Der Frauenstein in der Kirchenmauer zu Lengenfeld unterm Stein

Rechts am unteren Treppenaufgang zur Kirche in Lengenfeld sieht man einen sehr alten Grabstein in die Mauer eingefügt. Es ist das Verdienst des ehemaligen Lengenfelder Pfarrers Großheim, diesen sagenumwobenen und rätselhaften Stein, welcher vordem als Trittstein eines Hauses der Keudelsgasse gedient hatte, an dieser Stelle um die Jahrhundertwende hat einmauern lassen. Der gleiche Dank gebührt dem Pfarrer Alois Höppner, welcher am 08.07.1857 auf der Meierei zu Lengenfeld geboren wurde, dass er uns das ganze Grabmal nach den Angaben alter Leute rekonstruiert und so in seinem Buch „Amt Bischofstein“ durch zwei Abbildungen erhalten hat. Dieses Grabmal stand um 1850 noch am Bilstalswege auf dem Acker des Kaufmanns Anton Fischer. Außerdem wird dieser Frauenstein auch urkundlich genannt. „8 Morgen beim Frauenstein“ zinsen der Georgskapelle im Bischofstein. (Salbuch S. 315 A.H.)

Dieses rätselhafte Grabmal unter dem Bischofstein ist verknüpft mit der Sage einer Rache suchenden Königin oder Prinzessin von England. Diese sei von dem Vogt der Burg Stein mit einer silbernen Kugel erschossen und unter dieser Grabplatte begraben worden. Dann hätten ihre Mannen wiederum aus Rache die Burg Stein zerstört. Vom Tode dieser Frau oder „Fräubchen von England“ werden im Friedatal und im angrenzenden Hessen zehnerlei Varianten erzählt. Von ernsten Forschern und Historikern ist diese Sage ins Reich der Fabeln verwiesen worden, da nach den englischen Königsurkunden einwandfrei festgestellt ist, dass niemals auf dem Eichsfelde eine Königin oder Prinzessin aus englischen Häusern getötet oder begraben worden sein kann. Für die erste Zerstörung der alten Burg Stein (Das Nidderste Hus) sowie für die Zerstörung der vielen Rodedörfer des Eichsfeldes durch das Fräubchen hat es viele andere, urkundlich bewiesene, Gründe und Gelegenheiten in der inneren derzeitlichen thüringischen Geschichte gegeben.

Andererseits zeigt uns aber die Ausgestaltung des Grabmals mit diesem Plattenfragment, dass eine derzeitig hoch stehende Person aus gräflichem Geschlecht begraben sein muss.

So wurde dieses Grabsteinfragment in den letzten Jahrzehnten ein Gegenstand mehrerer Heimatforscher, zumal dasselbe bald einem unentzifferbaren Zustand entgegengeht. - Wer könnte ehemals unter diesem Grabstein in unmittelbarer Nähe der Burg Stein begraben sein? -

Auf dem noch erhaltenen Grabplattenfragment ist in gotischem Stil ein Kreuz (mit Christus) dargestellt. Unter diesem Kreuz sieht man links zwei Frauengestalten mit Heiligenschein in ruhiger Stellung. Unter dem rechten Kreuzbalken steht eine Gestalt, welche mit emporgehobenen Armen zum Heiland fleht. Da nun gerade bei dieser Gestalt am Fragment ein Teil fehlt, kann heute nicht mehr sicher festgestellt werden, welchen Geschlechts es darstellen soll. Es scheint auch noch eine Frauengestalt gewesen zu sein. Könnte nicht schon ob dieser drei Frauengestalten der Name „Frauenstein“ im Volksmunde entstanden sein?

Die 700 jährige Verwitterung des Grabsteines macht uns heute nicht nur die einwandfreie Deutung der Gestalten schwer, sondern auch die Inschrift über dem Christuskreuz ist unentzifferbar geworden. Nur folgende Anfangsbuchstaben dieser Inschrift sind noch zu lesen: O. B. I. T., d.h. „Ist gestorben“. Dieses beweist uns nur den Stein als Grabstein. Aber die zwei Wappen unter den Kreuzbalken, welche noch einigermaßen gut erhalten sind, könnten uns vielleicht noch Auskunft geben. Es handelt sich bei diesen Wappen sichtbar um zwei sehr alte Wappen, wegen ihrer einfachen Form. Nach der Wappenkunde (Heraldik) haben sich alle Wappen von der einfachen Form eines Schildes allmählich entwickelt als Abzeichen für Personen, Sippen und Körperschaften. Dieselben genossen Rechtsschutz durch das Wappenrecht.
Das Wappen auf unserm Grabstein unter dem linken Kreuzbalken ist nur mit einem einfachen Kreuz geziert, dessen vier Kreuzenden bis zum Wappenrande reichen. Also das Wappen eines Kreuzritters. Das unter dem rechten Kreuzbalken befindliche Wappen ist durch zwei Mittelbalken in fünf Felder eingeteilt. Nachdem wir mehrere Werke der Heraldik nachgesucht hatten, konnte einwandfrei festgestellt werden, dass das Wappen unseres Frauensteins nur das Wappen eines „Kreuzritters österreichischer Herkunft“ sein kann.

Hiermit lasse ich die Beschreibung dreier österreichisch -ungarischer Wappen folgen: I. Österreichisches Hauswappen, dreifach geteiltes Wappen auf rotem Grund mit einem silbernen Mittelbalken. (Meyers Lexikon, Österreich-Ungarn). II. Österreichisches Wappen auf rotem Grund, zwei silberne Querbalken (Herders Konversationslexikon - Heraldik). Dieses Wappen kommt für unsere Grabsteinplatte in Frage. III. Die ungarischen Wappen rot, senkrecht geteilt; rechtes Feld vier silberne Querbalken, linkes Feld ein silbernes Patriarchenkreuz über einem gekrönten dreifachen Hügel im roten Feld (Herders Konversationslexikon – Ungarn.)
Wie und wodurch konnte nun ein Grabmal mit dem Wappen eines österreichischen Kreuzritters unter die Burg Stein kommen?

Besitzer der Burg Stein waren die thüringischen Landgrafen. Der Erbauer der Burg Stein ist unbekannt. Mehrere Historiker sind der Ansicht, dass es Graf Giso von Gudensberg gewesen sei. Nach dem Aussterben dieses Gisonischen Grafengeschlechtes hätte Graf Ludwig III. von Thüringen als Verwandter dieser Gisonen die Burg Stein als sein persönliches Eigentum geerbt. Die Thüringer Grafen Ludwig I. (mit dem Barte), dessen Sohn Ludwig II., der Springer, und Ludwig III. waren nur erst Erzbischöfliche Vizedome in Thüringen. Erst dieser Graf Ludwig III. erhielt die Landgrafenwürde von Kaiser Lothar. Seit dieser Zeit nennen sich die Thüringer Grafen Landgrafen. Die Nachkommen Landgraf Ludwig III. waren somit Besitzer des Steines bis zum Tode des Landgrafen Heinrich Raspe IV., gestorben ohne Kinder 1247. Wäre die Burg Stein schon vorher erzbischöflicher Besitz gewesen, so hätte Erzbischof Matthias von Mainz nicht „kaufen“ brauchen. Dieser Bischof kaufte die zwei Teile des Steines, die von der landgräflichen Tochter Jutta auf ihre Nachkommen der Linien des Markgrafen Theodor von Meißen und auf Graf Poppo von Henneberg gefallen waren. Durch die verwickelten Erbverhältnisse der Thüringer Landgrafen entstand ja der Thüringer Erbfolgekrieg. Hier möchte ich einflechten, dass in diesen Fehden der nachfolgenden Landgrafen untereinander noch eine mögliche Ursache bestanden hat, wodurch die Burg Stein beschädigt sein könnte. (Verlust des niddersten Huses.)

Wie nun ein Grabmal mit dem Wappen eines österreichischen Kreuzritter unter die Burg Stein kam, deren Besitzer die Thüringer Landgrafen in jener Zeit waren - muss man aus den verwandtschaftlichen Beziehungen des Thüringer Landgrafenhauses zu den fürstlichen Häusern Österreich- Ungarns ersehen, ableiten und feststellen.

Zuerst die Frage: Wer war Kreuzritter in Österreich-Ungarn? Hierüber klärt uns schon ein kurzer Auszug des zweiten Teiles aus „Spanners illustrierter Geschichte“ auf. Prof. Dr. Diestel schreibt dort, von den Kreuzzügen bis zur Renaissance: Den Kreuzzug, welchen Andreas der II. von Ungarn in Verein mit Leopold VII, von Österreich mit Otto von Meran und Hugo von Cypern 1217 nach Syrien und Ägypten führte... usw. Dieser kurze Auszug genügt, um festzustellen, dass Andreas II. und Leopold der VII. beide persönlich und sicher unter ihrem Gefolge viele Grafen aus diesen Ländern Kreuzritter waren. Stellen wir nun die Beziehungen der Landgrafen von Thüringen zu den Regentenhäusern Österreich-Ungarn aus jener Zeit gegenüber, so müssen wir zu folgenden Erkenntnissen gelangen:
Die Gemahlin des Thüringer Landgrafen Ludwig VI. (später die heilige Elisabeth) war die Tochter König Andreas II. von Ungarn, geboren 1204, heiratete Ludwig VI., welcher 1200 geboren war. Dieser Landgraf soll seiner Gemahlin Elisabeth die Burg Stein als Morgengabe zu ihrem Hochzeitstage im Jahre 1221 geschenkt haben. Die Historiker waren sich bisher über diese Schenkung nicht einig, da Landgraf Ludwig VI. außer unserer Burg Stein noch vier Burgen mit der Endung Stein besessen habe: Den Altenstein bei Hessel - den Fürstenstein - den Liebenstein und den Altenstein bei Meiningen. Gerade aber dieses Grabmal unter der Burg Stein beweist, dass es unsere Burg Stein sein muss. Zieht man auch die kurze Entfernung der Wartburg zur Burg Stein in Betracht (wir sehen an Sonnentagen von unserem Burgberg die Fenster der Wartburg glitzern), so muss man zur Erkenntnis kommen, dass einst die heilige Elisabeth auch in unserer Flur Lengenfeld gewandelt ist. Hiermit wird auch das „Vielleicht“ zur Gewissheit, welches Dr. H. Iseke in seiner 3. Strophe über die Burg Bischofstein „Aus Eichsfelds Vorzeit und Geschichte“ singt:

War ja das Schloss zum Stein,
das Eigen jener Frau,
die Thüringen gewandelt,
in eine Segensau.

„Vielleicht“, dass hier vor Zeiten,
Elisabeth gestanden
und betend ausgebreitet
die Hände ob den Landen.

Um aber diese Arbeit nicht unvollständig zu beenden, muss ich noch folgende Tatsachen hinzufügen: Der letzte Landgraf von Thüringen aus diesem Geschlecht, Heinrich Raspe IV, hatte als zweite Gattin Gertrud, die Tochter Herzog Leopolds von Österreich, vermählt 1240. Die jüngste Schwester dieses Heinrich Raspe IV., Agnes, war verheiratet mit Herzog Heinrich III. in Österreich. Zieht man die Erwägungen der verwandtschaftlichen Beziehungen zwischen König Andreas II. von Ungarn und den Herzögen von Österreich hinzu, so muss man daraus schildern, dass unter diesem historischen Frauenstein, ehemals gestanden unter der Burg Stein, nur ein Angehöriger eines Kreuzritters aus Österreich-Ungarn ( zwischen 1200 - 1250) begraben sein konnte. Daß die begrabene Person aus derzeitlich hohem gräflichen Stande war, deuten auch die Blydenkugeln (Wurfkugeln) an, mit welchem das Grabmal ehemals geschmückt war. Diese Steinkugeln befinden sich leider noch versteckt und auch offen in Besitz von Lengenfelder Einwohner.

Aus diesem Fräubchen-Grab von „Ingarland“(Ungarland) hat der sovielmal wechselnde Volksdialekt in den verflossenen 700 Jahren ein Engeland gemacht. Jahrhunderte später haben es dann Romantiker mit der als so unmöglich erwiesenen Sage eines rächenden Fräubchen von England vermengt.

Lambert Rummel
(Quelle: „Lengenfelder Echo“, Ausgabe 4/1957, Seite 2-5.)

Quellenhinweise - Historische Abhandlungen zum Frauenstein und literarische Verarbeitungen des Stoffes

  • AG „Louis Fürnberg“: Thüringer Sagen – Aus der Umgebung Mühlhausens: „Die Riesen vom Burgberg“. Bezirks für Kulturarbeit Erfurt, o.J., S. 10 ff.
  • Demme, H.: Sagen des Eichsfeldes (V), in: Eichsfelder Heimathefte, Heiligenstadt 1956, S. 125 ff.
  • Duval, C.: Das Eichsfeld. Sonderhausen 1845/1979 (Nachdruck), S- 370 ff.
  • Duval, C.: Das Eichsfeld. Heiligenstadt 1923, S. 154 ff.
  • Gemeinde Lengenfeld unterm Stein: (Hg.): Kleine Chronik der Gemeinde Lengenfeld unterm Stein. Herausgegeben anlässlich der 1100-Jahrfeier 1997. Mecke-Druck Duderstadt, S. 92-93.
  • Heimat und Vaterland (nach Carl Duval), S. 43
  • Hohberg, R.: Thüringer Burgen Sagenhaft. Wartburg Verlag, 2000, S. 72-75
  • Höppner, Aloys.: Amt Bischofstein – Südeichsfelder Land und Leute. Wanfried 1924, S. 22 ff. (Abb. des Denksteines wurde nicht wirklichkeitsgetreu dargestellt)
  • Höppner, Aloys.: Die Germaramark, S. 132-133.
  • Hunstock, Fr.: in Eichsfelder Heimatbuch (von: W. Prochaska). Heft 5/1965, S. 297 ff.
  • Linge, Rudolf: Der Hahn auf dem Kirchturm. Leipzig/Heiligenstadt 1978/82/84, S. 239 ff.
  • Rassow, Walter: Beschreibende Darstellung der älteren Bau- und Kunstdenkmäler des Kreises Heiligenstadt. Halle a.d.S.: Otto Hendel 1909, S. 263.
  • Richwien, J.: Die Sage vom Fräubchen von England. Ortsgruppe des Kulturbundes Lengenfeld unterm Stein, 1987 (auch bildhafte Darstellung).
  • Riedel, H./Sünder, M.: Sagen aus Mühlhausen und seiner Umgebung. Mühlhäuser Beiträge – Sonderheft 4, 1982, S. 71 ff.
  • Rummel, Lambert: Aus „Ingarland“ wurde „Engeland“. Der Frauenstein in der Kirchenmauer zu Lengenfeld unterm Stein. Eichsfelder Heimatborn, Ausgabe 09.03.1957.
  • Rummel, Lambert: Die Sage vom „Fräubchen von England“. Eichsfelder Heimatborn, Ausgabe 13.03.1957.
  • Rummel, Lambert: Der Frauenstein in der Kirchenmauer zu Lengenfeld unterm Stein. „Lengenfelder Echo“, Ausgabe 4/1957, Seite 2-5.
  • Trappe, Wolfgang: „Damals im Südeichsfeld“. In: Eichsfelder Heimatstimmen, 3/1999 (Bd. 43)
  • Waldmann, H.: Eichfeldische Bräuche und Sagen. In: Programm des königlichen katholischen Gymnasiums zu Heiligenstadt für das Jahr 1864, S. 20 ff.
  • Wolf – Löffler: Politische Geschichte des Eichsfeldes, Duderstadt 1921, S. 132.
  • Wüstefeld, K.: Obereichsfeldischer Sagenschatz. Heiligenstadt 1920/24, S. 103 ff.