Quetschenkuchen (1970)

Nie wieder hat mir der Quetschenkuchen so gut geschmeckt wie in Bischofstein. Mag sein, dass die Geschmacksorgien zwischen dem morgendlichen spelzenreichen Haferbrei und dem abschließenden Quarkbrot am Abend weniger differenziert waren wie in heutigen Tagen. Jedenfalls ist mir der Spätherbstabend unvergessen, an dem wir uns richtig in den Quetschenkuchen hineinknien konnten, und ich empfinde heute noch den köstlichen Geschmack eines bis zur höchsten Fassungsstufe eines Jungenkiefers hoch gewölbten Gebäcks, durchdrungen vom Saft der in der Sonnenglut des „Kuhpalais“ voll ausgereiften blauen Früchte.

Der Transport dieses Quetschenkuchens vollzog sich in traditionellen Formen. Mittags fuhr der Ochsenwagen die Säcke voll Weizenmehl, die großen Weidekörbe voll entsteinter Zwetschen und die 24 leeren Bleche hinab ins Dorf zum Bäckermeister Rummel, der nicht nur ein Handwerksmeister hohen Grades war, sondern auch als Schmetterlingskundler europäische Geltung besaß. Der Rücktransport der gefüllten Bleche freilich war mit dem Wagen nicht zu bewerkstelligen. Zu diesem Zweck wurde vom aufsichtführenden „Lehrer vom Wochendienst“ aus der „Arbeitsstunde“ ein Kommando älterer Schüler zusammengestellt, die mit ihren Schulaufgaben fertig waren.

So trabten wir denn eines Abends in die dunkle Nacht hinaus:

24 Jungens, denen die Ehre zuteil wurde, die noch warme, wohlduftende Köstlichkeit heimzuholen.

Meister Rummel kannte uns alle, denn von ihm bezogen wir nicht nur die Dampfnudeln, sondern auch die Schlagsahne, die von Geburtstags­kindern den Schlafsaalgefährten spendiert wurde (eine volle Waschschüssel – auf los geht‘s los – Rekord: 10 Jungens mit Teelöffeln

in 4,5 Minuten!). Seitdem aber eines Tages nur 23 Bleche das Schloss erreichten, verlangte Rummel, dass der Kommandoführer ihm den Empfang von 24 Blechen schriftlich („Vierundzwanzig“) bestätigte. So empfing denn jeder sein Blech und tappte in die Nacht hinaus.

Wir benutzten den Abstreckweg hinter dem Lengenfelder Friedhof, der von den Regengüssen der letzten Wochen grundlos tief aufgewühlt war. Da es wieder zu schütten begann, nahmen wir das Blech über den

Kopf. Es war angenehm warm auf dem Scheitel, wenn uns auch der Regen den Ärmel hinabrann. Vorsichtig mit den Füssen in dem nassen Lehm tastend, bewegte sich die Kolonne dahin. Fast war am Doktorhäuschen der feste Pfad erreicht, als vorn ein metallisches Klingen, dann ein klatschendes Geräusch und ein hässlicher Fluch ertönte.

Wir setzten unsere Bleche auf der Böschung ab und sahen im trüben Schein einer Taschenlampe die Ursache. Ein Träger war in einem Wasserloch ausgeglitten, das nur noch mit einer Hand gehaltene Blech brach mitten durch, und der herrliche Quetschenkuchen lag, quetschen­unten, im morastigen Lehm.

Da war nun guter Rat teuer. Jeder kannte die schwergewichtige Küchen­gewaltige, Mutter Kaufhold, die um ihre Leibesfülle wie einen Fassreif einen Gürtel trug, von dem ein großer Abschmecklöffel herabhing, den sie als gefährliche Waffe ziehen würde. Sicher war, dass das verlorene Blech zulasten des Abholkommandos gehen würde. Seine Mitglieder würden an zwei besonderen Tischen, mit Quarkbroten versorgt, der Fressorgie zuschauen müssen, ausgesetzt dem Hohn der übrigen.

Nun hatten wir einen unter uns, der über ganz besondere Kenntnisse vom Geschehen in den Küchenregionen verfügte, den Mecklenburger Kuskop. Abends, wenn wir noch Faustballschlachten durchführten oder am Bahndamm lustwandelten, stand er im Küchenflur und beobachtete, verborgen hinter vielen Schränken, durch seine dicken Brillengläser das Leben der Küchenfeen. Man belachte gutmütig seinen „Drang zum Küchenpersonal“ und registrierte seine geringen Fortschritte. Hier aber kamen uns Kuskops Kenntnisse zugute. Das Ergebnis seiner

„Verhaltensforschung“: die Bleche würden auf einem riesigen Gestell im Küchenvorraum, unten beginnend, eingestapelt werden, das letzte hoch oben auf dem Brett mit der Zahl 24 würde nach Abschluss des Essens von der Küchenbelegschaft verzehrt werden.

Hierauf bauten wir unseren Plan auf, einen schändlichen Plan. Aber was tun junge Burschen, deren Festessen in Gefahr ist.

Der Quetschenkuchen wurde in dem trüben Wässerlein, das vom Schloss herabrieselte, oberflächlich abgewaschen und auf die beiden Blechteile gepappt. Das Fragment nahm ich, als letzter in der Reihe wandelnd, auf den Kopf. Eine böse Brühe lief mir durch die damals noch volle Haarpracht den offenen Schillerkragen hinab. Im Küchen­vorraum nahm Mutter Kaufhold, laut zählend, die Bleche in Empfang.

Mit größter Mühe halfen mir der lange Donah und der lange Flotow, den Matschkuchen vom Haupt auf das Gestell hinauf zu hieven. Der Klingler lief schon durchs Schloss, und ich hatte zu tun, den Kleister aus den Haaren zu bekommen.

Nach dem Essen standen wir im Dunkeln um den Brunnen herum und beob­achteten den weiteren Ablauf. Erst wurde der riesige Abwasch erledigt, dann der lange Tisch in der Küche gedeckt. Schließlich schickte Mutter Kaufhold den jüngsten Lehrling hinaus, den Festkuchen zu holen. Maria, Lisa oder Minna, wie sie alle hießen, nahm einen Hocker, um den Blechrand zu erreichen. Ein Schrei, und sie fiel hintüber. Das Blech in zwei Teilen über sie her, der „herrliche“ Quetschenkuchen quetschenunten auf den Fliesen. Schon war Mutter Kaufhold heran, es gab zwei mächtige Watschen, und das Mädchen stürzte heulend in den Hof, geradenwegs in die Arme Kuskops, der so erstmals Gelegenheit hatte, eine Küchenfee heimzubringen. In der Küche aber gab es für alle Quarkbrote.

Günther Hangen
(Quelle: „Bischofsteiner Rundschreiben“, Weihnachten 1970, S. S. 9-10)