"Was noch nie ein Mensch gesehen hat ..."
Zur Bedeutung der Tagebuchaufzeichnungen des Joseph Hahn
„Das Beste, was wir von der Geschichte haben,
ist der Enthusiasmus, den sie erregt."
(Johann Wolfgang von Goethe)
1. Einleitung
Immer wieder fragen sich vor allem jüngere Menschen, auf welche Weise unsere Vorfahren vor 100 oder gar 200 Jahren lebten, was ihren Alltag prägte und welche Gewohnheiten in ihrem Leben eine Rolle spielten. Zahlreiche Sach- und Geschichtsbücher haben sich dieser Thematik bereits angenommen und zur Beantwortung ihrer Fragen oft nur einen rein wissenschaftlichen Ansatz gewählt. Die so gefundenen Antworten bleiben in ihrer Darstellung zwangsläufig sehr nüchtern und wecken nur in seltenen Fällen Erstaunen oder gar Begeisterung für die eigene (kulturelle) Vergangenheit aus. Ganz anders ist es jedoch, wenn ein authentisches Zeitzeugnis aufgefunden wird, welches nicht versucht, das Zeitgeschehen in seiner Gesamtheit zu dokumentieren, sondern vielmehr einen persönlichen, subjektiven Ausschnitt aus dem Erlebten zu vermitteln versucht und sich dabei zugleich auf einen lokal begrenzten Raum beschränkt. Jene persönlichen Zeugnisse eines „Alltagsmenschen“ können ihr Publikum viel stärker fesseln und bewegen, als es manch streng wissenschaftliches Sachbuch vermag.
2. Das Jahr 2006 und die Wiederentdeckung eines Lengenfelder Tagesbuches von 1832
Einen solchen Glücksfall markiert für die Lengenfelder Geschichts- und Heimatforschung das Jahr 2006. Am 29. März 2006 war es Stefan Hildebrand (zugleich Redaktionsmitglied des Lengenfelder Echos) zu später Abendstunde gelungen, ein altes Lengenfelder Tagebuch aus dem Jahre 1832 in einer Garage aufzufinden, welches zu diesem Zeitpunkt längst als verschollen galt (siehe Lengenfelder Echo, Mai-Ausgabe 2006). Dieser! Wiederentdeckung war eine gezielte Suche vorausgegangen. Bekannt war lediglich, dass mit diesem wichtigen Zeitdokument bereits in den 1950er Jahren gearbeitet worden war, doch wusste bis dato niemand Genaueres über seinen Verbleib. Auch lag bis zu diesem Zeitpunkt keine vollständige Übertragung des Geschriebenen vor. Vielmehr beschränkten sich die spärlichen Tagebuch-Auszüge, welche Erwähnung in einigen Dorfchroniken fanden, auf einzelne Daten und Ereignisse, was eine Aussage zur Gesamtbedeutung des Werkes unmöglich machte.
3. Was in der Zwischenzeit geschah
Sofort nach der Wiederentdeckung des Buches hatte es sich die Redaktion des Lengenfelder Echos zum Ziel gemacht, die Tagebuch-Einträge vollständig zu übertragen, um das Geschriebene so der Allgemeinheit zugänglich zu machen. Dieses Ziel gestaltete sich jedoch schwieriger als angenommen, da die Handschrift des Tagebuch-Verfassers nur mit äußerster Mühe zu entziffern war. Erneut kam eine glückliche Fügung ins Spiel, denn Redaktionsmitglied Stefan Hildebrand kontaktierte seinen Onkel Thomas Wetter, einen gebürtigen Eichsfelder aus Dingelstädt, der sich seit einigen Jahren auf das Entziffern alter deutscher Handschriften spezialisiert hat. In der Vergangenheit hat sich Thomas Wetter als Experte der sogenannten Sütterlinschrift bereits einen Namen gemacht und bietet seine Dienste zu erschwinglicheren Preisen als bspw. kommerzielle Firmen an, da er seine Begabung lediglich als Hobby ausübt. Interessierte können sich im Übrigen auf seiner Website
informieren, wenn sie nach einer kostengünstigen Übertragung alter Schriftstücke suchen, welche sie selbst nicht lesen bzw. entziffern können.
Zur großen Freude der Redaktion liegt mittlerweile eine vollständige Übertragung des alten Lengenfelder Tagebuches vor, welche Thomas Wetter kostenlos vorgenommen hat. Für diesen Dienst gebührt Herrn Wetter aufrichtiger Dank und Anerkennung im Namen aller Leserinnen und Leser des Lengenfelder Echos.
4. Wer war der Tagebuchverfasser?
Bevor sich dieser Beitrag mit der Bedeutung des Tagebuches auseinandersetzen wird, soll zunächst der Frage nachgegangen werden, wer sich hinter den Aufzeichnungen verbirgt. Bislang war lediglich bekannt, dass der Verfasser Joseph Hahn hieß und als Bauer in Lengenfeld unterm Stein lebte. Zur genaueren genealogischen Einordnung seiner Person gibt das Lengenfelder Kirchenbuch Auskunft: Joseph Hahn wurde am 2. Januar l 806 als zweites Kind der Eheleute Johann Nicolaus Hahn (1772-1852) und seiner Frau Catharina Hahn (geb. Lorenz, l775-1848) in Lengenfeld unterm Stein geboren. Dem Lengenfelder Kirchenbuch ist weiterhin zu entnehmen, dass Joseph Hahn als Ackermann und Ziegeleibesitzer in der Ziegelhütte auf dem Schafhof tätig war. Er starb am 30. Juli des Jahres 1883 im Alter von 77 Jahren. Joseph Hahn war nicht verheiratet und hinterließ keine Kinder. Ausgehend von diesen Daten war Joseph Hahn 26 Jahre alt, als er am 20. November 1832 seinen ersten Tagebucheintrag verfasste.
5. Die Bedeutung der Tagebuchaufzeichnungen
5.1 Sprachliche Eigenheiten
Wie zuvor bereits erwähnt wurde, arbeiteten in der Vergangenheit mehrere Lengenfelder Heimatforscher wie z. B. Anton Fick oder Walther Fuchs mit dem Tagebuch. Letzterer versuchte sogar, eine eigene Übertragung des Geschriebenen vorzunehmen, beschränkte sich dabei aber auf ausgewählte Textstellen. Darüber hinaus wurde das Werk in dieser frühen Übertragung sprachlich so angepasst, dass es der heutigen Auffassung geschriebener Sprache entspricht. Thomas Wetters Tagebuch-Übertragung hingegen folgt in jeglicher Hinsicht dem Original, wobei besonderer Wert auf Authentizität und Vollständigkeit gelegt wurde. Um die sprachlichen Eigenheiten und Ungenauigkeiten des Verfassers in all ihren Facetten aufzuzeigen, wurde an keinem Punkt korrigiert, sondern alle orthografischen und grammatikalischen Mängel bei der Übertragung beibehalten. Das so entstandene, realistische Bild der Aufzeichnungen offenbart eine markante Rechtschreibschwäche des Tagebuchverfassers, welche von den Lesern der heutigen Zeit freilich belächelt werden könnte. Allein bedeutsam ist, dass ein Mensch des frühen l 9. Jahrhunderts überhaupt im Stande war, seine Gedanken in angemessener und verständlicher Weise zu verschriftlichen. Dies ist umso erstaunlicher, da die Schulbildung im frühen l 9. Jahrhundert nur wenige Jahre umfasste und Lese- sowie Schreibfertigkeiten demzufolge nur in ihren einfachsten Grundzügen vermittelt werden konnten. Ferner erscheint es fraglich, ob die Menschen jener Epoche überhaupt die Gelegenheit und die Möglichkeit hatten, ihre Sprachkompetenz durch die Lektüre literarischer oder sachlicher Texte weiterzuentwickeln, da bekanntermaßen landwirtschaftliche Arbeiten auf dem Tagesprogramm standen und den Alltag dominierten. Darüber hinaus ist der Versuch des Tagebuchverfassers bemerkenswert, seine Erinnerungen in hochdeutscher Sprache niederzuschreiben. Dieser Umstand ist insofern erstaunlich, als dass seinerzeit das „Eichsfelder Platt“ das Hauptkommunikationsmittel im alltäglichen Sprachgebrauch war und zudem erhebliche regionale Färbungen dieses Dialektes bestanden, welche sich bis zur heutigen Zeit erhalten haben. Als Beispiel sei hier eine auffällige Spracheigenheit der „eichsfeldischen Muttersprachler“ angeführt, die auch heute noch von Besuchern anderer Regionen als charakteristisch empfunden wird. So neigt der Eichsfelder Dialekt dazu, stimmhafte Laute zu stimmlosen Lauten und umgekehrt abzuwandeln. In der Sprachwissenschaft werden diese Prozesse als Lenisierung bzw. Fortisierung bezeichnet und mit entsprechenden Graphien gekennzeichnet. So finden sich beispielsweise -Graphien in den sprachlich abgewandelten Wortformen „Dumult“ und „Eigendum“. Derartige lautliche Abwandlungen finden sich in großer Zahl auch in den Tagebuchaufzeichnungen des Joseph Hahn. Hierdurch entsteht der Eindruck, dass so geschrieben wurde, wie man sprach. Dieser Eindruck wird nochmals durch die eigenwillige Getrennt- und Zusammenschreibung sowie die aus heutiger Sicht fehlerhafte Groß- und Kleinschreibung verstärkt. Hinzu kommt, dass um 1832 noch keine einheitliche, d. h. verbindliche Rechtschreibregelung für die deutsche Sprache galt und demzufolge z. T. erhebliche Unterschiede bezüglich des Sprachgebrauches zwischen den einzelnen Fürstentümern bestanden.
5.2 Inhaltliche Besonderheiten
Das inhaltliche Spektrum der im Tagebuch enthaltenen Einträge kann nach eingehender Prüfung wie folgt zusammengefasst werden:
Private Erwerbungen und Anschaffungen: Auflistung gekaufter Waren, wie z. B. häuslicher Gebrauchsgegenstände, landwirtschaftlicher Geräte etc.
Besondere Naturphänomene: Aufzeichnung kurioser Wetterereignisse, wie z. B. Unwetter, Hochwasser, frühe Ernten, lange Winter etc. (Stichwort Wetterchronik).
Bedeutsame Ereignisse in Lengenfeld: Unfälle, Todesfälle, Wegzüge, Auswanderungen nach Amerika, Bau des Bischofsteiner Bergfriedhofes etc.
Zeitzeugen-Schilderungen: Versuche, die (politischen) Geschehnisse der Zeit zu dokumentieren, wie z. B. ein historisch wertvoller Bericht über die Plünderung des Klosters Zella im Revolutionsjahr 1848 durch die Anwohner der umliegenden Gemeinden (namentlich Struth und Effelder).
Viele Ereignisse, die Joseph Hahn dokumentierte, wurden bereits in anderen Werken der Eichsfelder Heimatliteratur behandelt, doch sind es gerade die Details, die das Lengenfelder Tagebuch so wertvoll machen. Als ein Beispiel sei hier der Lengenfelder Eisenbahnviadukt angeführt. Nicht die Errichtung des Bauwerkes selbst steht im Fokus des Geschilderten, wohl aber ist durch Joseph Hahn zu erfahren, wann die erste Lokomotive in Lengenfeld eintraf und den Viadukt (als Belastungsprobe) überfuhr – ein Ereignis, das derart stark auf die Zeitzeugen gewirkt haben muss, dass es Joseph Hahn für wichtig genug erachtete, es für die Nachwelt in seinem Tagebuch festzuhalten. Stellt man sich abschließend die Frage nach der Motivation, welche hinter den heimatgeschichtlich heute so wertvollen Aufzeichnungen steht, so lässt das Festgehaltene den Tagebuchverfasser nicht als literarisch ambitionierten Schriftsteller sondern vielmehr als „subjektiven Historiker“ erkennen, der neben wenigen privaten Vermerken vor allem merk- und denkwürdige Ereignisse in der Zeit von 1832-1881 in seinem Tagebuch festhielt. Das Tagebuch entspricht in seinem Charakter deshalb vielmehr einer privaten Heimatchronik und ist damit das früheste bekannte Werk seiner Art. Darüber hinaus lässt die aufmerksame Lektüre der historischen Tagebuchaufzeichnungen Joseph Hahn als einen berichtenden und beschreibenden Chronisten erkennen, der ergriffen und empfindsam von den Geschehnissen seiner Zeit berichtet und dabei ausschließlich seine eigene, subjektive Weltsicht offenbart. Die Art und Auswahl der geschilderten Ereignisse repräsentiert demzufolge ausschließlich die individuelle Sichtweise des Verfassers, nicht aber die Empfindungen und Reaktionen anderer Zeitgenossen, wodurch wiederum der formale Charakter eines (persönlichen) Tagebuches gegeben ist. Charakteristisch sind zudem zahlreiche Vergleiche, die hinsichtlich des Geschilderten verstärkend wirken. So finden sich an einigen Stellen überspitzte Phrasen wie „was noch nie ein Mensch gesehen hat" am Ende der jeweiligen Aufzeichnung.
6. Fazit
Die Darstellung der im Tagebuch enthaltenen Schilderungen legt die Vermutung nahe, dass es Joseph Hahns Anliegen war, seine Aufzeichnungen zu einem späteren Zeitpunkt an die Öffentlichkeit zu geben. Hierfür spricht u. a. die Art und Weise der Ereignisdarstellung, welche eine private Familienerinnerung bei weitem übersteigt. Ohnehin lassen sich nur sehr wenige private bzw. familiäre Bezüge aus dem Geschriebenen entnehmen, die mögliche Nachkommen interessieren könnten. War es jemals der Wunsch des Joseph Hahn, dass seine Schilderungen auch Generationen nach ihm noch zum Staunen bringen würden, so wird dieses Anliegen mit der nun beginnenden Publizierung erfüllt. Anderenfalls wurde der Nachwelt unbewusst ein Werk von großem heimatgeschichtlichen Wert hinterlassen, dass auch die Menschen der heutigen Zeit ob der zahlreichen kuriosen Schilderungen zweifellos verwundern und erstaunen wird. In der hier vorliegenden Webpräsenz sollen alle Tagebuch-Einträge vollständig und ohne Kürzungen veröffentlicht werden. Nach reiflicher Überlegung wurden überdies Orthografie und Grammatik dem heutigen Sprachgebrauch angepasst, da sonst die Gefahr bestünde, dass nicht das Geschriebene, sondern vielmehr die Art und Weise des Geschriebenen (u. a. vermehrte Fehler bei der Groß- und Kleinschreibung) die eigentliche Bedeutung der Aufzeichnungen verblenden würde.
Oliver Krebs,
Lengenfeld unterm Stein im November 2010
Danksagung: Der Autor bedankt sich auf diesem Weg auch bei Herrn Ernst Hildebrand, der die Zeichnungen der Lengenfelder Ziegelhütte in freundlicher Weise beisteuerte.
Weiterführende Literatur
Elspaß, Stephan: Sprachgeschichte von unten. Untersuchungen zum geschriebenen Alltagsdeutsch im 19. Jahrhundert. (Reihe Germanistische Linguistik) Tübingen: Max-Niemeyer-Verlag, 2005.
Schikorsky, Isa: Private Schriftlichkeit im 19. Jahrhundert. Untersuchungen zur Geschichte des alltäglichen Sprachverhaltens „kleiner Leute". (Reihe Germanistische Linguistik) Tübingen: Max-Niemeyer-Verlag, 1990.