Reisewege im Eichsfeld: Hülfensberg und Bischofstein aus Fliegersicht betrachtet

„Wanderer oder Flieger, wer von ihnen sieht das Eichsfeld schöner?“, frage ich mich oft, als Segelflieger zwischen den Wolken wandernd. Beider Sehgewohnheiten sind so grundverschieden, dass jeder Vergleich hinkt. Während sich des Erdwanderers Blickfeld in horizontaler Ebene öffnet, ist das des Fliegers in vertikaler auf Tiefe ausgerichtet. Er muss auf manches verzichten, was den Wanderer beglückt: weit geöffnete Blumenkelche, schillernde Käfer, buntfarbene Schmetterlinge und vieles mehr. Er hört nicht der Vögel Gezwitscher, das Jubilieren der Lerche, hört nicht den Wind, der die erntereifen Sommerfelder wogen lässt. Dafür entzücken hell und dunkel abwechselnde Flächen, die voll spielzeughafter Erdüberschaubarkeit sind, Linien von Fluss und Weg, Feldern und Wäldern projizieren bildhafte Dynamik. Aus der Bussardperspektive ist Mutter Erde mehr als buntscheckig, wenn sie im Hochsommer ihr Flickenkleid trägt. Jedes Feld wird zum Tupfer in weitgefächerter Landschaft, die aus Fliegersicht ihres Musters, ihrer Vielfarbigkeit wegen, glatt gestrichelt oder gebündelt wirkt. Spaßig auch die Dörfer, die sich wie Bauklötzchen aus dem Spielzeugkasten ausnehmen. Silbrig gleißen Teiche und Bäche unter der Sonne hellem Licht. Auf den Leinen winkt weiß die Wäsche. Gäbe es inzwischen nicht auch auf eichsfeldischen Straßen hohes Fahrzeugaufkommen und Staus, nichts wäre schöner, als die Heimat tief unten still liegen zu sehen.

Fliegt man sie von Süden an, grüßt bald der WERRA anmutiges Entree herauf. Bei WANFRIED biegt sie nach Westen ab, um sich nach ESCHWEGE davonzuschlängeln. Es reizt, zwischen den beiden Säulen HÜLFENSBERG und KEUDELSKUPPE einzuschweben und den Legendenberg über DÖRINGSDORF, GEISMAR, GROSSTÖFPER und BEBENDORF zu umrunden. Mein Gott, was hätten die alten Deutschen für einen Schreck bekommen, einen Riesenvogel um ihren Kultberg kreisen zu sehen. Noch in nachbonifatianischer Zeit versetzten sie Mondfinsternisse in helle Aufregung, weil sie das Gestirn im Rachen eins Ungeheuers wähnten. Also warfen sie, den vergehenden Mond zu retten, Speere und Feuerbrände zu ihm hinauf und feuerten ihn mit KART MANO, „siege Mond“, an. Mag BONIFATIUS (672 -754) als angelsächsischer Missionar WYN-FRIETH und Gründer der Klöster FULDA und OHRDRUF die Thoreiche im hessischen oder thüringischen GEISMAR gefällt haben - es ändert nichts: der HÜLFENSBERG ist und bleibt für Eichsfelder der BONIFATIANISCHE, weil der Angelsachse vermeintlich hier und nicht anderswo regionale Stämme christianisierte. Also hieb er hier auch die ihrer Gottheit geweihte Eiche um und baute daraus ein erstes Bethaus.

Einst ging von „blauer Bergkuppe“ „blau“ der Dunst des Teufels STUFFO aus, wenn er dort sich mit feurigem Schweif in die Lüfte erhob. Abgeleitet sind seine Aktivitäten allerdings vom Germanen Gott THOR. Des Rätsels Lösung: STUFFO = mittelhochdeutsch „Stouf“, war, wie Dr. E. Müller 1986 schrieb, kein Teufel, sondern ist topographisch eine „kegelartige Bodenerhebung“. 1352 wird der HÜLFENSBERG erstmals als „Stuffenberg“ erwähnt. Die germanische und christliche Berggeschichte ist lang und von Generation zu Generation immer wieder umgedichtet worden. Grabungen auf dem Plateau förderten Asche zu Tage, die in der Tat auf eine frühgeschichtliche-mythologische Kultstätte schließen lässt.

Anno 1360 entstand dort eine gotische Kapelle, die in Rudimenten bis 1890 erhalten blieb. Ihr, der Wundertätiges nachgesagt wird, soll ein Bonifatius-Opferhaus aus dem 11. Jh. vorausgegangen sein. Der Name SALVATOR-Gehülfensberg wird seit 1374 auf das dort verehrte romanische Kruzifix zurückgeführt. Der Eichsfeld-Historiograph Joh. Wolf (1743 - 1826) bezog den Bergnamen auf „Bresthafte«, also „Gebrechliche“, die „zum Berge „wallfahrten, um „Hülfe“, Heilung zu erlangen. Seit 1860 dient der Hülfensberg dem Franziskanerorden als Klosterstätte.

Den Kreisflug in nordöstlicher Richtung zu einer „liegenden Acht“ erweitert, fliegt man über das Dorf LENGENFELD unterm STEIN am FRIEDABACH. Was für ein Anblick von oben. Dort zieht der Schienenweg der alten „Kanonenbahn“ über den Dächern des Ortes eine phantastische Schleife. Bilder werden wach, als noch die darunter gebauten Häuser sich unter Funkenregen, Dampfgezisch und der Räder Gepolter duckten, ihre Bewohner aber aus dem Nachtschlaf rissen. Nordwestlich des Dorfes erhebt sich der Schlossberg, BISCHOFSTEIN. Nichts blieb von der alten Burg. Am äußersten Bergsturz künden noch Erdsenken und Mauerreste von dem alten CASTRUM DICTUM STEYN, der alten „Burg zum Stein“. Sie kam im 12. Jh. an das thüringische und hessische Landgrafenhaus. Obwohl Mainz im 13. Jh. das Schloss käuflich erworben hatte, verfügte es im 14. Jh. nur über die Unterburg, die seit 1326 zugleich Sitz des Mainzer Amtsvogtes war. Erst 1409 gehörte dem Erzbischof wieder die gesamte Burg. Damals nannte man sie erstmals BISCHOFSTEIN. 1620, im 30jährigen Krieg arg beschädigt, hielt sich am längsten ihre St. Georgskapelle. Darin wurde noch 1695, „auf dem Amptshause Bischofstein in der gefangenschaft ein unächtig kind als Söhnlein gebohren von Margaretha Kobold aus Fülung“ (Faulungen), getauft. Im 18. Jh. entdeckte der Mainzer Amtmann Holzborn die Reste der Kirche zur ehemaligen STADT STEIN. Das jetzige Schloss BISCHOFSTEIN errichtete 1743 – 63 Meister Heinemann aus DINGELSTÄDT. Bauherr war Kurfürst Joh. Friedr. v. Ostein.

Unverzeihlich ist, dass damals die noch stattliche Burg als Steinbruch genutzt wurde und demzufolge gänzlich verschwand. Mit dem Überfliegen der 484 m hohen KEUDELSKUPPE und deren Südwesthang, der sich steil dem WERRATAL zuneigt, verlässt man wieder das Eichsfeld. 1640 brach sein Urgestein ab, „so daß im Wanfrieder Hochzeitshaus die Tassen eine Elle hoch sprangen“. Zweimal verschwand KEUDELSTEIN (Kywobsdorf) unter dem Nordhang der Bergnase. Wüstung im 13. Jh. geworden, tilgte das sozialistische Grenzregime in den 60er Jahren unseres Jahrhunderts das alte Keudelsteiner Rittergut bis auf die letzte Grundmauer.

Aus der Luft gesehen, kleiner und kleiner werdend, bleibt ein Stück Heimat zurück, wie es an Geschichte und Romantik nicht reicher sein kann.

Wolfgang Trappe
(Quelle: Eichsfelder Heimathefte, Heft 37, 1993)