Ein historischer Reisbericht aus dem Eichsfeld (1818)

I. Ausflug nach Cassel im May 1818 (Auszug)

[…] Nachmittags verfolgte ich meinen Weg durchs obere Eichsfeld, über bedeutende Höhen und Gründe. Die südliche Bergreihe zog sich nun zurück und geleitete mich nur noch von weitem, indeß sich nord-westlich die Aussicht erweiterte, und ich die Vorgebirge des Harzes mit dem entferntern Brockengebirge gleich eingesunkenen Wolken erblickte. – Ein Franciscaner-Mönch aus der Stadt Worbes, der terminirend das Land durchzog, begegnete mir in einem tiefen Hohlweg wie ein belebtes Heiligenbild, und mit gemessenen Pilgerschritten und jenem seltsam resignirten Blick, der oft für fromme Entzückung gegolten, ging er verschlossen an mir vorüber. Herrschende Religion der Eichsfeld-Bewohner ist die römisch-katholische, und bey Bernrode sah ich das erste Kreuzigungsbild, doch ärmlicher, als ich‘s selbst im Norden gefunden. Ein bleicher, nicht zu rüstiger Menschenstamm scheint sich nur kümmerlich hier zu nähren, und Männer und Frauen kleiden sich so schlecht, – Erstere meist in blaue leinene Überhemden – daß ihre Begegnung wenig erfreut.

Die Aussicht in die Ferne verliert sich allgemach durch höher hervor tretende waldige Rücken, und physisch und geistig fühlt man sich beengt, und fördert sich, um nur weiter zu kommen. Die Dörfer, selten unter Ziegeldächern, sind eng und verschränkt, jedoch in einigen fand ich grüne Plätze von einer einzigen Linde beschattet, deren Zweige man recht erfinderisch, beynahe netzartig ausgespannt und einen weiten Raum damit bekleidet hatte. Ein Vorbild, das in Sachsen und Thüringen Nachahmung verdiente, woselbst zu den jährlichen Pfingst-Saturnalien mancher treffliche Baum gefällt wird, der, wenn das Tanzfest vorüber ist, ohne Weiteres in den Ofen wandert, um nächstes Jahr einen neuen zu fällen. Ein Mißbrauch, der nur jenem der Särge gleicht, deren Millionen in der Erde modern, indeß das lebende Geschlecht von Zeit zu Zeit mehr über Holzmangel klagt, doch lieber halberstarrt sich am Kohlentopf wärmt, statt seine Todten in ein Tuch geschlagen der mütterlichen Erde anzuvertrauen und hierdurch dem Erwachen im Grabe vorzubeugen, was leider wohl oft noch geschehen mag! – Vielleicht eine halbe Meile von Heiligenstadt erscheint auf der schroffsten Höhe ein Thurm, als wolle er sein Gebieth noch vor Raubzüglern decken; so wie sich überhaupt auch jenseits dieser Stadt bis nach Hessen eine telegraphische Linie zeigt, die jeden vorspringenden Berg benutzte, ihre Hochwachten aufzupflanzen, und so eine mächtige Landesstrecke von Warte zu Warte zu überschauen. Ein fernher grollendes Gewitter hatte den Himmel bisher geschwärzt und Strichregen über die Thäler ergossen; doch als ich eben in Heiligenstadt einzog, trat die Sonne recht erfreulich hervor und schuf mir zur Seite auf den dunklen Bergen einen trefflichen Regenbogen, den Noah vielleicht nicht herrlicher sah.

Die Stadt liegt an der Leine und Giselde, von Wiesen und grünenden Ländereyen umhägt, und mehrere Thürme – worunter ein gotischer Doppelthurm – geben ihr ein recht stolzes Profil. Ein freundlich angelegter Todtengarten, zwey novantike wohlgebaute Thore und eine gerade Hauptstrasse machen keinen übeln Effect, und ich verschwiege das vernachlässigte Pflaster gern, wenn es nicht allzu sehr contrastirte. Im deutschen Hause, auch im Löwen logirt man ganz gut, doch thut in letzterm die Nähe des gegenüber liegenden Strafhauses nicht wohl, und menschliches Elend bey moralischer Verderbtheit dringt sich dem Reisenden ganz unerwartet und in den widrigsten Formen auf. Schade, daß das umfänglichste und schönste Haus der ganzen Straße so bösen Gästen eingeräumt wurde!

Meine Weiterreise am folgenden Morgen, längs dem Lauf der Leine, zwischen Wiesen und Nachtigallgehölz, war bey erwünschtem Wetter, höchst angenehm, und mit der frohen Aussicht, bald am Ziel zu seyn, verband sich der Moment zu manchem Genuß; wohin ich vor Allem mahlerische Blicke in die schönen Umgebungen zähle, die von Burgruinen – wie der Rüsterberg und Hanstein – oder mit üppiger Waldung gekrönt sind.

Kirchgänger, die die erste Pfingstpredigt anzog, festliches Geläut von allen Thürmen und eine innere weiche Seelenstimmung, erinnerten mich an Ernst Wagner Reise aus der Fremde in die Heimath, und deren gehaltvolle Phantasien. Schade, daß dieser treffliche Geist dem bey Humor und genialer Laune ein seltenes Beobachtungstalent zu Theil geworden, so früh schon in der wahren Heimath landete; indeß so manches ihm verwandte Gemüth, durch seine Seelengemählde angezogen, nach seinem irdischen Erkennen ringt, doch seinen Staub schon verwittert findet! – Stieglitze, Eisvögel und Finken beleben die felsigen Ufer der Leine, die sich von hier gegen Göttingen schlingt, indess ich meinen Weg mehr abendwärts richtete. Eine halbe Meile diesseits Witzenhausen betrat ich auf der Anhöhe hessisches Land, und zog bald darauf am Arnstein vorüber, der auf isolirtem Hügel, rings von waldigen Bergen überragt, in Mitte steiler Vorlagen und Mauern von Fels, ein umfängliches modisches Landschloß zeigt, das auf so uraltem Boden befremdet. Witzenhausen, ein artiges hessisches Städtchen, gewinnt durch seine, längs der Werra hinlaufenden Weinberge und Baumgärten einen fast rheinischen Charakter, und die der Natur bis zu den schroffsten Höhen abgewonnenen Ländereyen zeugen von einem emsigen Völkchen, das seine Erde mit Liebe baut. Ob der Wein auf hiesigem Boden wohlgedeiht, bezweifle ich zwar, doch soll das Gewächs vom Jahre 1811 dem besten Würzburger ähnlich seyn – wovon ich mich jedoch nicht selbst überzeugte. Hinsichtlich des Weinbaues im mittlern Deutschland scheint es beynahe, als sey das Klima einst milder gewesen, so sehr die Wahrscheinlichkeit auch widerspricht; denn in vielen Gegenden, wo man dermahlen kaum Kernobst erbaut, erinnert noch die Benennung „Weinberg“ an vormahls Gebautes Rebengelände. Entweder ist man jetzt verwöhnter als sonst und mag nicht mehr Essig statt Weines genießen, oder Witterung und freyer herzu getretene Winde eignen sich nicht mehr, die Traube zu zeitigen. – In der Krone zu Witzenhausen ist man am besten, und erhält – wenn man zu Pferde den kürzesten Richtweg nach Cassel nehmen will – einen Bothen, der unumgänglich erforderlich ist, will man sich nicht in den Bergen verirren. […]

Quelle: Umrisse einer Reise nach London, Amsterdam und Paris im Jahre 1817 von Archibald. Zweyter Theil. Nebst Local-Umrissen kleiner Reisen von Friedrich Krug v. Nidda. Wien, 1826. Gedruckt und im Verlage bey Anton Strauß. Seite 134 – 138.

Enthalten in: Bibliothek der neuesten Entdeckungsreisen nebst den wichtigsten Beyträgen des 19. Jahrhunderts zur Bereicherung sowohl der Ländern- und Völkerkunde überhaupt, als der europäischen insbesondere. Zweyter Jahrgang. Siebentes Bändchen. Wien, 1826. Gedruckt und i Verlage bey Anton Strauß.