Briefträger Andres aus Lengenfeld unterm Stein

Wir Zeitgenossen einer nie gekannten Wohlstandsgesellschaft tun gut daran, ab und zu mal einen Blick zu werfen in die Vergangenheit, in der es unseren Altvorderen mit der Fristung der aller einfachsten Lebensweise viel schlechter ging.

Dabei erfüllten sie unverdrossen und in getreuer Selbstverständlichkeit die ihnen zugedachten Lebensaufgaben. So stehen solche „Helden des Alltags" als Idealgestalten eingegraben in unserer Erinnerung; ja, sie stehen uns als „Große des Lebens" vor der Seele. Wir könnten sie auch nennen: Eichsfelder von echtem Schrot und Korn! - Ein solcher war der Briefträger Andreas Hentrich aus dem Taldorf Lengenfeld unterm Stein.

Lange vor der Einrichtung unserer heutigen Post- und Telegrafenämter, besorgte „Vetter Andres" - so nannte man ihn - die Postzustellung in den Dörfern Lengenfeld, Hildebrandshausen, Katharinenberg, Faulungen, Effelder und Struth. Noch damals im Jahre 1890, führte der Postweg durch den Friedagrund über den Buchborn auf die Struther Höhe. Alte Messtischblätter geben heute noch die Lage dieses alten Verbindungsweges an, lange vorher, ehe die festen Chausseen aus dem Talgrund auf die Höhe entstanden sind.

Auf seinem Rücken schleppte dieser getreue Postläufer des Südeichsfeldes die Pakete, Päckchen und andere Postsachen auf den steilen Berg nach Struth und Effelder und oftmals wurde er dort zweimal täglich gesehen. Als kleinster Bediensteter des Thurn- und Taxischen Postwesens, trug Vetter Andres eine rotpasbelierte Uniform, an den Füßen derbe Stiefel und einen Knotenstock in der Hand. So schilderten ihn alte Leute von damals. War für ein Haus Post dabei, klopfte Vetter Andres ans Fenster mit dem Ruf: „Uffmache - an Brief, oder an Paket äs do." Kurz erkundigte er sich dann noch nach den Dorfneuigkeiten und mit dem Gruß: „Macht des gut, ich muss witter", war er schon beim nächsten Haus, denn so ein Dorf ist groß für jeden, der es täglich mit seinen Schritten abmessen muss.

Oftmals erwies er den Leuten noch private Gefälligkeiten in Form von Bestellungen und Dienstleistungen von Ort zu Ort, von Verwandten zu Verwandten. Das machte den Briefträger bald bei jedermann beliebt und seine Erscheinung war aus dem damaligen Dorfleben nicht mehr wegzudenken. Froh war er wohl immer, wenn er bei sengender Sommerhitze die steile Höhe wieder im Rücken hatte und im schattigen Talgrund wieder vor den Toren des altehrwürdigen Klosters Zella stand, um auch dort seines postalischen Amtes zu walten.

Viel Freude - man denke dabei an die Liebesbriefe der in des Lebens Mai schwelgenden jungen Leute; aber auch viel Leid, wenn Trauerbriefe zugestellt werden mussten, hat Vetter Andres von der Lengenfelder Poststation aus dem Friedatal auf die Höhe getragen. Wenn er so die ganze Woche hindurch „per pedes" unterwegs war, verstand er es, wie kein zweiter, sich den Sonntag als Tag des Herrn geruhsam zu gestalten.

Als gläubigem Eichsfelder war ihm die Erfüllung seiner Christenpflicht im schönen Lengenfelder Gotteshaus oberstes Gebot. Mitunter wurde er auch von guten Menschen seiner Zustellerorte eingeladen, wenn dort ein Fest gefeiert wurde. So ging er gern mal nach Struth zum Annenfest, welches alljährlich am 26. Juli und auch am nachfolgenden Sonntag in Verbindung mit dem „Jokstag" - Jakobustag (Kleine Kirmes) gefeiert wird. Wie wurde ihm dann wohl sein Herz so weit, wenn er ohne Beschwernis wieder dem Zellagrund zuschritt. Hier kannte er jeden Stein, jeden Baum und Strauch und während er gemächlichen Schrittes bergab stieg, kam die geschichtliche Erinnerung in ihm auf. Dort auf der Höhe über dem Kloster lag ja die St. Anna-Kapelle, die 1714 der fromme Sinn der Benediktinerinnen aus Kloster Zella erstehen ließ. Nach dem Struther Ortschronisten Karl Gatzemeyer, war die Wallfahrt nach dem Gnadenbild der Hl. Mutter Anna nach dem nach ihr benannten „Annaberg" - eine der bestbesuchtesten Wallfahrten des Eichsfeldes, nächst dem Hülfensberg.

„Es war eine Hochzeit der Seele, wenn sich alljährlich in den Sommertagen die andächtigen Gesänge der Wallfahrer mit dem Jubilieren der Waldvögelein paarte und ihre Klänge im Friedatal wiederhallten." Das alles gehört längst vergangenen Zeiten an. Das Annenbild hütet heute die St. Jakobuskirche zu Struth. Die Kapelle ist im Jahre 1869 der Spitzhacke zum Opfer gefallen. So sinnend, schickte Vetter Andres wohl täglich beim Vorüberschreiten einen stillen Gruß nach den Stätten ehemaliger Andacht. Blieb er am Sonntag daheim, so ruhte er sich in seinem schattigen Hausgärtchen gründlich aus und holte sich neue Kraft für seine beschwerlichen Botenwege der folgenden Woche.

Vetter Andres hatte sein Vaterhaus, ein schöner Fachwerkbau, in Lengenfeld übernommen. Im Jahre 1794 - so stand es an der Kellermauer in Stein gehauen - hatte ein Hentrich den Grundstein zu diesem Bau gelegt; später hatte es Andres Vater - selbst ein Maurer - aufgestockt. Seitdem war es mehreren Generationen der Hentrichs Heimstatt gewesen. So getreu wie er dann sein Vätererbe verwaltet hat, war er auch seinen Postwegen geblieben!

Vinzenz Hoppe (1980)
(Quelle: Eichsfelder Heimatstimmen)