Die Letzten vom Kloster Zella (1956)
Stille Weihnachtszeit. Engelflügel rauschen leise über weite, weiße Taler. Glöcklein läuten in den Dörfern vor Mitternacht. Weihnacht 1847. Die alten Klostergebäude von Kloster Zella sind tief verschneit. Nur in einem Seitenflügel glüht noch rötlich Kerzenschein durch die Butzenscheiben der kleinen Zelle. In einem altersschwachen, wurmzerfressenen Lehnstuhl kauert eine Gestalt im schwarzen Benediktinergewande, in den Händen das Brevier mit bunten Initialen. Ist es Mensch, Schatten oder Geist aus alter Vorzeit? Doch die Augen leben, tiefliegende, dunkle Augen, die über Buch und Wände weit weg in die Vergangenheit tasten. Die Lippen, dünn und fleischlos, bewegen sich im Flüsterhauche. „Gott, wie hast Du uns heimgesucht! Deine Gerichte walteten über uns und zerstörten unsere Gemeinschaft. Vertrieben die Dienerinnen des Heiligtums, das Chorgebet verhallt! 44 Jahre währt schon dieses Dasein, seitdem die letzte Nokturn der Nonnen Weihnacht 1803 gehalten wurde! Doch Dein Wille geschehe!“
Einen Augenblick hält er im Selbstgespräch inne. Zu schmerzlich packt ihn die Erinnerung. Plötzlich ermannt er sich zu einem Entschluusse. „Bruder Gottfried!“ Hohl klingt der Ruf zur Nebenkammer hinüber. Dort haust der alte Franziskanerbruder Gottfried, der ihm zur Pflege geblieben ist.
„Ich komme, Herr Propst!“, hallt es ebenso hohl zurück. Gebeugt von der Fülle der Jahre, im braunen Ordensgewande, humpelt er an einem Stocke herbei, alt und gebrechlich, Runzeln im gelblichen, hageren Gesichte. „Sie wünschen, Herr Propst“?
„Wir müssen Weihnacht feiern, Bruder. Es ist gleich Mitternacht. Sacrificatc sacrifieium justitiae! Bringet das Opfer der Gerechtigkeit dar!“
„Jetzt in die Kirche?“, entsetzt sich der Laienbruder. „Sie mit ihren 96 Jahren jetzt Messe lesen?“ Er hebt beschwörend die zitternden Greisenhände empor. „Es wäre Ihr Tod, Herr Propst!“
„Ich will!“ Mühsam und zitternd erhebt er sich. Bruder Gottfried kennt noch klösterlichen Gehorsam. Stumm holt er den Mantel und breitet ihn seinem Herrn um die Schultern. Dann richtet er Laternen, Hostie, Messwein und Wasser zurecht und stützt den Propst, so gut er kann.
So humpeln die beiden Alten durch den Schnee zur Kirche. Drinnen ist es kalt und unwirtlich. Der Altar ist staubig. Spinngewebe hängen, schmutzigen Vorhängen gleich, an Bänken, Wänden und Fenstern. Bruder Gottfried geleitet den Propst zu einem steinernen Sitz in der Mauer. Dort hatten ehedem Fürsten und Erzbischöfe gesessen und dem Chorgesang der Benediktinerinnen gelauscht, wenn er das Hochamt zelebrierte. Das ist nun alles vorüber! – Kerzen flammen auf. Zittrig, wie sie Bruder Gottfried ins Leben rief, so flackern sie weiter. Die Lade, die der Holzwurm bald zermülmt haben wird, gibt das letzte, ehemals weiße, nun vergilbte Messgewand her, an dem auch der Goldbrokat der Kreuzesform zerbröckelt ist und teilweise schon in Fetzen herabhängt. Ein schmerzlicher Seufzer! Dann wimmert ein Glöcklein ein paar abgebrochene Laute ohne Klang. Die Seele ist ihm zerbrochen, seit der Steinwurf eines rohen Buben es zu hart traf. Kraftlos entsinkt dem Bruder der Strick.
Die Messe beginnt. Die beiden Schemen da vorn am Altar sind die einzigen lebenden Überbleibsel vergangener Jahrhunderte. Dumpf dringt das Staffelgebet durch die Hallen. Aus allen Ecken und Winkeln scheint es zu antworten. Vor der Wandlung muss der Propst erst ein wenig ruhen. 96 Jahre und die Kälte! Nachher geht es langsam weiter. Wie die Postkommunion vorüber ist, wendet sich Propst Sander nach der unsichtbaren Gemeinde um. Wie in Ekstase leuchten seine Augen, weit, weit in überirdische Fernen schaut er. Und dann hebt sich die eingefallene Brust, die Schultern zucken, und mit dem Aufgebot der letzten Kraft singt er mit dünner Stimme das letzte feierliche „Ite, missa est! – Gehet, es ist Entlassung!“ Die letzte Messe! Segnet mit schwacher, fiebernder Hand den Bruder und bricht zusammen. Da liegt er, den Kopf erhöht auf den Altarstufen, den brechenden Blick nach oben gerichtet. Leise flüstern die blassen Lippen: „In manus tues commendo spiritum meum, redemisti me, Deus vertatis! In Deine Hände befehle ich meinen Geist, Du hast mich erlöst, o Gott der Wahrheit!“ Und zum dienenden Bruder gewandt, sagte er: „Lass mich hier sterben! Geh, läute die Sterbeglocke!“
Bruder Gottfried wankt zum Glockentau. Die Finger sind steif, der Arm ist schwach. Das Weinen schüttelt ihn, und so schüttelt er das Glöcklein da oben. –
Mittlerweile ist der Propst sanft entschlafen. Der getreue Bruder drückt ihm weinend die Augen zu, kauert bei der Leiche nieder und betet Totenpsalmen, so gut sie ihm sein schwacher Geist noch wachruft und es die rollenden Tränen gestatten, eine Stunde, zwei, drei – –
Dann wird‘s allmählich still in der Kirche. Die Lichter verlöschen nacheinander. Nur eines noch schwalcht und flackert und beleuchtet gespenstisch zwei Tote: Den letzten Propst von Kloster Zella und den getreuen Bruder Gottfried.
Johannes Feldmann
(Quelle: „Eichsfelder Heimatborn“, Ausgabe vom 07.01.1956)