Jürgen Mahrenholz: Traueransprache zum Tod von Wilhelm Ripke (1965)

2. Kor 8,9: Denn ihr wisset, die Gnade unseres Herrn Jesu Christ, dass, ob er wohl reich ist, ward‘ er doch arm um euretwillen, auf dass ihr durch seine Armut reich würdet.

1. Kor. 13, 9+12+13 Unser Wissen ist Stückwerk. Jetzt erkenne ich’s stückweise; dann aber werde ich erkennen, gleichwie ich erkannt bin. Nun aber bleibet Glaube, Liebe, Hoffnung, diese drei; aber die Liebe ist die größte unter ihnen.

Liebe Trauergemeinde!

Ein altes Sprichwort lautet: „Wissen ist Macht”. Wir haben keinen Anlass, die Wahrheit dieses Spruches in Zweifel zu ziehen. Wer hier in der Welt etwas bestellen will, der muss über ein ausreichendes Wissen verfügen, der muss in seinem Bereich genügende Kenntnisse und Fähigkeiten vorweisen, die ihn in den Stand setzen, seine irdische Existenz zu sichern. Auch er, unser lieber Rpk. hatte Gelegenheit, diesen Spruch „Wissen ist Macht“ nicht nur in seinem Beruf anzuwenden, sondern sein umfassendes, profundes Wissen an andere Menschen weiterzugeben, zu vermitteln, nicht nur in unserem geliebten Bischofstein, sondern auch außerhalb desselben durch einen regen geistigen Gedankenaustausch. Seine Briefe, seine Chronik waren von einem Wissen durchzogen, das phänomenal genannt zu werden verdient. Die Gewalt seiner sprachlichen Formulierungen, sein funkelnder Stil, seine brillante Diktion und Geistigkeit haben uns alle in den Bann geschlagen und gefesselt, bereichert und beglückt sowie das Lesen der Chronik zu einem seltenen Genuss gemacht.

Aber, liebe Trauergemeinde, dieses Wissen, über das ich verfügen kann, das ich parat habe und zu lehren vermag, kann nicht das einzige Wissen sein, das unser Leben lebenswert macht. Er selber, unser lieber Entschlafener, wusste, dass die Kenntnis der Materie, des Stoffes, den es zu behandeln gilt, nicht, ausreicht, sondern dass im Wesentlichen die Kenntnis des Menschen als solchen treten muss, eine Gabe, die Rpk in hohem Maße ausgezeichnet hat. Wir, seine Schüler, die wir ihm unendlich viel verdanken, die vielfach erst durch ihn das geworden sind, was sie sind, bezeugen es ihm heute, dass er stets darauf geachtet und es selber vorgelebt hat, nämlich, dass erst eine verständnisvolle Begegnung mit dem Menschen selbst das wahre, echte Menschsein ermöglicht. Sein pädagogischer Grundsatz war das „Werde, der du bist“, „verwirkliche, was in dir entworfen“, komme zu dir selbst, finde dich. Nur unter diesem Aspekt werden wir der Güte und Lauterkeit seines Herzens, dem Adel seines Wesens, der Vornehmheit seines Charakters und der menschlichen Wärme gerecht, die aus ihm und aus seinem Umgang mit dem ihm anvertrauten Menschen sprachen, für jeden Vorbild und Ansporn.

Das Verdienst des Verstorbenen besteht darin, erkannt zu haben, dass nicht allein das Beherrschen, die Bewältigung und Anwendung des Lehrstoffes das Entscheidende für den Menschen ist, sondern das Verständnis für den anderen Menschen in dessen Lage, und sei sie noch so notvoll und bedrohend. Rpk betrachtete es als seine vornehmste Aufgabe, gerade in einer solchen Lage, seinen Schülern hilfreich zur Seite zu stehen. Wir wissen alle, dass dieses leidenschaftliche Engagement die Ursache, das auslösende Moment für die wohl schwerste Enttäuschung seines Lebens gewesen ist, seine Verbannung von Bischofstein im Jahre 1940/41. Aber alle großen Männer haben den Mut zur Eigenpersönlichkeit mit der Preisgabe ihrer selbst bezahlen müssen; doch mehr gerade diejenigen, die nicht Opportunisten, sondern Nonkonformisten waren, haben die Geschichte um ein entscheidendes Stück weitergebracht, nachzulesen in dem Buch von Kennedy „Zivilcourage”.

Für die Leidenschaftlichkeit dieses Wissens um den Menschen, der auch dafür zu leiden bereit ist, für diesen seinen Dienst ihm, Rpk, unseren lebenslangen Dank auszusprechen, gibt diese Abschiedsstunde allen Anlass. Was wären wir, die wir heute wie eine große Familie um ihr Familienhaupt versammelt sind, ohne ihn und ohne den mit ihm untrennbar verbundenen und verflochtenen Namen Bischofstein. Daneben tritt ein anderes Wissen, das nicht verfügbar und erlernbar, sondern nur erfahrbar ist: das Wissen um die schenkende und sich hingebende Liebe eines anderen Menschen. Das Wesen dieses Wissens gründet sich nicht auf Kenntnisse und Fähigkeiten, sondern auf das Personsein des Menschen, d. h. in diesem Wissen schenke ich mich selbst dem vertrauten Menschen, gebe mich ihm zu eigen. Hier ist der Name des Menschen einzusetzen, mit dem unser Entschlafener von 1923 bis 1954 in glücklicher Harmonie gelebt hat: unsere Frau Doktor, an deren Seite unser Entschlafener in wenigen Tagen beigesetzt werden wird, jenseits der Grenze, die sich für einen wahrscheinlich verheißungsvollen Neubeginn nach dem Ende des 2. Weltkrieges als todbringend erwies und Rpk, wie immer wieder aus seinen Rundbriefen ersichtlich wurde, in eine grenzenlose Einsamkeit und Isolierung führte.

Die Triebfeder des häuslichen Glückes war das Wissen einer Macht, die nicht nur stark ist, sondern in den Menschen, die Liebe geben und empfangen, geborgen ist, ja die eine Macht ist, für die es sich wagenden Mut einzusetzen lohnt. Dies Wissen, das auch wir erfahren haben, hat uns und ihn reich gemacht und sein Leben ausgefüllt.

Alles, was wir uns bislang klargemacht haben, lässt sich auf den Nenner bringen: er war ein Mensch von hohem und edlem Verantwortungsbewusstsein! Dieses Bewusstsein, dieses Wissen um den Menschen, um das, was ihm nottut, was ihn im Leben weiterbringt, hat unseren Entschlafenen veranlasst, niemals einfache Fünfe gerade sein zu lassen, sondern sich in seiner innersten Tiefe an eine Macht gebunden zu fühlen und verwurzelt zu sehen, über die er gemäß seinem Wesenszug kaum mit anderen, sondern letztlich nur mit sich selbst gesprochen hat. An seiner Stelle sagt es uns der Apostel: „Denn ihr wisset die Gnade unseres Herrn Jesu Christi”. Da nämlich, wo es mit allem bislang aufgezählten und genannten Wissen zu Ende ist, ja mitten im Leben zu Ende kommt, wo alle Kenntnisse und Erfahrungen einem Menschen nichts mehr nützen können, da tritt die Erinnerung, dass es ein Wissen gibt, das jenseits des menschlichen Bereiches liegt, das Rpk und uns alle, die wir um ihn Leid tragen, fest umschlungen hält.

Ganz gleich, welche Erschütterungen über die Welt oder über unser Leben hinwegbrausen werden: Christus ist hier, durch den wir als Menschen gewusst, erkannt werden, die Gott liebt. Die „Krankheit zum Tode” (Kierkegaard) begann für unseren Entschlafenen am Aschermittwoch, dem Beginn der Passionszeit, in der wir des Leidens Christi gedenken. Wenn diese Zeit einen Sinn haben soll, dann doch nur den, dass der am Kreuz zerbrochene und von Gott erhöhte Mensch sich solidarisch mit den Menschen erklärt, die gleichfalls die Gebrochenheit ihrer Existenz erfahren haben, dass also die Verheißung denen gilt, die, wie Christus, unter den Erschütterungen dieses Lebens zu leiden haben, oder gar zerbrechen. Die Solidarität Gottes mit den Menschen, sein Eingehen in die herbe, brutale Wirklichkeit des Daseins, wie sie unser Entschlafener erlebt hat, kennzeichnet unseren Text: „Ob Christus wohl reich ist, ward er doch arm um unseretwillen, auf dass wir durch seine Armut reich würden!”

Gott bindet in Christus sein Schicksal an unser Schicksal, holt uns da ab, wo wir stehen oder gar gebunden sind, nicht, wo wir stehen sollen. D.h. weiterhin, dass die Gottesgemeinschaft auf der Basis unserer Einsamkeit, unseres Scheiterns, der Verzweiflung und Angst erfolgt, ja der verzehrenden Unruhe und Unrast des Lebens, des ständigen Hin- und Hergeworfenseins, dass Gott dasselbe mitgemacht und ertragen hat wie wir, jene hohen Freuden und Traurigkeiten, von denen die Todesanzeige unseres Entschlafenen spricht, so dass es nun zwischen Gott dem Herrn und uns zu einem echten und tiefen Verstehen und Wissen kommen kann, und wir uns inmitten einer grenzenlosen Einsamkeit in einer grenzenlosen Geborgenheit befinden. Der Mensch ist im Leben und im Tode völlig umschlossen und eingehüllt von einer Liebe, die uns aus einem armseligen Kreuz entgegenleuchtet und die uns mit ihren österlichen Strahlen einen Reichtum gibt, der unser Leben auch in seiner Todesbedrohung erst recht lebens- und liebenswert macht und die anzeigt, dass das Wissen um diese Liebe, die uns und unser Menschsein einzig bestimmende Macht ist. „Wissen ist Macht”. Ihr wisset die Gnade, das Erbarmen Jesu Christi.

Rpk schrieb mir einmal, darauf angesprochen: Subjektiv könnte er mich verstehen, er würde viel darum geben, von dieser Auffassung durchdrungen zu sein, in einem Lichte zu stehen, das in diese Nacht der Einsamkeit und Abkapselung hineinragt und sie erhellt, objektiv könnte er sich dazu nicht durchringen; noch müsste er von seiner Sicht aus ein „sacrificium intellectus” bringen. – So war er, wahrhaftig und treu gegen sich selbst, schonungslos und da leidenschaftslos gegen sich selbst, er machte sich selbst und anderen nichts vor. Und darum haben wir ihn so glühend geliebt. Selbst in der nationalsozialistischen Ära, ja selbst während des 2. Weltkrieges bis zu jener von mir schon erwähnten Verbannung 1940 sprach er mittags und abends vor allen Schülern und Lehrern das stereotype und doch eindrückliche Tischgebet: „Danket dem Herrn, denn er ist freundlich und seine Güte währet ewiglich, Amen”.

Da er ein Feind jeder leeren Floskel war, ist dies als ein Stück seines Bekenntnisses zu werten, das damals, als man die Religion auf die private Sphäre zurückschraubte, wirklich etwas bedeutete und Mut erforderte. Das, was er Tag für Tag in Bischofstein ausgesprochen hat, soll nun auch das Letzte sein: Die Güte währet ewiglich, d. h. doch, sie geht über den Tod hinaus. Habe ich jetzt nur andeutend und längst nicht ausschöpfend des Lebenswerkes Dr. Ripke im Lichte christlichen Glaubens gedacht, so sei mir zum Schluss ausblickend und ausladend ein Wort zum Schicksal Bischofsteins vergönnt. Rpk hatte nach seiner Umsiedlung in den Westen in der danach geschriebenen Chronik eine Geschichte erzählt, mit der er sich selbst über den Verlust Bischofsteins hinwegsetzen wollte, die in dem Wissen gipfelte, dass nur der, der wegwirft, das Auf- und Preisgegebene in einer echten und tiefen Weise wiedergewinnt. Beim Lesen dieser Geschichte trat mir das Gedicht seines großen baltischen Landmanns Werner Bergengruen vor Augen:

Was dem Herzen sich verwehrte,
Lass es schwinden unentwegt!
Allenthalben das Entbehrte
Wird uns heimlich zugelegt.
Liebt doch Gott die leeren Hände,
Und der Mangel wird Gewinn.
Immerdar enthüllt das Ende
Sich als strahlender Beginn.
Jeder Schmerz entlässt dich reicher,
Preise die geweihte Not.

Wir geben uns keinen trügerischen Illusionen hin: Das Kapitel Bischofstein, wie wir es kennen und liebgewonnen haben, wird heute unwiderruflich zugeschlagen. Aber genauso wie Bischofstein vor fast 220 Jahren vom Kurfürsten und Erzbischof von Mainz zu einem bestimmten, geistlichen oder fürstlichen Zweck errichtet worden ist an der Grenze seines Landes (Kurfürstentum), dann 1803 beim Reichsdeputationshauptschluss säkularisiert, entblößt und entfremdet worden ist, um 1908 eine neue, reichere und tiefe Aufgabe zu erhalten, so möge unser geliebtes Bischofstein, das augenblicklich – durch die 5-km-Sperrzone – ein Schatten seiner selbst und entleert ist, irgendwann einmal einer Funktion zugeführt werden, die, wie ehedem, Menschen prägt und beglückt. Wie unser Bischofsteiner Abzeichen mit dem kurmainzischen Wagenrad an den Ursprung dieses Kleinods erinnerte, so möge in hoffentlich nicht allzu fernen Jahren diese Tradition, in gewiss veränderten Strukturen und unter gewandelten Zeichen, fortgeführt werden und Bischofstein mit Licht, Liebe und Leben erfüllen.

In diesem Sinne grüßen wir mit den Worten Ripkes das unentschwindbar Verschwundene, das unverlierbar Verlorene, das unvergänglich Vergangene. Wir grüßen das Symbol unserer Grenzsituation, das Symbol, dass unser Leben auf dem schmalen Grat von Hoffnung und Bangen, Zeit und Ewigkeit verläuft. Möge einst ein neues Kapitel aufgeschlagen werden, möge Gott der Herr die Zerrissenheiten heilen, unter denen Bischofstein vegetiert. Möge die ursprünglich von Rpk bestimmte Grabinschrift Erfüllung finden: „Alles Getrennte findet sich wieder!“ Wir aber wollen an der Bahre dieses Mannes mit einem erfüllten Leben und einem weiten Herzen das Bekenntnis des großen Philosophen und Theologen Augustin ins Gedächtnis zurückrufen, der gesagt hat: „Wir wollen nicht trauern, dass wir ihn verloren haben, sondern dankbar dafür sein, dass wir ihn gehabt haben, ja auch jetzt noch besitzen; denn wer heimkehrt zum Herrn, bleibt ja in der Familie Gottes und ist nur vorausgegangen”.

Jürgen Mahrenholz
(Quelle: „Bischofsteiner Rundschreiben", Weihnachten 1995, S. 3-5)