Reparationen und Kanonenbahn

Wer Eichsfeldgeschichte, aber auch eichsfeldische Werte in Erinnerung ruft, unterscheidet sich von denen, die aufgrund deutscher Vereinigungs-Unzulänglichkeiten die moralische Verantwortung politisch Handelnder hinterfragen. In diesem Zusammenhang sei der 1931 in Eschwege geborene Rolf Hochhuth genannt. Ein engagierter Schriftsteller. Bekannt wurde er u.a. mit „Der Stellvertreter“ (1963), „Soldaten“ (1967), „Juristen“ (1979). „Alan Turing“ (1987), „Wessis in Weimar“ - Szenen aus einem besetzten Land (1993). In einem Interview sagte der Dramatiker 1993: „Am 1. April 1945 wurde ich 14. Die Teilung Deutschlands habe ich als Zonenrandler sehr bewusst erlebt. Gefühlsmäßig war das für mich furchtbar.“ Und zu seinem Bühnenstück „Wessis in Weimar“: „Ich wünschte mir, dass es dazu beiträgt, die Frage der Vermögensbildung bei den Ostdeutschen, die im Gegensatz zu uns allein den Russlandfeldzug abbezahlt haben, neu zu erörtern. Es geht doch wirklich nicht, dass den dort Geborenen und dort Arbeitenden an Produktionsmitteln und wertvollem Boden nichts bleibt als das Grab.“

Jemand der diesseits vom Hülfensberg geboren wurde, könnte viel dazu sagen und wäre doch nicht befugt, weil er nicht vier Jahrzehnte lang unter den Bedingungen der zwangsverfügten Grenzgebiet Abschottung leben musste. Als gebürtiger Südeichsfelder, der rein zufällig den Beginn der Grenzziehung 1946 am Hülfensberg über Monate miterlebt hat -und das als Kriegsheimkehrer - kann ich Rolf Hochhuth nur beipflichten, wenn er die Zonengrenze als „furchtbar“ registrierte. Ich selbst apostrophierte sie als Gipfel menschlicher Dummheit. Menschen, die noch vor kurzem von Ideologen aufeinandergehetzt worden waren und Abermillionen Tote zu beklagen hatten, reichten sich nicht die Hand, sondern schütteten östlicherseits neue Gräben auf, hinter denen sie mit Kalaschnikows Posten bezogen.

Dem Unsinn von Kriegen auf den Grund zu gehen, brauchte ich mich damals nur umzuschauen, um wenige Meter von meinem Domizil Schloss Bischofstein entfernt, auf Gleisen zu stehen, die 70 Jahre zuvor für Waffentransporte gelegt worden waren. Dem Krieg abhold, taufte sie der Volksmund folgerichtig „Kanonenbahn“. Mit Schulgeschichtswissen ausgestattet, erinnerte ich mich an Bismarck (seit 1862 preußischer Ministerpräsident und Außenminister) und dessen Diplomatie, die dazu beigetragen hatte, dass Preußen drei siegreiche Kriege (1864 gegen Dänemark, 1866 gegen Österreich und 1870/71 gegen Frankreich) führen konnte. Danach wurde der preußische König Wilhelm l. in Versailles (am 18.1.1871) zum Deutschen Kaiser proklamiert. Paris kapitulierte am 28. Januar. Bismarck wurde Reichskanzler. Im Frieden von Frankfurt (10.5.1871) kamen Elsass und Lothringen an die Deutschen Reichslande. Frankreich musste 5 Mrd. Francs Kriegsentschädigung zahlen.

Auf einmal war auch für den strategischen, preußischen Eisenbahnbau Geld in den Kassen. Als kürzester Transportweg zwischen der ostpreußisch-russischen Grenze und dem französischen Metz, über Berlin-Koblenz, vom preußischen Generalstab befürwortet, kam es 1873 zur Projektierung der Bahntrasse zwischen Leinefelde – Dingelstädt – Geismar –Schwebda – Eschwege (Niederhone). Es brauchte fünf Jahre, bis die eingleisig geführte Strecke 1880 dem Verkehr übergeben werden konnte. Ein höchst aufwendiger Kunstbau, der ohne militär-politisches Dafürhalten nie realisiert worden wäre. Fünf große Brücken und sechs Tunnel, darunter der Küllstedter Tunnel mit 1530m und der Schwebdaer Dachsbergtunnel mit 1066m Länge, versprachen eine vielfrequentierte Durchgangsstrecke. Vergessen hatte man jedoch, dass das „Kopf machen“ (Lokumsetzen) in Leinefelde dem im Wege stand. Trotzdem wurde der aufwendige Bau in Angriff genommen und die fertiggestellte Eisenbahnlinie als preußische Staatsbahn in Dienst gestellt.

Die prognostizierte Teiltrasse Leinefelde – Dingelstädt – Eschwege kam jedoch von Anfang an nicht über die einer Sekundärstrecke hinaus, nachdem sich die ältere Hauptstrecke Berlin-Frankfurt über Leinefelde – Eichenberg – Niederhone in den 70er Jahren des 19. Jahrhunderts als die schneller zu befahrende bewährt hatte. Kriegstransporte hat die schönste und romantischste aller über das Eichsfeld geführten Schienenwege nicht gesehen. Trotzdem haftet der Bahn der Planungsbegriff „Kanonenbahn“ an. Völlig unverständlich ist auch, wenn trotz der Transportdefizite in den Jahren 1906/07 die gesamte Bahnstrecke zweigleisig ausgebaut wurde. Zusätzliche Tunnelerweiterungen und Brückenverbreiterungen verschlangen Unsummen.

Nach dem für Deutschland verlorenen ersten Weltkrieg revanchierte sich Frankreich seinerseits mit Reparationsansprüchen. Aufgrund des Versailler Friedensvertrages (28.6.1919) musste das zweite Gleis zurückgebaut werden. Reparationsauflage: „Deutschland und Verbündete sind als Urheber für alle Verluste und Schäden verantwortlich, die die alliierten und assoziierten Regierungen infolge des aufgezwungenen Krieges erlitten haben. Die Höhe der Reparationssumme ist noch festzusetzen.“

Das Befahren der Strecke war nach dem zweiten Weltkrieg wegen der sinnlosen Zerstörung der Büttstedter Brücke (am 6.4.45) vorübergehend unterbrochen. Die traditionelle Trassennutzung über Schwebda nach Eschwege West verhinderte die Aufteilung Restdeutschlands in vier Besatzungszonen. Auch ohnedies hätte die Sprengung des Viadukts am Schwebdaer Tunnel (am 2.4.45) jede Weiterfahrt verhindert. Endstation war seit den 50er Jahren Geismar unter dem Hülfensberg. Reisende aus Richtung Leinefelde kamen lediglich bis Großbartloff. Von hier ab war die Weiterfahrt nur mit einem Sonderausweis oder Passierschein für die 5 Kilometer Sperrzone möglich.

Seit Mai 1994 ist der Eisenbahnverkehr zwischen Dingelstädt und Geismarwegen Unwirtschaftlichkeit eingestellt. Von den Haltepunkten Großbartloff (1894), Kefferhausen (1903), Effelder (1905) blieb nicht einmal das Stationsschild. Dafür setzen die alten Gleise immer mehr Rost an. Ausdruck von materiell aber auch mental bedingter Vergänglichkeit einmal für unabdingbar gehaltener Notwendigkeit. Manche Gleisabschnitte stammen unübersehbar aus der Gründerzeit, insbesondere die dorfüberspannende 244m lange Lengenfelder Brücke. Ihre uneingeschränkte Verkehrszulassung lief 1992 ab. Stellt sich die Frage, wer die notwendigen Sanierungskosten übernimmt, wenn überhaupt. Die Bahn AG, der Bund, das Land, eine Investgruppe? Es wird wohl noch viel Friedawasser unter ihr hindurchfließen, bis auch für die Kanonenbahn wieder Licht am Ende der Tunnel zu sehen ist.

Wenn auch die ehemaligen Haltestellen verwaist sind, assoziieren ihre Bahnsteige noch immer Bilder frühester Mobiliät. Zugleich markieren sie überdeutlich das inzwischen geübte Umsteigen von der Schiene auf die Straße. Damit verschwanden auch Kommen und Gehen in aller Öffentlichkeit. Während des zweiten Weltkrieges besonders tragisch, wenn auf den Abschied allzu oft keine Wiederkehr folgte. Jetzt führen die Schienen der Kanonenbahn nirgendwo mehr hin. Mit viel Phantasie und rückwärts gewandt vielleicht in die Vergangenheit, in eine Scheinwelt sehnsuchtsvoller Nostalgie. Wer so sensibilisiert in die Stille lauscht, hört noch das von den, Schienenstößen herrührende rhythmische Rattern des näherkommenden Zuges. Da kann es geschehen, dass der angezogene Schrei eines kreisenden Bussards als Pfeifton der Lokomotive wahrgenommen wird, just in dem Augenblick wenn sie in den schwarzen Schlund des Tunnels eintaucht. Kein Wunder, wenn der in Gedanken Versunkene instinktiv vom Gleiskörper zurücktritt. Imposant auch das Szenario am Tunnelausgang, die Ausfahrt. Rumpelnd in zischenden Wasserdampf gehüllt katapultiert es heraus: deus ex machina, das Dampfross wie aus dem Nichts. Obwohl wir uns an Maschinen aller Art gewöhnt haben, sind alte Lokomotiven – nicht nur für Eisenbahnfreaks – noch immer kraftstrotzende Ungetüme, Dinosaurier, aus der Frühzeit respektabler Ingenieurkunst.

Phantastische Romantik einer musealen Eisenbahnlandschaft. Die einst so aufwendig gebauten Tunnel sind inzwischen Unterschlupf für alles was da kreucht, geworden. Stetig tropft Wasser aus den Fugen. Im Winter zu bizarren Eiszapfen gefroren. Ein Zauberberg zum Leidwesen derer, die auch weiter Streckenverantwortung tragen und die Sprengkraft von Eis nicht unterschätzen. Die hohen Brücken sind Freigerüste, durch deren desolate Bohlen man senkrecht nach unten blickt, was einem Streckenläufer damals beim Abklopfen der Schwellenschrauben bestimmt nicht gefallen hätte. Heute nutzt das gefiederte Völkchen die Viadukte hoch überm Grund, fleucht ein und aus, als wären sie Start- und Landebahnen. Niemand kommt mehr daher, um dem luftigen Treiben Einhalt zu gebieten. Glückliche kleine Freunde hoch auf Brücken aus dem vergangenen Jahrhundert. 120 Jahre Kanonenbahngeschichte, kritisch sowie romantisch betrachtet, bestätigen wieder einmal, dass alles seine Zeit hat und nichts von Dauer ist.

Wolfgang Trappe
(Quelle: Eichsfelder Heimathefte, Nr. 43, 1999)