Aus "Ingarland" wurde "Engeland"

Der Frauenstein in der Kirchenmauer zu Lengenfeld unterm Stein

Rechts am unteren Treppenaufgang zur Kirche in Lengenfeld sieht man einen sehr alten Grabstein in die Mauer eingefügt. Es ist das Verdienst des ehemaligen Lengenfelder Pfarrers Großheim, der diesen sagenumwobenen und rätselhaften Stein, welcher vordem als Trittstein eines Hauses in der Keudelsgasse gedient hatte, an dieser Stelle um die Jahrhundertwende hat einmauern lassen. Der gleiche Dank gebührt Pfarrer Aloys Höppne, welcher am 8. Juli 1875 auf der Meierei zu Lengenfeld geboren wurde, dass er uns das ganze Grabmal nach den Angaben alter Leute rekonstruiert und so in seinem Buch „Amt Bischofstein“ durch zwei Abbildungen erhalten hat. Dieses Grabmal stand um 1850 noch am Bilstalswege auf dem Acker des Kaufmanns Anton Fischer Außerdem wird dieser Frauenstein auch urkundlich genannt: „Acht Morgen Land beim Frauenstein“ zinsen der Georgskapelle in Bischofstein (Salbuch S. 315 a. H.).

Dieses rätselhafte Grabmal unter dem Bischofstein ist verknüpft mit der Sage einer rachesuchenden Königin oder Prinzessin von England. Diese sei von dem Vogt der Burg Stein mit einer silbernen Kugel erschossen und unter dieser Grabplatte begraben worden. Dann hätten ihre Mannen wiederum aus Rache die Burg Stein zerstört. Vom Tode dieser Frau oder „Fräubchen von England“ werden im Friedatal und im angrenzenden Hessen zehnerlei Varianten erzählt. Von ernsten Forschern und Historikern ist diese Sage ins Reich der Fabeln verwiesen worden, da nach den englischen Königsurkunden einwandfrei festgestellt ist, dass niemals auf dem Eichsfelde eine Königin oder Prinzessin aus englischen Häusern getötet oder begraben sein kann. Für die erste Zerstörung der alten Burg Stein (Das Niederste Hus) sowie für die Zerstörung der vielen Rodedörfer des Eichsfeldes durch das Fräubchen, hat es viele andere (urkundlich bewiesene) Gründe und Gelegenheiten in der inneren, damaligen thüringischen Geschichte gegeben.

Andererseits zeigt uns aber die Ausgestaltung des Grabmals mit diesem Plattenfragment, dass eine damals hochstehende Person aus gräflichem Geschlecht begraben sein muss. So wurde dieses Grabsteinfragment in den letzten Jahrzehnten ein Gegenstand mehrerer Heimatforscher, zumal dasselbe bald einem unentzifferbaren Zustand entgegengeht. – Wer könnte ehemals unter diesem Grabstein in unmittelbarer Nähe der Burg Stein begraben sein?

Auf dem noch erhaltenen Grabplattenfragment ist in gotischem Stil ein Kreuz (mit Christus) dargestellt. Unter diesem Kreuz sieht man links zwei Frauengestalten mit Heiligenschein in ruhiger Stellung. Unter dem rechten Kreuzbalken steht eine Gestalt, welche mit emporgehobenen Armen zum Heiland fleht. Da nun gerade bei dieser Gestalt am Fragment ein Teil fehlt, kann heute nicht mehr sicher festgestellt werden, welchen Geschlechts sie sein soll. Es scheint auch noch eine Frauengestalt gewesen zu sein. Könnte nicht schon ob dieser Frauengestalten der Name „Frauenstein“ im Volksmunde entstanden sein?

Die 700-jährige Verwitterung des Grabsteins macht uns heute nicht nur die einwandfreie Deutung der Gestalten schwer, sondern auch die Inschrift über dem Christuskreuz ist unentzifferbar geworden. Nur folgende Anfangsbuchstaben dieser Inschrift sind noch zu lesen: „O. B. I. T.“, d. h. „ist gestorben“. Dieses beweist uns nur den Stein als Grabstein. Aber die zwei Wappen unter den Kreuzbalken, welche noch einigermaßen gut erhalten sind, könnten uns vielleicht Auskunft geben. Es handelt sich bei diesen Wappen wegen ihrer einfachen Form sichtbar um zwei sehr alte Wappen. Nach der Wappenkunde (Heraldik) haben sich alle Wappen von der einfachen Form eines Schildes allmählich entwickelt als Abzeichen für Personen, Sippen und Körperschaften. Dieselben genossen Rechtsschutz durch das Wappenrecht.

Das Wappen auf unserem Grabstein auf dem linken Kreuzbalken ist nur mit einem einfachen Kreuz geziert, dessen vier Kreuzenden bis zum Wappenrande reichen. Also das Wappen eines Kreuzritters. Das unter dem rechten Kreuzbalken befindliche Wappen ist durch zwei Mittelbalken in fünf Felder eingeteilt. Nachdem wir in mehreren Werken der Heraldik nachgesucht hatten, konnte einwandfrei festgestellt werden, dass das Wappen unseres Frauen-Steins nur das Wappen eines „Kreuzritters österreichischer Herkunft“ sein kann.

Wie und wodurch konnte nun ein Grabmal mit dem Wappen eines österreichischen Kreuzritters unter die Burg Stein kommen? Besitzer der Burg Stein waren die thüringischen Landgrafen. Der Erbauer der Burg Stein ist unbekannt. Mehrere Historiker sind der Ansicht, dass es Graf Giso von Gudensberg gewesen sei. Nach dem Aussterben dieses Gisonischen Grafengeschlechtes hätte Graf Ludwig III. von Thüringen als Verwandter dieser Gisonen die Burg Stein als sein persönliches Eigentum geerbt. Die Thüringer Grafen Ludwig I. (mit dem Barte), dessen Sohn Ludwig II., dem Springer, und Ludwig III. waren nur erst erzbischöfliche Vizedome in Thüringen. Erst dieser Graf Ludwig III. erhielt die Landgrafenwürde vom Kaiser Lothar. Seit dieser Zeit nennen sich die Thüringer Grafen Landgrafen.

Die Nachkommen Landgraf Ludwig III. waren somit Besitzer des Steines bis zum Tode des Landgrafen Heinrich Raspe IV., gestorben ohne Kinder 1247. Wäre die Burg Stein schon vorher erzbischöflicher Besitz gewesen, so hätte sie Erzbischof Matthias von Mainz nicht „kaufen“ brauchen. Dieser Bischof kaufte die zwei Teile des Steines, die von der landgräflichen Tochter Jutta auf ihre Nachkommen der Linien des Markgrafen Theodor von Meißen und auf Graf Poppo von Henneberg gefallen waren. Durch die verwickelten Erbverhältnisse der Thüringer Landgrafen entstand ja der Thüringer Erbfolgekrieg. Hier möchte ich einflechten, dass in diesen Fehden der nachfolgenden Landgrafen untereinander schon die erste mögliche Ursache zu finden ist, wodurch die Bug Stein beschädigt sein könnte (Verlust des niddersten Huses).

Wie nun ein Grabmal mit dem Wappen eines Österreichischen Kreuzritters unter die Burg Stein kam, deren Besitzer die Thüringer Landgrafen in jener Zeit waren – muss man aus den verwandtschaftlichen Beziehungen des Thüringer Landgrafenhauses zu den fürstlichen Häusern Österreich-Ungarns ersehen, ableiten und feststellen.

Zuerst die Frage: Wer war Kreuzritter in Österreich-Ungarn? Hierüber klärt uns schon ein kurzer Auszug des zweiten Teiles aus „Spanners illustrierte Geschichte“ auf. Prof. Dr. Diestel schreibt dort von den Kreuzzügen bis zur Renaissance: „Den Kreuzzug, welchen Andreas II. von Ungarn im Verein mit Leopold VII. von Österreich mit Otto von Meran und Hugo von Cypern 1217 nach Syrien und Ägypten führte ...“ usw. Dieser kurze Auszug genügt, um festzustellen, dass Andreas II. und Leopold VII. beide persönlich und sicher unter ihrem Gefolge viele Grafen aus diesen Ländern Kreuzritter waren. Stellen wir nun die Beziehungen der Landgrafen von Thüringen zu den Regentenhäusern Österreich-Ungarns aus jener Zeit gegenüber, so müssen wir zu folgenden Erkenntnissen gelangen:

Die Gemahlin des thüringischen Landgrafen Ludwig VI. (später die heilige Elisabeth) war die Tochter König Andreas’ II. von Ungarn, geboren 1204, heiratete Ludwig VI., welcher 1200 geboren war. Dieser Landgraf soll seiner Gemahlin Elisabeth die Burg Stein als Morgengabe zu ihrem Hochzeitstage im Jahre 1221 geschenkt haben. Die Historiker waren sich bisher über diese Schenkung nicht einig, da Landgraf Ludwig VI. außer unserer Burg Stein noch vier Burgen mit der Endung „Stein“ besessen habe: den Altenstein bei Hessel, den Fürstenstein, den Liebenstein und den Altenstein bei Meiningen. Gerade aber dieses Grabmal unter der Burg Stein beweist, dass es unsere Burg Stein sein muss. Zieht man auch die kurze Entfernung der Wartburg zu Burg Stein in Betracht (wir sehen an Sonnentagen von unserem Burgberg die Fenster der Wartburg glitzern), so muss man zur Erkenntnis kommen, dass einst die heilige Elisabeth auch in unserer Flur Lengenfeld gewandelt ist. Hiermit wird auch das „Vielleicht“ zur Gewissheit, welches Dr. Hermann Iseke in seiner dritten Strophe über die Burg Bischofstein „Aus Eichsfelds Vorzeit und Geschichte“ singt:

"War ja das Schloss zum Stein, das Eigen jener Frau,
die Thüringen gewandelt, in eine Segensau,
Vielleicht, dass hier vor Zeiten, Elisabeth gestanden
und betend ausgebreitet die Hände ob den Landen."

Um aber diese Arbeit nicht unvollständig zu beenden, muss ich noch folgende Tatsachen hinzufügen: Der letzte Landgraf von Thüringen aus diesem Geschlecht, Heinrich Raspe IV., hatte als zweite Gattin Gertrud, die Tochter Herzog Leopolds von Österreich, vermählt 1240. Die jüngste Schwester dieses Heinrich Raspe IV., Agnes, war verheiratet mit Herzog Heinrich III. in Österreich.

Zieht man die Erwägungen der verwandtschaftlichen Beziehungen zwischen König Andreas II. von Ungarn und den Herzögen von Österreich hinzu, so muss man daraus schließen, dass unter diesem historischen Frauenstein, ehemals gestanden unter der Burg Stein, nur ein Angehöriger eines Kreuzritters aus Österreich-Ungarn (zwischen 1200 und 1250) begraben sein konnte. Dass die begrabene Person aus hohem gräflichem Stande war, deuten auch die Blydenkugeln (Wurfkugeln) an, mit welchen das Grabmal ehemals geschmückt war. Diese Steinkugeln befinden sich leider noch versteckt und auch offen im Besitz von Lengenfelder Einwohnern.

Aus diesem Fräubchen-Grab von „Ingarland“ (Ungarland) hat der Volksdialekt in den verflossenen 700 Jahren ein Engeland gemacht. Jahrhunderte später haben es dann Romantiker mit der als unmöglich erwiesenen Sage eines rächenden Fräubchens von England vermengt.

Lambert Rummel
(Quelle: Eichsfelder Heimatborn, Ausgabe vom 09.03.1957)