Lengenfeld unterm Stein am Ende des 2. Weltkrieges

Das Bild von den Zuständen in Lengenfeld während der letzten Wochen des Hitlerregimes und kurz danach wird wesentlich kaum anders ausgesehen haben als sonst irgendwo auf dem Eichsfelde. Auf allen Gebieten der Wirtschaft war das Letzte für Hitlers Kriegsmaschine herausgepresst worden.

Die Landwirtschaft, die Industrie, der Handel, der Verkehr, das Handwerk, die Verwaltung und die menschliche Arbeitskraft hatten die Grenzen ihrer Leistungsfähigkeit nicht nur erreicht, sondern vielfach längst überschritten.

Die Felder warteten auf ihre Bestellung. Für die Zugmaschine fehlte der Treibstoff; künstlicher Dünger kam nicht heran. Amerikanische Flieger störten empfindlich den Verkehr. Die dringendst benötigten Waren blieben aus. Immer mehr Fäden der Wirtschaft zerrissen. Es herrschte empfindlicher Mangel, nur nicht an Geld.

Die Gemeindewirtschaft mit 30 Bauernhöfen, 40 Geschäften, 6 Gaststätten, 3 Zigarrenfabriken, 1 Sägewerk, 30 Handwerksbetrieben, insgesamt 420 Haushaltungen mit 1750 Einwohnern und 249 Evakuierten = 1999 Gesamteinwohnern trieb einer katastrophalen Isolierung zu.

Für die Zukunft wird sich die Gemeinde Lengenfeld u./Stein an die Ereignisse der letzten Tage des II. Weltkrieges erinnern. Am 16. März 1945, dem Zeitpunkt, an dem die V-Waffen-Abteilung auf dem Bahnhof in Lengenfeld ausgeladen wurde, war der Donner der Geschütze an der Westfront bereits deutlich zu hören. Amerikanische Bombengeschwader überflogen im Geleitschutz der „Jabos“ in täglichem Einsatz unsere Heimat in Richtung Osten.

Am 27. März 1945 trafen 400 Kriegsgefangene englische Offiziere aus Kriegsgefangenenlager Spangenberg unter deutscher Bewachung in Lengenfeld ein, um Rast zu machen. Da sie mit den Amerikanern laufend in Funkverbindung standen, waren sie über den Verlauf der Kriegshandlung bestens unterrichtet. So gab auch die deutsche Bewachung den Plan auf, mit den Gefangenen weiter nach Osten zu marschieren. Die Gemeindeschenke, ihre Unterkunft und den Sportplatz bemalten die Gefangenen mit großen Kalkbuchstaben
„POW“, um sie den amerikanischen Fliegern kenntlich zu machen.

Am 2. April 1945 hatten die amerikanischen Kampftruppen die Linie Eisenach-Eschwege überschritten und waren im beständigen Vormarsch nach Osten. Versprengte deutsche Truppen flüchteten durch Lengenfeld in Richtung Effelder. Ebenso rückte vom 2. zum 3. April die V-Waffen-Abteilung in dieser Richtung ab. Die vorbereitete Sprengung der großen Eisenbahnbrücke – dem Wahrzeichen Lengenfelds – wurde durch den Bürgermeister Franz Müller und einem Hauptmann der Bewachungsmannschaft zum großen Glück für unser Dorf verhindert.

Am 2. April 1945 fuhr um 12.15 Uhr der letzte Zug mit 34 Wagen und zwei Lokomotive, der bis zu diesem Zeitpunkt im Schwebdaer Tunnel gestanden hat, durch unseren Bahnhof. Die Fahrt ging nur langsam vorwärts, da die amerikanischen Jagdbomber ständig über unserer Heimat kreisten.

Am 4. April 1945 gegen 12.30 begaben sich drei von den Kriegsgefangenen englischen Offizieren mit weißer Flagge zur Plesse, südwestlich des nahen Hildebrandshausen, wo ein Gefecht der Amerikaner mit deutschen Nachhutstreifen im Gange war. Um 16.40 Uhr kamen sie mit den ersten Amerikanern von Hildebrandshausen über die Heide die Bahnhofsstraße herab, gefolgt von motorisierter Infanterie. Mit dem Glockenschlag 16.45 Uhr übergab der Bürgermeister Franz Müller unser Dorf den Siegern. Die Freude der englischen Offiziere war unbeschreiblich. Sie vertauschten ihre Rolle mit der deutschen Bewachung. Alles vollzog sich fast friedensmäßig.

Nur rings um Lengenfeld in den Wäldern ging der Krieg weiter und verdichtete sich bei und in Struth zu einer größeren Kampfhandlung. Die Rauchsäulen des brennenden Nachbardorfes, die wie aus einem Vulkan über dem Kälberberg empor zum Frühlingshimmel quollen, waren das Ergebnis eines sinnlosen Widerstandes der deutschen Truppen.

Am 13. April verließen die letzten Kampftruppen unser Dorf. Ein kleines Besatzungskontingent blieb zurück. Alles wirtschaftliche Leben stand für kurze Zeit still. Die Ausgehzeit wurde stark eingeschränkt (6.00 – 20.00 Uhr). Niemand durfte sein Feld betreten oder ins Nachbardorf gehen. Die Eisenbahn fuhr gar nicht, da die Eisenbahnbrücken bei Frieda und Küllstedt gesprengt worden waren. Es kam nichts ins Dorf hinein, aber auch nichts hinaus, keine Lebensmittel und auch keine anderen Waren. Jeder Haushalt wurde „autark“
Zwei Tage nach Beendigung des Krieges trafen am 10. Mai 1945 (Himmelfahrt) die amerikanischen Besatzungstruppen hier ein. Für diese Einheit mussten neun Häuser in der Bahnhofsstraße (Nr. 34, 35, 36, 37, 38, 40,42, 46, 47) und der Bahnhof von der Bevölkerung geräumt werden.

Die Ausgehbeschränkungen wurden gelockert (von 6.00 bis 21.00). Der Bauer durfte aufs Feld gehen, und der Geschäftsmann konnte wenigstens das Nachbardorf besuchen.

Durch den Vertrag von Jalta wurde mit Beendigung des Krieges Deutschland in vier Besatzungszonen aufgeteilt. Infolgedessen bildeten die eichsfeldisch-hessische Grenze gleichzeitig die Zonengrenze zwischen den amerikanischen und sowjetischen Besatzungstruppen. So rückten am Sonntag, dem 1. Juli 1945 gegen 12.30 Uhr die amerikanischen Besatzungstruppen ab.

Am Donnerstag, dem 5. Juli 1945 gegen 7.30 Uhr durchzogen (sowjetische) von Hildebrandshausen kommende sowjetische Truppen unser Dorf und besetzten die Zonengrenze.

Walther Fuchs