Ein historischer Mordfall auf dem Hülfensberg im Jahre 1617 und seine Nachwirkungen
Zum Geleit
Der folgende Text, basierend auf historischen Aktenstücken aus dem Hanstein'schen Archiv, schildert ein tragisches und aufschlussreiches Ereignis aus der Zeit unmittelbar vor dem Dreißigjährigen Krieg. Die Überlieferung beleuchtet den gewaltsamen Tod des jungen Adligen Heidenreich von Hanstein (Sohn des Heinrich von Hanstein zu Wiesenfeld) im Jahr 1617 auf dem Hülfensberg, einem bedeutenden katholischen Wallfahrtsort auf dem Eichsfeld in Thüringen (damals unter der Herrschaft des Erzbistums Mainz).
Die Umstände des Vorfalls bieten einen tiefen Einblick in die Spannungen des frühen 17. Jahrhunderts:
- Religiöse Konflikte: Die evangelischen Junker (Edelleute) der Umgebung nutzten die traditionelle katholische Wallfahrt, um Gebräuche und Priester zu verhöhnen, was zu einer direkten Konfrontation führte.
- Gesellschaftliche Zerwürfnisse: Der Text dokumentiert die feindselige Stimmung des (katholischen) Volkes und der Beamten gegenüber dem (evangelischen) Adel, dessen junge Vertreter Trunkenheit und „Muthwillen“ an den Tag legten.
- Mangelnde Justiz: Die nachfolgende, weitreichende Korrespondenz zeigt, wie die kurmainzische Untersuchung des Unglücksfalls — der von den Adligen als Mord, von den Behörden als Tumult bezeichnet wurde — über Jahre hinweg im Sande verlief und zu keinem klaren Ergebnis führte.
Dieser Bericht ist somit nicht nur die erschütternde Chronik eines persönlichen Schicksals, sondern auch ein Zeugnis für die politische und konfessionelle Instabilität in Mitteldeutschland am Vorabend des großen Krieges, in einer Epoche, in der Recht oft an Standesgrenzen scheiterte.
Aus dem Originalbericht betreffend Heinrich von Hanstein zu Wiesenfeld
9. Kapitel, 3. Abschnitt, Heinrichs Söhne, a) Heidenreich, bei einem kath. Prozessionsfest auf dem Hülfensberg erschossen.
[…] Das Jahr 1617 brachte ihm großen Kummer, Sorge und Ärger, da ihm sein ältester Sohn Heidenreich bei einem katholischen Feste auf dem Hülfensberg auf dem Pferde erschossen wurde. Es findet sich darüber eine weitläufige Correspondenz des Vaters in dem Archiv, die aus 60 Aktenstücken besteht und aus der damaligen Zeit, also vor 240 Jahren, vor Ausbruch des großen Krieges, manches Licht uns giebt, über das Betragen der jungen evangel. Edelleute, besonders in Nichtachtung der katholischen Gebräuche und ihrer Priester — ihrer Neigung zum Trunke, — über die Stimmung des Volks gegen die Junker — wie selbst Beamte diese Stimmung teilten — und wie die Untersuchungs-Justiz damals behandelt ward, und selbst bei Einschreitung des geistlichen Landesherrn kein Resultat gewährte, wenn auch hier von keinem Morde, wie der bekümmerte Vater es nannte, sondern nur von einem im Volkstumult erfolgten Unglücksfall die Rede war. Im Mai 1617 wurde nämlich nach altem Herkommen, wie noch jetzt, die Bonifacius-Octave auf dem Hülfensberg bei Groß-Töpfer, für seinen Erbauer und Stifter gefeiert. Die Feier begann damals Montag am 12. Mai alten Calenders, wo, wie auch noch jetzt, sich viele Menschen versammelten, die Stadt- und Gemeindebewohner unter Anführung ihrer Pfarrer und Schulmeister in Procession dahin wallfahrten, dort in dem alten Kirchlein Amt und Messe und Gottesdienst gehalten, und zur leiblichen Nahrung auch Verkäufer von Eßwaaren und Krämer sich einfanden. Der älteste Sohn Heinrichs v. H. zu Wiesenfeld, der unmündige Heiderich hatte von seinem Vater — wie dieser sagt — ungern die Erlaubnis und wenig Geld erhalten, dahin zu reiten, wozu er auch von seinem Freunde, Christoph v. Kendel zu Schwebda, Einladung bekommen und bei ihm die Nacht vorher zugebracht hatte, und die Verabredung dazu bei „gehaltenem „fürstl. landgräfl. Geleit des Niederländischen Kriegsvolks" geschehen war. Der Hülfensberg gehörte damals zum Amt Bischofstein, dem der Vogt Joh. Rebhuhn vorstand, welchem der gegen ihn erbitterte Heinrich v. H. nachsagte: „daß er, eines „Barbiers Sohn aus Heiligenstadt, sich mit großen Gissten auf „Bischofstein erkauft." Das Oberamt zu Heiligenstadt, die oberste Behörde des Landes, verwaltete Wilhelm Dietrich von Dhaun, der hohen Domstifter Mainz und Worms Capitular und Dom-Probst. Die beiden Junker ritten daher am 12. Mai auf den Hülfensberg wo sie mehrere von Adel — wie es heißt 6—7 — und unter diesen Christoph v. Harstall antrafen, die, wie alle, mit geladenen Pistolen und Wehren bewaffnet, sich dann sofort zum Trunk niedersetzten, woran aber — wie Vater Heinrich behauptet — sein Sohn, weil er wenig Geld gehabt, nicht Theil genommen, sondern herumspaziert sey. Der umständliche Bericht des Vogts von Bischofstein vom 12. Oct. 1617 an das Oberamt giebt dann an:
„Nach dem festo sanctissimæ trinitatis sey immaßen undenklichen Jahren Herkommens, die Walfahrt auf den Hülfensberg angestellt, und von vielen frommen Christen, ihr Gebet daselbst zu verrichten, besucht worden, und seyen unter andern 10 oder 12 uncatholische von Adel, theils im Fürstentum Hessen und anderer Orten gesessen, mit ihren Pferden und jeder mit zwei Pistolen neben einem Trommeter ankommen, um die guten Gebräuche und Ceremonien zu verspotten, und andere gottesfürchtige Christen in ihrer Andacht zu verhindern. Als nach verrichteter Procession das Amt der heil. Messe angestellt, sollen die von Adel — nach glaubwürdigem Bericht — abscheuliche Gotteslästerung und in specie den Hülfensberg ein Teufelshaus genannt, auch daß der Donner Pfaffen und Kirchen sollte zerschlagen, gepflogen haben, darauf zusammen sich zum Weinfaß verfügt und daselbst so lange verharret, bis alle voll und Toll geworden. Als nun der Hr. Probst von Annerode neben den patribus societatis Jesu ihn, den Vogt, zu sich zur Mahlzeit gebotten, und sie nicht lange zu Tisch gesessen, sey ein Tumult bemerkt, und der Schreiber des Klosters Anroda, der beim Tisch aufgewartet, hinausgegangen und habe bald mit großem Schrecken angezeigt, „daß die von Adel alle zu Pferde gesessen, ihre Pistolen gezogen, großen Muthwillen und Unglück angefangen, einem Krämer seinen Kramladen über den Haufen geritten und dazu jämmerlich geschlagen hätten. Und wenn ich, der Vogt, nicht bald dazu komme und Frieden schaffe, hätte man sich gewißlich großen Mord und Todtschlag zu befahren." Darauf sey er, der Vogt, sogleich vom Tisch aufgestanden, die Herrn patres und andern Geistliche seyen gefolgt, und habe alles, wie gehört, befunden. Er habe dann die von Adel um Gotteswillen gebeten, inne zu halten und an diesem tanquam loco sacro, nichts thätliches anzufangen. Sein Bitten habe aber nichts helfen wollen, sondern sey in Gefahr Leib und Lebens gestanden, denn sie hätten ihre Pistolen stracks auf ihn gehalten, welches die Hr. patres und Geistliche vermerkt und sich zurück gezogen. In diesem Tumult habe Junker Stoffel von Harstall, welcher den Kramladen umgeritten, seine Pistolen unter den Haufen losgebrandt, und sey sobald von den Wächtern und andern Bauern vom Pferde geschlagen, der v. Hanstein aber von seinem gestürzt und des Todes worden. Ob aber der v. Harstall der rechte Thäter, oder dem v. Hanstein jemand anders den Schuß beigebracht, davon sey noch zur Zeit nichts gründliches einberichtet worden. Er habe nun den von Harstall wegen dessen verübten Muthwillen, „anstatt Ihr Churf. Gnaden von ihm die Faust gefordert" (die Hand abhauen war an solchen Orten die angedrohte Strafe) — ermahnt, „daß er, „Fuß halten solle" derselbe aber habe sich Abends heimlich davon gemacht, sein Pferd, Büchsen, Hut und Wehr, alles hinterlassen, welches er, der Vogt, mit des Todt gebliebenen Hansteins Pferd und Gewehre — weil diese That unter des Vogts Botmäßigkeit verrichtet — auf das Churf. Haus Bischofstein zu weiter gnädigen Verordnung bringen lassen." […]
Quelle: C. P. E. Hanstein: Urkundliche Geschichte des Geschlechts der von Hanstein in dem Eichsfeld in Preußen (Provinz Sachsen). Zweiter Theil. J. J. Bohne’sche Buchhandlung. Cassel, 1857, S. 651 – 654.
Übertragung, Korrektur und Bearbeitung des Textes für das Eichsfeld-Archiv:
Oliver Krebs, Ortschronist von Lengenfeld unterm Stein
Schlussbemerkung: Die weitreichenden Folgen des Mordfalls auf dem Hülfensberg im Jahre 1617
Der tragische Tod des jungen Heidenreich von Hanstein im Jahr 1617 zog langwierige juristische und persönliche Konsequenzen nach sich, die beispielhaft die politische und konfessionelle Spannungen des frühen 17. Jahrhunderts auf dem Eichsfeld aufzeigen:
1. Das Scheitern der Justiz
Die wichtigste Folge des Vorfalls war das vollständige Versagen der kurmainzischen Justiz, den Täter zu ermitteln und zu bestrafen.
- Ergebnislose Inquisition: Trotz der inständigen Supplikationen des Vaters Heinrich an den Kurfürsten selbst und an das Oberamt Heiligenstadt wurde die angeordnete Inquisition (Untersuchung) als "parteiisch" und unzureichend kritisiert. Die eidliche Vernehmung der Wächter von Bartloff, die den entscheidenden Schuss abgegeben haben könnten, wurde nicht durchgeführt oder unterdrückt.
- Keine Ahndung: Bis zum Schluss des in den Akten dokumentierten Zeitraums (Anfang 1618) war der eigentliche Schütze – ob Christoph v. Harstall oder einer der Wächter/Bauern – nicht ermittelt und niemand zur Rechenschaft gezogen. Die Behörden verwiesen auf die angebliche „Unbrauchbarkeit“ der Herausgabe der Akten (acta inquisitionis).
- Bureaukratische Verschleppung: Die lokalen kurfürstlichen Beamten (Vogt von Bischofstein, Oberamtsverweser) verzögerten die Herausgabe von Heidenreichs Hab und Gut (Pferd, Degen, Pistolen) und forderten stattdessen vom Vater die Zahlung der Wach- und Futterkosten für die Leiche und das Pferd.
2. Die persönliche und familiäre Tragödie
Der Kampf um die Wahrheit forderte von der Familie Hanstein einen hohen persönlichen Preis.
- Der Kummer des Vaters: Die Akten zeigen die tiefe Verzweiflung des Vaters, Heinrich v. H., der den Tod seines Sohnes als „Mordthat“ betrachtete. Der Text vermerkt explizit, dass Heinrich den Kummer über den ungesühnten Tod seines Ältesten nicht lange überlebte und bereits 1621 verstarb.
- Eine Lehre für den evangelischen Adel: Der Vorfall wurde in der Region als drastische Lektion für die jungen evangelischen Adligen aufgefasst. Der Text konstatiert abschließend, dass das Geschehen den Junkern die Augen über die feindliche Stimmung des katholischen Volks (und der Beamten) gegen den protestantischen Adel des Eichsfelds öffnete.
Der Fall des Heidenreich von Hanstein endete demnach als Justizskandal, bei dem die kurfürstliche Verwaltung angesichts des konfessionell aufgeladenen Tumults letztlich kein Interesse an einer objektiven Aufklärung zeigte und den Vorfall bis zu seiner Aktenlage de facto ungesühnt ließ.