Die „Kanonenbahn“ als lebenswichtige Verkehrsader (1941)
Sie führt durch landschaftlich sehr schöne Gebiete des Eichsfeldes
Hat auch im Westerwalde der letzte Schnee sich in die Schluchten zurückgezogen und kann der Wanderer, der ihm lange Monate fernbleiben mußte, seine Lieblingsplätze wieder aufsuchen, so sehen die Waldarbeiter ab und zu außer dem Förster ein menschliches Wesen hier oben, das nach den ersten Frühlingskindern ausschaut. Das übriggebliebene Wild feiert in seiner Art die Veränderung in der Natur. Bussarde umkreisen ihren alten Horst. Füchse bellen unter der Thomasbrücke. Und von Zeit zu Zeit ist der Wald vom dumpfen Rollen der „Kanonenbahn" erfüllt, die in die nahen Tunnel einfährt, sie nach einiger Zeit verläßt und bald wieder unter der Erde davonfährt. Wer gerade auf der Südostnase über dem Küllstedter Grunde steht, wenn das Bähnchen den Wald durcheilt und am Effelderschen Bahnhof verschnauft, hat wohl Muße, das sonnenbeschienene schöne Dorfbild auf der gegenüberliegenden Höhe zu genießen und sich auch mit der Bahn sinnend zu beschäftigen.
Es leben unter den knorrigen Eichen der Höhenbewohner noch manche, die sich an die Zeit erinnern können, in der an einen Bahnbau durch dieses schwierige Gelände niemand glaubte, dann aber das Wunder doch geschah. Es war im Februar 1875, als die Vorarbeiten begannen. Material wurde herangeschafft, alles mit Fuhrwerk. Pferdegespanne und auch Ochsen wurden verwandt. Italiener, Galizier und Kroaten hielten ihren Einzug in die an der abgesteckten Linie gelegenen Dörfer. Bewegung kam in das ruhige Leben. Weil diese Arbeiter oft zechten, blieben auch unliebsame Zwischenfälle nicht aus. Mehr als einmal kam es zu Schlägereien und Blutvergießen, so daß auch die Gendarmen selten Ruhe hatten.
Gewaltige Erdmassen mußten mit den einfachen Werkzeugen der damaligen Zeit, mit Hacke und Schippe losgemacht werden. Bagger und Trecker kannte man noch nicht. Selbstverständlich waren die Erdarbeiten in verschiedenen Losen vergeben worden, so daß an dem hohen Einschnitt unterhalb des Bahnhofes Silberhausen und den nötigen Dämmen gleichzeitig gearbeitet wurde. Auch die fünf Tunnels wurden gleichzeitig in Angriff genommen. Man ging von beiden Richtungen in die Berge. Im Muschelkalk mußten immer besondere Vorsichtsmaßnahmen angewandt werden, um einen Einsturz zu verhindern. Der zwölfhundert Meter lange Schwebdaer Tunnel wurde dennoch einmal der Schauplatz einer aufgeregten Szene. Auch hier arbeiteten sich die Leute von beiden Seiten vor. Eines Tages wurden in der Schwebdaer Hälfte Arbeiter und Pferde verschüttet. Die Leute konnten sich schließlich durch einen entstandenen Spalt retten. Den Pferden war aber nicht beizukommen. Aufgeben wollte man sie nicht. Deshalb wurde ihnen solange Futter und Wasser durch den Spalt gebracht, bis Hacke und Schippe auch sie befreiten. Die Tiere waren anfangs natürlich sehr scheu und ängstlich; sie schlugen schon aus, wenn sich in ihrer Nähe etwas regte. Die Tunnels (besonders der Küllstedter) haben später infolge unausbleiblicher Wetterschäden oft erhebliche Reparaturkosten erfordert.
Schwer war es, das Friedatal bei Lengenfeld zu überqueren. Ohne eine große Schleife war es nicht möglich. Man dachte sogar daran, bis Faulungen heranzugehen. Dreimal wurde gemessen, dreimal abgesteckt. Schließlich entschlossen sich die Ingenieure zum Brückenbau über das Dorf. Zu den hohen Brücken bei Kefferhausen, Büttstedt und Frieda kam die noch größere Lengenfelder. Diese wenigen Angaben lassen schon ahnen, wieviel Arbeit der Bahnbau nötig machte. Allein an dem Damm östlich und westlich der Friedaer Brücke wurde vier Jahre rastlos geschafft. Arbeiter und Gespanne verdienten mehr als in damaliger Zeit auf dem Eichsfeld üblich war. Für ein Pferdegespann gab es täglich 17 Mark. Manche Landwirte haben sich in dieser Zeit „gemacht". Doch nicht allen gereichte der neue Wohlstand zum Vorteil.
Mancherlei Geschichtchen aus der Zeit des Bahnbaus haben sich in der Überlieferung erhalten. Vor allem war es nicht ausgemacht, daß die älteren Leute vom Tage der Übernahme der neuen Linie in den Verkehr (15. Mai 1880) die Züge auch benutzten. Das Fahren durch die Erde, über die hohen Brücken und Dämme schien ihnen doch recht gefährlich zu sein. Sie warteten deshalb ab und gingen weiter zu Fuß oder bedienten sich, wenn sie nach Heiligenstadt und Dingelstädt reisen mußten, lieber des erprobten Rollwagens. Erst allmählich gewannen auch sie Vertrauen. Der Bahnbau hat siebzehn Millionen Mark gekostet und sich nicht gerade rentabel erwiesen. Aber hierauf kam es auch gar nicht an. Die Linie wurde von den andern mit „durchgezogen". Sie hatte ja nicht nur wirtschaftlichen Interessen zu dienen. Ihr Name verrät dies schon. In Zeiten großer Anspannung hat sie die Hauptstrecken immer sehr entlastet.
Der Reisende, der die Kanonenbahn häufiger benutzt, achtete vielleicht nicht mehr auf die Schönheiten, die sich rechts und links auftun. Jener aber, der selten Gelegenheit hat, diese abwechslungsreiche Linie zu befahren, ist immer von neuem entzückt. Besonders reizvoll ist das Stück Westerwald und Grund. Auch die Fahrt um den Bischofstein, über Lengenfeld, Geismar, Großtöpfer und Schwebda bietet dem Auge viel. Dem Heimatfreunde ist und bleibt die Kanonenbahn ein Idyll.
Autor: V.
(Quelle: „Eichsfelder Heimatbote“, Ausgabe vom 3. Mai 1941)