Walter Bondy: Schloss Bischofstein im 1. Weltkrieg (1915)

Ich bin wieder daheim, wieder in Deutschland! Die meist traurigen Kriegserlebnisse verlieren ihre Schärfe, ihre Lebendigkeit. Die Freude der Heimkehr machte mich frisch und frei. Wie einen schönen Traum empfinde ich das friedliche Leben in Deutschland, doch wirklich nur traumhaft, denn später, als ich aufwachte aus dem ersten Freudenrausche, erschien mir dieser Frieden oft als Gleichgültigkeit. Es schien mir fast, als ob manche der Daheimgebliebenen zu wenig empfunden hatten von der Schwere und den Schrecken des Krieges.

Mit solch drückenden Empfindungen kam ich nach Bischofstein.

Auch hier herrschte Frieden und Ruhe. Aber diese Ruhe entspringt nicht dem Gefühle der Gleichgültigkeit. Nein, hier pulsiert ein Leben und Arbeiten, wie man es sich frischer und stärker kaum denken kann. – Der Krieg hat den Jungen in Bischofstein keine neuen Pflichten gebracht, höchstens verstärkt die Pflicht, die jeder Mensch auch sonst hat, sich gesund und stark zu machen. Denn manch einer von denen, die jetzt noch vergnügt ans der Schulbank sitzen, werden in kurzer Zeit als Soldaten draußen kämpfen.

Die Erwachsenen spüren hier natürlich schon mehr vom Kriege, allein schon dadurch, dass sie mehr als früher zu tun haben. Im Allgemeinen hat der einzelne Lehrer mehr Stunden zu geben; dagegen ist ihm übrigens die Arbeit der Wochenaufsicht sehr erleichtert, da ein eigens hierfür angestellter Kandidat die Arbeitsstunde übernommen hat, und die älteren Schüler mit zum Aufsichtsdienst herangezogen werden.

Es mag auch recht schwer sein, bei dem wenigen Brot, bei dem Mangel an einigen Lebensmitteln und der allgemeinen Teuerung ein gesundes Essen zu schaffen. Aber auch das hat man hier fertig gebracht, und die wunderlichsten Phantasiespeisen, die übrigens sehr gut schmecken, bekommt man hier zu essen.

Es hat sich seit Kriegsausbruch mancherlei in Bischofstein verändert. Fast alle großen Schüler haben sich im August 1914 als Kriegsfreiwillige gemeldet. Diejenigen, die ihr Notexamen noch nicht machen konnten, traten dann im Laufe des Jahres in das Heer ein.

Trotz dieses ungewohnten Abgangs ist die Zahl der Schüler nicht nur gleich geblieben, sondern hat sich noch vermehrt. Es sind jetzt fast achtzig Jungen hier. Natürlicherweise fand eine große Verjüngung der Schüler statt. Es gibt hier jetzt ganz kleine Knirpse, drei Vorschüler und eine große Sexta und Quinta. Selbstverständlich hat sich dadurch auch viel im Leben Bischofsteins geändert. Die Hausordnung wurde für die Kleinen umgearbeitet, und in mancher Beziehung wurde der ganze Betrieb strenger. Man sieht manchmal Bilder, die man früher nicht kannte: Kleine, die an den Rockschößen ihrer Lehrer oder an den Schürzen der Damen hängen; Jungens, die mit Dominosteinen große Bauten aufführen und Kinder, die, auf dem Teppich verstreut, mit großen Augen und wortlosem Erstaunen den Märchen zuhören, die ihnen vorgelesen werden. Noch lebendiger ist es dadurch in Bischofstein geworden.

Die kleinen Kerle haben weniger zu arbeiten, sie haben noch mehr Zeit zum Spielen und Herumtollen. Natürlicherweise geben sich besonders die Damen viel mit den Allerkleinsten ab. Wenn ihnen Fräulein Vowinkel nicht vorliest, so kommen sie bei Fräulein Stahl zusammen, um Laubsägearbeiten zu machen, oder sie gehen zu Fräulein Ackermann, um dort Buchbinden und anderes zu lernen. Das Einbandpapier hierzu wird von Fräulein Stahl hergestellt, und böse Zungen behaupten, dass Fräulein Stahl die Motive dafür den neuen Kriegsspeisen entnimmt, besonders den Äpfeln mit Meerrettich.

Was mich am meisten in Bischofstein freute, waren die Großen. Ich kenne sie alle seit vielen Jahren, und es fiel mir auf, wie stark sie sich alle – nicht nur in körperlicher Beziehung – im letzten Jahre entwickelt haben. Der Verkehr mit diesen großen Jungen war mir eine tiefe Freude. Wie selten kann man sonst bei 15- bis 17-jährigen Menschen eine naive Fröhlichkeit und Natürlichkeit finden! – Man mag an Bischofstein herumnörgeln und kritisieren, wie man will. Das ist negatives Tun! An den Erfolgen kann man ein Werk erkennen, und dieser positive Erfolg müsste allen eine genügende Antwort sein.

Auch in Einzelheiten zeigte sich in Bischofstein reges Leben. In der Werkstatt wird viel für Weihnachten gearbeitet, teilweise werden auch Schlitten gebaut und andere Dinge verfertigt. Es geht da sehr geregelt zu, und durch die größere Ordnung ist auch ein besseres Arbeiten möglich. Jeder Junge muss wöchentlich zwei Stunden tischlern, und wie in früheren Jahren bekommen sie vom Tischler regelrechten Unterricht.

Ebenfalls der Theaterverein und der Tennisverein scheinen, nach den Berichten der Chronik, Tüchtiges geleistet zu haben.

Gerade jetzt beginnt wieder der Wintersport. Es friert schon, aber es fehlt noch an ordentlichem Schnee. Trotzdem wird schon viel gerodelt, und ich sah schon den ersten Verwundeten, der am Wege zum Stein mit einem Amerikaner in voller Fahrt in einen Dornbusch sauste.

Obwohl augenblicklich kein Musiklehrer da ist – in einigen Tagen soll vielleicht wieder einer kommen – wurde doch fleißig musiziert. Es wurde oft geübt, und am Sonntagabend wurden Orchesterstücke und Trios vorgespielt.

An einem Abend der Woche wurden Volkslieder – jetzt meistens Soldatenlieder – gesungen, und mit Begleitung von Klavier und zwei Geigen gab es ein fröhliches Singen. Auch Geige und Klavierduos, sowie Geige und Gitarrespiel konnte man hin und wieder hören. Leider ist unter den Schülern keiner, der wirklich gut Klavier spielt, dagegen haben die Geigen- und Cellospieler sichtbare Fortschritte gemacht.

Die Zeichenstunden werden jetzt von Fräulein Stahl gegeben, und dass die Zeichner Hübsches leisten, wird hoffentlich die Chronik beweisen. Es haben sich an den Arbeiten für diese Chronik auch mehr Schüler beteiligt als sonst, und gerade die Zeichner waren mit großem Interesse dabei. –

Die Untersekundaner sind natürlich, wie immer, sehr stark von der Schule in Anspruch genommen. Im Englischen arbeiten sie übrigens schon nach den Korrekturbogen des Übungsbuches von Herrn Doktor. Dieser dritte und letzte Teil des Werkes wird um Weihnachten erscheinen. In diesem Jahre ist für viele der Untersekundaner das bevorstehende Examen noch bedeutender und wichtiger geworden, weil sie gleich danach ins Heer eintreten wollen. Wie begeistert und staunend hören sie alle zu, wenn man ihnen von den Erlebnissen im Felde berichtet; ich glaube, es tut allen leid, dass sie noch nicht alt genug sind, um auch mit hinausziehen zu können.

Selbstverständlich ist ebenfalls die Mehrzahl der Lehrer eingezogen worden, und außer Herrn Pfarrer Blaskowitz, Herrn Dr. Eigenbrodt und Herrn Kreul waren mir alle Herren unbekannt. Unter den Lehrern bemerkte ich die größte Veränderung. Während früher so viel treue Arbeit durch Kritik zersetzt und durch Entgegenarbeiten entwertet wurde, herrscht jetzt unter allen eine so schöne Harmonie wie noch nie. Es schien mir, als ob die Arbeit an der Schule einheitlicher, fröhlicher und dadurch wirksamer geworden sei. Auch äußerlich zeigt sich diese tiefgehende, für die Entwicklung Bischofsteins sehr wichtige Veränderung. Im Lehrerzimmer ist es abends recht gemütlich geworden, und einmal wöchentlich versammeln sich die Lehrer im Bahnhofshotel zum Kegelspiel, während zu gleicher Zeit in Bischofstein ein Damenabend stattfindet.

Dieser Geist der Einheitlichkeit hat sich auch auf die Schüler übertragen, die früher oft unter dem Zwiespalt der Erwachsenen litten. Freier und fröhlicher ist die Stimmung der ganzen Schule geworden, positiver und fruchtbarer die Arbeit, die jetzt hier geleistet wird.

Glückliche und frohe Stunden habe ich hier erlebt. Voll Zuversicht und Lebensfreude reise ich wieder von Bischofstein ab.

Walter Bondy, Lehrer auf Schloss Bischofstein
(Quelle: 1915 - 3. Jahrgang, 3+4. Heft, 4. Jahrgang, 1. Heft, Sommer – Herbst – Winter, S. 9 – 12)