheke im Ort. Besonders bei Grippeepidemien im Winter brachte der zuverlässige Bote – oftmals für einen Gotteslohn – die Medizin kistenweise nach Struth aus der Lengenfelder Apotheke Graune. Aber auch mancherlei andere geschäftlichen Bestellungen wurden ihm anvertraut und das trug ihm allgemeine Beliebtheit ein.

Hatte Vetter Jakob Tag um Tag diese Wegstrecke getreu zurückgelegt, so sollte er auch seine letzte Fahrt von Lengenfeld nach Struth machen. Im Oktober 1936 verstarb er – kaum 55 Jahre alt – im Lengenfelder Krankenhaus, dem er ebenfalls stets der beste Vermittler gewesen ist. Viele Lengenfelder widmeten ihm einen stillen letzten Gruß, als der Sarg mit seiner sterblichen Hülle auf die Struther Höhe gefahren wurde durch die herrliche Natur, die ihm so vertraut geworden war.

Die dankbaren Lengenfelder widmeten ihrem „Deckermann“ im damaligen Eichsfelder Volksblatt am 8. Oktober 1936 einen ehrenden Nachruf. In demselben hieß es wörtlich: „Viele große Gefälligkeiten hat dieser biedere Mann neben seinen Botengängen seiner Heimatgemeinde Struth sowie auch der Gemeinde Lengenfeld getan, sei es durch Mitnahme von Paketen, Briefen, Bestellungen, Rezepten in die Apotheke und vieles andere mehr. Nun ruht dieser volksverbundene gemeinnützige Landsmann unter der kühlen Erde. An dieser Stelle ihm nochmals ein ‚Vergelt's Gott’“.

Die Lebensbilder dieser beiden Getreuen des Eichsfeldes sind nur zwei von vielen, man könnte die Reihe beliebig fortsetzen. Sie weisen auch nichts Besonderes auf. Es waren schlichte Männer, die selbstverständlich ihre Pflicht erfüllten, und ohne moderne Verkehrsmittel bei einem kargen Tagelohn zu Fuß ihre beschwerlichen Dienstgänge versahen. Dass sie es trotzdem in steter und zuverlässiger Genauigkeit taten, nötigt uns allen heute noch Hochachtung und Wertschätzung ab.

[Anmerkung: Jakob Hoppe war der Vater des Autors Vinzenz Hoppe]

Vinzenz Hoppe (1985)
(Quelle: Heimat Eichfeld – Streifzüge durch die Geschichte und Volkskunde, Duderstadt: Mecke, 2000).