Im südwest-eichsfeldischen Geschichts- und Sagengebiet (1928)

Es ist 5 Uhr morgens. Ein arbeitsreicher Augusttag ist angebrochen. Noch herrscht tiefe Stille im Dorfe Bickenriede, nur hier und da steigen einzelne, dünne Rauchwolken aus den Schornsteinen der Bauerngehöfte und in der Küche dreht die stämmige Bäuerin die rasselnde Kaffeemühle. Draußen vor meinem Zimmer ertönt die Glocke eines Fahrrades. Freund Hugo, der jetzt seine Ferien hier verlebt, hat sich pünktlich eingestellt. Nach kurzem Morgengruß besteigen wir unsere Räder; flott und immer flotter Kreisen die Pedale, sodass die Chausseebäume gespensterhaft an uns vorüberfliegen. Vor uns erhebt sich der „Heider“, dessen Name gleichbedeutend ist mit „wenig fruchtbare, steile Anhöhe". Hier heißt es absteigen und – Rad schieben –.

Rechterhand mündet der „Spektalsgraben“. Da hat in den früheren Pest- und Cholerajahren ein Spital gestanden, in dem die Unglücklichen ihrem letzten Stündlein entgegensahen. Kein Wunder, dass hier viel vom Teufel und Teufelsspuk die Rede ist. Hier ist der Schauplatz von mancher „Irrwischgeschichte“, die alljährlich in der Adventzeit von Mund zu Mund geht. Nach dem Volksmund sind es Seelen der verstorbenen Pestkranken, die sehnsüchtig der Erlösung harren, wie uns folgende Sage belehrt:

Vor vielen Jahren kam ein Mann von der Struth. Aus dem „Spektalsgraben“ sah er ein Irrlicht kommen. In der Angst fing der Mann an zu beten. Bei jedem „Vater unser“ kam es näher und hüpfte ihm dann von Knopf zu Knopf seines Wamses. Der Mann betete ruhig weiter. Plötzlich aber, als es den obersten Knopf erreicht hatte, hörte er die Worte: „Erlöst! – Hättest du aber geflucht, wie es vor Jahren ein anderer Wanderer tat, hätte ich wieder noch Jahre lang büßen müssen.“ Mit diesen Worten verschwand das Irrlicht.

Herzhaft schieben wir unsere Räder weiter und bald sind auf 2 ½ Kilometer Entfernung 50 Meter erstiegen: eine Leistung, die uns, trotz Sporthemd, den Schweiß aus den Poren treibt. Immer zäher und dichter, immer undurchdringlicher wird die Luft um uns. Die grauen Nebelmassen waren in Bewegung geraten; sie schoben sich durch- und ineinander; sie ballten sich zusammen, zerflatterten und schlossen sich wieder. – „Halt!“, klingelt da plötzlich mein Reisegenoss und schaut ängstlich in die Richtung links vom Wilhelmswald. „O weh, der dreibeinige Hase!“, lispelt er. „Den müssen wir kriegen, das gibt ein opulentes Abendessen“, war meine Entgegnung. „Spotte nicht, das Unglückstier hat schon manchem einen bösen Streich gespielt und auch wir werden nicht ungeschoren davonkommen“, fuhr mein Begleiter fort. Jetzt schaute auch ich nach besagter Gegend und wirklich vom „Stampfs Graben“ schien ein Ungetüm herzukommen, das einem riesengroßen Hasen nicht so ganz unähnlich sah. „Was ist‘s mit dem?“, fragte ich und Freund Hugo begann im Flüsterton:

„Der dreibeinige Hase ist eigentlich ein Bauer aus Bickenriede. Johann Stampf hieß der Unselige. Von 1550 bis 1554 war er weltlicher Verwalter des Klosters Anrode. Seine bevorzugte Stellung benutzte nun dieser schlechte Mensch, um die Klostergüter zu veruntreuen. Dort, vor der Hollau-Ecke lag eine Hufe Land mit Holz bestanden. Diese ließ er roden und eignete sich das Land zu. Jedwede ungerechte Bereicherung, die im Leben ungesühnt bleibt, findet aber im Volksglauben dann nach dem Tode ihre gerechte Strafe. Und so auch Stampf. Von Gewissensbissen getrieben, gab zwar sein Sohn, der auch Johann hieß und später Kanonikus des St.-Severi-Stiftes in Erfurt wurde, die Hufe dem Kloster wieder zurück; im Volksmunde aber war und blieb Stampf Senior gerichtet. Als dreibeiniger Hase musste er seine schwarze Tat büßen. Allnächtlich läuft er noch heute ruhelos um die gestohlene Hufe und findet erst gegen Morgen auf seinem Eigentum im „Stampfs Graben“ seine Ruhe. Wehe aber dem einsamen Wanderer, dem er bei seinen nächtlichen Wanderungen begegnet.

Etwas muss übrigens an der Geschichte sein, denn auch mein verstorbener Vater hatte zu Lebzeiten eine unliebsame Begegnung mit dem Dreibeinigen. Er war Bauer in Büttstedt und wollte eines Tages, wie es damals üblich war, seinen Weizen in die große Werramühle bei Wanfried bringen. An einem frühen Spätherbstmorgen – etwa gegen 5 Uhr – fuhr er mit seinem beladenen Wagen aus Büttstedt fort. Kaum hatte er die sogenannten „Sechsgerten“, die du dort siehst, erreicht, so begegnete ihm der dreibeinige Hase. Mein Vater erschrak, hieb auf die Pferde, um so schnell aus dem Bereiche des Unholden zu kommen. Aber er fuhr und fuhr, ohne das Dorf Struth zu erreichen und gar bald merkte er zu seinem größten Schrecken, dass er vom Wege abgekommen war. Nach langem Umherirren sah er endlich Lichter schimmern. Voller Freude fuhr er darauf zu und kam an in – Büttstedt. Eben schlug die Dorfuhr fünf. Zwei Stunden war er umhergeirrt und als er bei Tagesanbruch die Fahrt wiederum begann, zeigte ihm der Spurschnee, dass er stets im Kreise gefahren war und das hatte er nach seiner Meinung nur dem dreibeinigen Hasen zu verdanken.

Während Freund Hugo so gruselig zu erzählen wusste, war der vermeintliche Dreibeinige bis auf etwa 50 Schritt herangekommen. Jetzt erst bemerkte er uns, machte ein Männchen und im nächsten Augenblick trugen ihn vier gesunde Läufe in das Dickicht des Wilhelmswaldes. Sichtlich erleichtert atmete mein Reisegenoss auf.

Plötzlich erhob sich ein morgenfrischer Lufthauch und bald waren die letzten Nebelschleier zerrissen und verschwunden. Goethe sagt: „Es ist ein Fehler bei Fußreisen, dass man nicht oft genug rückwärts schaut, wodurch man die schönsten Aussichten verliert“, ließ sich mein Begleiter vernehmen. Augenblicklich machten wir deshalb Halt und richteten die Blicke auf die zurückgelegte Strecke. Der Weise von Frankfurt hat Recht. Hätten wir seinen Rat unbefolgt gelassen, so hätten wir uns um eine herrliche Aussicht gebracht. Vor uns „der Thüringer Kessel“. Der Ausblick war weit und schön und wahrhaft erquickend! Opalartig färbte die Morgensonne die einzelnen Wölkchen am Himmel. Unter uns Bickenriede mit seinem weitausschauenden Kirchturm, um den 4 Türmchen lagern, wie Kücklein um die Henne. Rundum Dörfer und Dörfchen gebettet in Haine von Obstbäumen. Im Mittelpunkt das turmreiche Mühlhausen, die wohlhabende, sauber und gut gebaute Stadt im Unstruttale, die mit ihren prächtigen Baudenkmälern mit ihren wuchtigen Formen einen imposanten Anblick gewährt. Im Norden das hoch gelegene Beberstedt mit seinem gekalkten Kirchturm. Dort, am östlichen Horizonte, wo die Sonne am hellsten leuchtet, lagert hinter welligem Hügelgelände versteckt, die Residenzstadt Gotha. Hainich, Ettersberge, Possen und Mühlhäuser Hardt bilden den Rahmen zu dem farbenreichen Bilde.

Ganz dem Genusse der schönen Natur uns hingebend, standen wir da, stumm und unbeweglich. Mein Gefährte schreckte förmlich auf, als ich sagte: „Für mich lebt die nächste Umgebung. Da, in Büttstedt war in meinen Kinderjahren noch eine Heimstätte der Wichtelmännchen.“ Mit Vorliebe verweilen sie gern in dem geräumigen Pferdestalle eines biederen Bauern, des Altaristen Barthel Kühler. Derselbe war kinderlos und meinte es besonders gut mit den kleinen Wesen. Am Abend füllte er kleine Nutzschalen mit allerhand Leckereien, die das kleine Volk ihm regelmäßig in der Nacht naschte. Dafür zeigten sich aber die kleinen Dinger auch dankbar. Mit Rat und Tat waren sie ihm zur Hand, wenn es galt, ein schwieriges Werk zu vollbringen. Was der Bauer aber ganz besonders schätzte, war, dass sie alles Unglück von seinem Vieh abhielten. Gern gönnte er deshalb ihnen den Aufenthalt in seinem Stalle und schalt und schimpfte nicht, wenn sie den Pferden ab und zu Mähne und Schwanzhaare zu Zöpfen flochten. In früherer Zeit sollen in Büttstedt auch in anderen Bauerngehöften Wichtelmännchen gehaust haben. Da aber die Bauern über die geflochtenen Pferdezöpfe schimpften und fluchten, nahmen das die Wichtel übel. In einer dunklen Nacht verließen sie die wenig gastlichen Stätten und quartierten sich unter der Horntelsbrücke ein, die sich zwischen Büttstedt und Struth befindet.

Aus Ärger über die unfreundliche Behandlung waren sie fortan den Dorfbewohnern bös gesinnt. So erzählte mir eines Tages der Bauer, als ich mich mit ihm über die Wichtelmänner unterhielt: Von der Stunde an wurden sie boshaft, tückisch und diebisch, ja, sie bedrohten sogar die Büttstedter mit dem Tode, wie aus der Sage von den Zwergen unter der Horntelsbrücke zu ersehen ist.

Die Sage von den Zwergen unter der Horntelsbrücke

Es war an einem sonnigen Hochsommertage, als der Bickenrieder Schafhirt seine Herde in dem Flurteile, der „Horntel“ heißt, weidete. Draußen gleißte und glühte alles in Sommerpracht. Majestätisch wiegte sich das Ährenfeld und ein leises Knacken und Platzen verkündete die Hochreife. Zwischen dem goldgelben Getreide stehen prächtige Feldblumen. Feurig glüht der Mohn; Rade und Kornblume, Kamille und Rittersporn wetteifern um den Vorzug der Schönheit. Sonnenlicht flutet mit neckischem Geschimmer; über den Pflanzen fliehen und zittern glitzernde Lichtwogen. Tiefe Stille herrscht weit und breit. Die Schafe verschmähen die trockene Nahrung und mit lechzender Zunge schleichen die Hunde umher. Der Schäfer zieht deshalb nach dem Horntelsgraben. Bald lagern Hunde und Schafe unter den schattenspendenden Bäumen und der Hirt benutzt die Mittagspause, um nach seinem Erbsenstücke zu sehen, das sich in der Nähe befindet. Voller Freude betrachtete er den Erntesegen; doch was ist das? Ein Rupfen und Zupfen, Schmausen und Naschen und dazwischen fröhliches Gekicher und auf dem Erbsenfelde Hunderte von winzig kleinen Fußtappen! Es ist klar: unsichtbare Zwerge sind‘s, die hier königlich tafeln. Dem Schäfer schwillt die Zornesader und eine Flut von Flüchen und fürchterlichen Drohungen entspringen dem Gehege seiner Zähne. „Geizhals!“, erscholl es als Antwort und dann wards still. Unten auf dem Wege aber ertönte Getrappel von kleinen Stiefeln, leiser und immer leiser werdend, bis es bei der Horntelsbrücke verstummte.

In Gedanken versunken begab sich dann der Schäfer zu seiner friedlich lagernden Herde. Als die fast unerträgliche Hitze etwas nachgelassen, brach er auf und führte seine Pfleglinge auf saftige Weide. Die Schafe hatten ihre Frische wieder erlangt, begierig beschäftigten sie sich mit dem Abrupfen des Grases und bald war das Erlebnis vergessen. Endlich sinkt die Sonne tiefer und tiefer und ist dann hinter den Höhen bei Effelder verschwunden. Der Schäfer bricht auf und will zu seiner Herde. Die liegt beim Vierzehnheiligenbilde und er muss über die Horntelsbrücke. –

Die Grille zirpt im Korn; drüben in Büttstedt ertönen die sanften Töne der Aveglocken. Es ist die Stunde, wo Tag und Nacht ineinanderfließen. Im Horntelsgraben wird‘s lebendig. Ein paar rasselnde Steine verkünden, dass der vorsichtige Hase sein Versteck verlässt und zur Äsung hoppelt. Mit grellem „Kommit“ schwebt das Käuzchen aus den Weiden. Der Schäfer ist auf der Horntelsbrücke angekommen. Plötzlich hört er ganz deutlich, wie jemand mit einem Stocke an die Seitenwand der Brücke schlägt und ruft: „Siere!“ Dem Schäfer gruselt‘s als er den ihm bekannten Ruf hört, mit dem der Bäcker die „Säurestunde“ ankündigt. Schleunigst verlässt er die unheimliche Stelle und ist froh, als er bei seiner Herde anlangt. Am andern Morgen führt ihn sein Weg wieder über die Brücke. Da horch: Wiederum ertönt ein Klopfen und „Knäten!“, ruft jetzt eine laute Stimme. Die Tageshelle macht den Schäfer heute dreister und neugierig untersuchte er die Brücke, weil er annahm, dass sich ein Schalk unter derselben versteckt hatte, um ihn zu necken. Nichts aber war zu sehen, noch zu hören. Beim Verlassen der Brücke rief dann der Schäfer aus Übermut: „Für mich dann oi en Klenn!“ („Für mich dann auch einen kleinen Kuchen!“). „Klennt“, echote es aus dem Brückenraume und lautlose Stille wie zuvor.

Kopfschüttelnd begibt sich der Hirt zu seiner Herde, die sich inzwischen eine ganze Strecke entfernt hat und im Laufe des Tages war der seltsame Spuk bald vergessen. Am Abend aber führt ihn der Heimweg wieder über die Brücke. Doch, was ist das!? Vor ihm liegt ein frisch gebackener Kuchen; der Unsichtbare von heute Morgen ist der Bestellung nachgekommen. Schon will er den Leckerbissen versuchen; doch hier ist Vorsicht am Platze. Er wirft seinem Hunde ein Stück davon zu. Kaum hat der aber den Brocken hinuntergeschluckt, so stürzt er tot zu Boden. Der Kuchen war vergiftet und der Schäfer nur mit knapper Not dem Tode entgangen.

Gemächlich waren wir während der Erzählung weiter geschritten und hatten die zweiten 50 Meter Steigung genommen. Unser Weg ebnet sich; wir schwingen uns auf die Räder und bald ist die Brücke an der Pfaffenecke erreicht. Vor uns die letzte Höhe bis Struth, da heißt es noch einmal: absteigen. „Du sprachst eben von der „Pfaffenecke“, meinte mein Kollege, „sonderbarer Name!“ „Soll von einer Mordgeschichte herrühren, die hier ihren Schauplatz hatte“, entgegnete ich.

Die Pfaffenecke

„In früherer Zeit kannte man noch keine Flurkarte und Katasterblatt oder Grundbuchamt waren „böhmische Dörfer“. Und doch waren die Flurgrenzen jedem bekannt. Das kam so: Alljährlich war ein sogenannter Flurgang oder „Florreiten“, wie er in Bickenrieder Archivalien genannt ist. Daran nahmen der Geistliche, der Schulze, die Schöppen und die ganze männliche Einwohnerschaft teil; auch einige Schuljungen begleiteten den Zug. Kam man an besonders strittige Stellen, Ecken oder Ausbuchtungen, so bekamen hier die Jungen ein paar „derbe Ohrfeigen“, damit sie auf diese Weise den kritischen Ort lebenslänglich im Gedächtnis behielten. Bei einem solchen Flurgange trafen nun einmal die Bickenrieder mit den Strüthern dort in ihren Grenzen zusammen. Die Bickenrieder hatten sich angeblich zu weit vorgewagt und deshalb kam es zu einer wüsten Schlägerei um Mein und Dein. Der Pfarrer, der den Streit schlichten wollte, kam dabei um sein Leben und der Name Pfaffenecke erinnert an die unglückselige Eat. Doch die Strafe blieb nicht aus. Seit jenem Tage – so erzählt der Bickenrieder Volksmund – wird nie ein Br. die Priesterwürde erreichen. An der Mordstätte (Pfaffenecke) „geht‘s seit jener Zeit um.“ Die Mörder scheinen immer noch nicht ihre Ruhe gefunden zu haben. Wenn sich der Sonnenball hinter dem Westerwald versteckt, kommt die Nacht mit ihren bleiernen Schwingen herab auf Wald und Flur. Die Jungtannenschonung erscheint als schwarzgrüner Kran? und über ihm erhebt sich die blasse Mondscheibe. Auch in „den Büschen“ fängts an zu dunkeln. Gespensterhaft schwebt eine Ohreule aus der Eichbaumkrone und kreischt auf. Bald kommt eine zweite, dann eine dritte, ihr Geschrei wirkt unheimlich.

Der Bauer verlässt Pflug und Egge, der Schnitter das Getreidefeld, der Holzhauer den Wald, ja der Schäfer selbst treibt seine Herde weg aus der Pfaffenecke; denn schattenhafte Wesen, die Geister der Mörder treiben von da ab bis gegen Morgen hier ihr Spiel. Schlimm ergeht es dem Wanderer, der in später Nachtzeit durch das Spukgebiet muss. Plötzlich hockt sich ihm einer der Unholde auf und er hat eine zentnerschwere Last zu tragen, bis er schweißtriefend in der „Birkredden“ anlangt. Erst dort springt der Unhold ab und gibt sein Opfer frei. Ich schwieg. „Na, da hast du uns wieder ‚eine‘ aufgebunden“, sagte sarkastisch mein Freund. Ich zuckte die Achseln. „Flurgang, Streit und Mord sind historisch in den Bickenrieder Archivalien aufgezeichnet. Alles andere ist Sage; übrigens scheint der Mord seine Sühne gefunden zu haben, denn ein Bickenrieder Kind ist jetzt geistlicher Würdenträger und von den aufhockenden Unholden hat man lange nichts mehr gehört“, war meine Entgegnung. Bei diesen Worten war die letzte Höhe überwunden und die Räder trugen uns in kurzer Zeit auf die Struth.

Das war also das Dorf Struth, bei dessen Taufe die örtliche Umgebung „Sumpfwald“ Pate gestanden hat. Heute, wo Struth Anschluss an die obereichsfeldische Wasserleitung hat, ist der Name bedeutungslos. Aber es ist oft so, wo Chroniken und Urkunden schweigen, da sind es die Dorfnamen, die aus früheren Zeiten plaudern.

Die Geschicke des Dorfes sind mit denen des Klosters Zella eng verknüpft. Das Dorf war wie ausgestorben; Alt und Jung war mit Feldarbeit beschäftigt. Wir verzichteten deshalb auf eine Besichtigung und bogen in der ersten Seitengasse rechts ab dem Annaberge zu. Um Freund Hugos historischen Sinn zu befriedigen, gab ich ihm während der Fahrt einigen Aufschluss über die Geschichte von Struth.

Geschichte von Struth

Struth war ein Reichsdorf, das die Dynasten von Treffurt zu Lehen halten. 1273 verkauft es Heinrich von Treffurt für 24 Mk. an das Frauenkloster Zella. An dem Bauernaufstande 1525 beteiligten sich auch Bauern von Struth, so werden Hans Hesse, Michael N. und Andreas Wagenknecht nebst Nachbarn besonders genannt. Am 14. Juni 1632 plünderten die Mühlhäuser unter Anführung des Bürgermeisters Selig das Dorf, weil es ihnen nicht gelang, einen Mann namens Kaltwasser daselbst gefangen zu nehmen; 20 Häuser gingen damals in Flammen auf. 1652 war Struth ein zur sedes Dingelstädt gehöriges Kirchdorf, zuerst Filial von Effelder, dann wird es vom Klosterkaplan in Zella versehen. 1771 bestimmte der Kurfürst, dass hinfort ein weltlicher Geistlicher an seine Stelle trete. Im Jahre 1776 wurde für Struth wieder ein Ordensgeistlicher bestimmt. 1675 besaß Struth 48 bewohnte Häuser (18 Ackergüter und 30 Hinterstättlerhäuser) und 7 Brandstätten. Seine Flur bestand aus 36 Hufen Land. Außerdem hatte das Dorf noch 24 ¾ Hufen Rodeland. Alles in Dorf und Flur zahlte Zins und Lehen an das Kloster Zella. 1682 klagen die Struther wegen Überbürdung von Frondiensten. Der Prozess zog sich aber sehr in die Länge; 1700 ist er noch nicht zu Ende. An Abgaben zahlte der Ort 1700= 35 ½ Schock Eier, 71 Hühner, 12 Reichstaler statt des Pflugdienstes (von 18 Hufen je 16 Gr.), 19 Taler 23 Gr. 3 Pfg. statt des Handdienstes (von 71 Häuser je 6 Gr. 2 Pfennig), 6 Rtlr. 16 Groschen Hapfengeld) 8 T. für Fassbier, 16 Groschen für den Branntweinsschank, 16 Groschen Einzugs- und Abzugsgeld. 6 Rtlr. 16 Gr. Triftgeld für 400 Schafe, 10 Proz. Lehngeld und 1790 noch Erbenzins von 49 Rtr.

Eine Struther Siedlung war auch auf dem „Steinwalde“. Die Struther hatten die Erlaubnis bekommen, den Wald roden zu dürfen und in der Niederlassung hatten sie einen Schulzen, als solcher wird Hans Höpffener genannt.

Unsere Fahrstraße biegt nun um eine Waldecke. Plötzlich tauchen vor uns rote Ziegeldächer auf und wir waren angelangt auf dem Annenberge.

Annaberg

Es ist das Vorwerk des Klosters Zella, politisch dem Dorfe Effelder zugeteilt. Auf einer weiten Rasenfläche, im Westen und Süden von Laubwald umsäumt, lagern die Wirtschaftsgebäude, die Schäferei und die Arbeiterwohnungen des Klosters. Wir widmen ihnen einen Rundgang. Bei einem Kranz von Lindenbäumen machen wir Halt. Hier hat die Annenkapelle gestanden. Dieselbe war 1714 von Kloster Zella erbaut. Sie war früher ein vielbesuchter Wallfahrtsort. Nach der Aufhebung des Klosters kam sie dann in den Besitz des Herrn Röbling in Mühlhausen, von dem sie sein Enkel Lutteroth erbte. Zwischen diesem und der katholischen Geistlichkeit kam es dann zu einem Prozesse wegen der Kapelle, der zu Gunsten Lutteroths entschieden ward. 1850 verbot dann Lutteroth die Wallfahrten und ließ 1869 das Gotteshaus niederreißen. Die Stationen erhielt Pfarrer Schäfer in Lengenfeld, der sie der Gemeinde Hildebrandshausen schenkte. Eine Glocke erhielt Lengenfeld und die zweite Dieterode. Das Annenbild erhielt Struth. Vor dieser Kapelle war schon eine andere vorhanden. Der Turm derselben blieb bei ihrem Abbruch stehen und ward beim Bau der neuen 1714 mit verwandt. Ein Stein trug die Jahreszahl 1672.

Der Annenberg hat zauberische Reize. Hier lässt es sich gut rasten und eine Stunde erquickender Ruhe tut gar wohl, besonders hier am Laubwalde und die Zeit wird keinem dabei zu lang. Wir knüpfen deshalb unsere Hängematten von den Rädern und befestigen sie an Bäumen. Behaglich strecken wir dann die erschlafften Glieder in dem Bindfadengeflecht. Breitkrönige Buchen spenden erquickenden Schatten. In der Nähe ein köstliches Friedensbild! Über uns das Summen der fleißigen Bienen, das wie fernes Orgelklingen anmutet. Hoch in der Luft ziehen zwei Bussarde ihre Kreise und am stahlblauen Himmel stehen einige Federwölkchen. Jetzt läuten Glocken. Ist‘s Wirklichkeit? Rufen sie ankommenden Prozessionen den Willkommengruß zu? Ach nein! In Effelder ist heute Nacht der Tod durch die Straßen geschritten und eine blühende Jungfrau wurde leblos im Bette aufgefunden und traurige Glockentöne verkünden es den erstaunten Dorfbewohnern. Die Zeit, wo fromme Pilger hier oben am Gnadenorte ankamen, um der Mutter Anna ihr Leid und Weh vorzutragen oder ihren Dank für gnädige Errettung aus großer Not zu erstatten, ist längst dahin. Leider. –

Etwas entfernt reges Leben! Alle verfügbaren Hände sind in Tätigkeit, um den reichen Erntesegen einzuheimsen. Eine hochbeladene Fuhre Roggen schwankt soeben der Feldscheuer zu und dort klappert um ein goldig schimmerndes Weizenfeld die Mähmaschine. In Hemdärmeln, „den baumwollenen Lappen“ um den Kopf gewunden, folgt ihr eine Schar garbenbindender Mädchen, deren fröhliches Lachen das Rattern der Maschine übertönt. Ein Sperber rüttelt über einem Haferschlage, aus dem ein Hase flüchtet. Ein Fuchs, der in der Furche daherschleicht, hat ihn auf die Läufe gebracht. Jetzt steckt er die Nase in die Hasenspur und schleicht ihr nach. Schon ist er dem Walde, an dem Lampe gehoppelt, auf 70 Schritt nahegekommen, da hebt sich hinter der Buche am Waldessaume ein Flintenlauf. Auch Reinecke hat die Bewegung wahrgenommen. Er steht und vorsichtig äugt er nach jener Stelle.

Doch „Pitsch!“, spricht da ein kleinkalibriges Mauserlein und legt den roten Räuber um. Im Nu ist Tessa bei ihm. Mit weitgeöffnetem Fang schnappt der totwunde Freibeuter um sich. Es hilft ihm nicht; mit sicherem Griffe packt ihn Tessa, der Langhaarige, schüttelt ihn ein paarmal kräftig und apportiert ihn seinem Herrn.

– Wohl eine Stunde hatten wir in sinniger Naturbetrachtung verbracht, da rissen wir uns los, knüpften die Hängematten wieder an die Räder und schickten uns an zur Weiterreise. Da kam der Waidmann auf uns zu und da wir uns schon öfters getroffen, machte ich die Herren bekannt mit den Worten: „Herr Rittmeister von Fries – Kollege S.“ „Wir suchen nach dem nächsten Wege zu ihrem Kloster“, wandte ich mich an den Herrn Rittmeister. „Der ist hier, ich wollte denselben auch soeben benutzen und wenn die Herren über sicheren Tritt und feste Sohlen verfügen, will ich gern ihr Führer sein“, entgegnete Herr von Fries. Unser neuer Reisebegleiter hatte in beiden Punkten recht, das sahen wir bald ein. Freute sich der neckische Till Eulenspiegel bei jedem „Bergauf“ auf das „Bergab", hier hätte er seine Hoffnung getäuscht gefunden. Stellenweise war der Fußsteig eine Rutschbahn, stellenweise eine unregelmäßige Felstreppe. Schrittchen für Schrittchen kraxelten wir, teilweise die Räder auf dem Rücken, hinab. An die 20 Meter mochten wir schon hinabgestiegen sein, da machte der Weg eine Biegung und wir standen auf einem Felsvorsprung. Unter uns lag das Kloster Zella.

Kloster Zella

Komm, du Verächter des Eichsfeldes und schau von hier aus mit uns hinab auf Zella, die Perle im Waldesgrün, eingerahmt von Kälberberg, Klauskuppe, Annenberg und Hopfenberg und du wirst zu einem Verehrer unseres arg verschrienen Ländchens werden! Lange standen wir da und weideten unsere Augen an dem lieblichen Bilde. Dann begann der Herr Rittmeister: „Zella ist wohl das älteste Frauenkloster des Eichsfeldes. Seine Gründung fällt in das Nebelgrau der Vorzeit. Tastan, ein Raubritter, der dort oben auf dem Kälberberge in Altvaters Loch sein Räuberleben sühnte, soll sein Gründer sein. Nach der Friede, welcher die Klauskuppe beim Kloster ihr Dasein gibt, nannte er seine Gründung Friedesprung; seiner charakteristischen Lage entsprechend wurde es später in Kloster Zella umgetauft.“ Nicht weniger als 31 Ortschaften werden in allen Urkunden aufgezählt, die zins- und lehnpflichtig waren. Übrigens kann ich die Geschichte des Gotteshauses nur durchfliegen. Die Stürme des Bauern- wie auch die des 30-Jährigen Krieges trugen ihre Wehen nach Kloster Zella. 1532 bargen die Klostermauern nur noch 2 Nonnen. Zahlreiche Besitzungen und Gerechtsame mussten verkauft werden und manchen Strauß hatten die Äbtissinnen sogar mit den kurfürstlichen Beamten auszufechten, um nicht ihre Stiftsgüter zu verlieren. Unsägliches Elend knüpft sich an die Namen: Christian von Braunschweig, Selig, Hännichen, Königsmark. Oft nur notdürftig gekleidet, mussten sie schleunigst ihre stille Zelle verlassen und im Walde oder in den nächsten Ortschaften Zuflucht suchen. –

In ruhigeren Zeiten aber kehrten sie zurück, bauten die abgebrannte Kirche wieder auf und wenn heller Glockenklang ertönte, wanderten sie in feierlichem Zuge zum Gotteshaus. Dort beteten sie und sangen ihre Lieder. All ihre Sorge war auf die strenge Beobachtung der klösterlichen Gelübde gerichtet. Wehe der Ordensbraut, die es mit ihren Ordensgelübden nicht genau nahm; sie war von Gott und der Welt gerichtet. Das zeigt uns die Gespenster-Nonne.

Die Gespenster-Nonne

Es war in der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts. Luthers Lehre von der Freiheit war auch in das stille Tal der Friede gedrungen und hatte das Herz einer jungen Gottesbraut im Kloster Zella betört. Lauer und lauer wurde diese in Beobachtung der Ordensregel. Wenn ihre Mitschwestern Hilfe und Stärkung in ihrem schweren Berufe im Gebet suchten, schlich sie tränenden Auges in ihre freudlose Zelle und grübelte nach über die neue Lehre.

Überdrüssig, noch länger in den engen Klostermauern die besten Jahre ihres Lebens zu verbringen, sehnte sie sich nach den Freuden der Liebe. Längst schon war ihr verändertes Wesen den Klosterschwestern aufgefallen. Sie gaben sich alle erdenkliche Mühe, die Irrgeführte wieder auf den rechten Weg zu bringen; aber es gelang nicht. Da meldeten es diese der Äbtissin; allein auch ihr Bitten und Flehen war vergeblich. Als nun gar ruchbar ward, dass die Gottvergessene das Ordenskleid in größter Weise beschmutzt hatte, wurde sie vor den Konvent geladen. Mit schwerem Herzen sehen die Ordensschwestern der entscheidungsvollen Stunde entgegen. Endlich war sie da. Sämtliche Nonnen begaben sich auf den großen freien Platz unter der Linde im Klosterhofe und schlossen einen Kreis. Sengende Strahlen sandte die heiße Julisonne vom stahlblauen Himmel herab und steigerte noch mehr das schon vorhandene Angstgefühl der Gottesbräute.

Da horch! Ein rasselndes Geräusch und zwölfmal hebt sich der Hammer der alten Kirchenuhr und fällt dröhnend herab auf die Glocke. Sofort öffnet sich die Klosterpforte und heraus tritt die Äbtissin und nimmt auf einem erhöhten Platz Aufstellung. Mit kräftiger Stimme ruft sie dann den Namen der Unglückseligen. Mit trotzigem Antlitze tritt diese in den Kreis. Die Priorin verliest laut und deutlich die Anklagepunkte und reicht diese dann der Äbtissin zurück. Diese aber wendet sich jetzt mit dröhnender Stimme an die Angeklagte und fragt: „Erkennst du dich dieser Freveltat schuldig?“ „Ja“, ertönt es von den Lippen der Unglückseligen. „Dann tue Butze, damit dich nicht trifft das strenge Gericht Gottes!“, fährt die Äbtissin fort. Bei den letzten Worten kracht ein furchtbarer Donnerschlag, ein jäher Blitz und tot stürzt die ruchlose Nonne zu Boden. Kaum aber hatte die so jäh Dahingeschiedene den letzten Atemzug getan, als es im Kloster anfing zu spuken. In den Klosterzellen und Gängen erschien sie als Gespenst und verbreitete Furcht und Schrecken. Erst nach vielen Jahren schien sie endlich die ersehnte Grabesruhe gefunden zu haben. –

Nach Mitteilung meines Freundes Wüstefeld wird die Lage auch so erzählt:

„Es war zur Zeit eines starken Gewitters, als einem Ehepaar in Struth eine wunderschöne Tochter geboren wurde. Die Eltern aber meinten: „Wer zur Zeit eines Gewitters geboren wird, wird auch vom Gewitter erschlagen.“ Als die Tochter herangewachsen war, hörte sie auch von den Umständen ihrer Geburt. Sie trat deshalb in das Kloster Zella ein. Infolge ihres musterhaften Betrages wurde sie zur Äbtissin erwählt. Einst stand ein schweres Gewitter über Zella. Furcht und Schrecken ergriff die Nonnen. Da ging die Äbtissin von 2 Ordensschwestern begleitet unter die Linde auf dem Klosterhofe und wurde von einem Blitzschlage getroffen. Die beiden Nonnen aber blieben unverletzt. Bald darauf zog das Gewitter von dannen.“ –

Schweigend setzten wir unsern Abstieg fort. Als wir wieder 20 Meter hinabgekraxelt waren, standen wir vor den Klosteranlagen. Über dem Tore, das uns Einlass gewährt, sehen wir drei Nischen, in denen die Statuen der Schmerzensmutter, die des hl. Benediktus und des hl. Bonifatius stehen. Im Innern sieht man auf zwei gewundenen Säulen 2 Köpfe, von denen der eine (der Teufel) nach der Kirche und der andere (ein Bischof) nach den Wohngebäuden schaut. Die Kirche ist ihres religiösen Schmuckes beraubt, soll aber jetzt wieder instandgesetzt werden. Von interessanten Denkmälern aus früherer Zeit nimmt besonders eine Kommode unsere Aufmerksamkeit in Anspruch. Sie trägt noch die Spuren aus den unruhigen Tagen des Jahres 1848. Das war eine böse Zeit für das Kloster.

Der Sturm auf Kloster Zella

Am 22. Mai 1811 war es in die Hände Lutteroths und Röblings zu Mühlhausen gekommen. Die Klosterdörfer Struth und Effelder hatten in Klosterzeiten die Begünstigung, Raff- und Leseholz, Laub und Streu aus dem Walde holen zu dürfen und ihr Brennholz bekamen sie zu einer billigeren Taxe. Die weltlichen Besitzer hoben diese Begünstigung aber auf und das machte besonders in Struth böses Blut. Da kam am 23. März der Frachtfuhrmann Sch. aus Mühlhausen zurück und erzählte am Abend in der Schenke eine wunderliche Mär. Berlin sei im Aufstande und in Mühlhausen ginge alles drunter und drüber. Freiheit und Gleichheit sei ausgerufen und das müsse auch in Struth geschehen! „Ja woll! Jetzt oder nie!“, rief da eine Stimme aus der Mitte der Versammlung. „Kaum ist das alte Strafmandat beglichen, da kommen schon wieder neue fürs Holzlesen und das ist doch unser gutes, altes Recht! Den Grünrock soll der Teufel holen!“

Am 24. März abends versammelte man sich dann noch einmal in der Schenke, trank sich den nötigen Mut und zwang dann den Schulzen zur Herausgabe der Landsturmtrommel aus den Freiheitskriegen. Unter dem Rufe: „Freiheit und Gleichheit!“ wälzte sich dann ein Haufen von 60 – 70 Mann dem Kloster Zella zu. Den ersten Anprall hatten Förster Hahn und Hofmeister Bösel auszuhalten; ihre Gerätschaften wurden zertrümmert, die Lebensmittel geplündert. Dann wurden des Klosters Tor und Tür, Fensterläden und Fenster eingeschlagen. Die Möbel wurden auf den Hof geschleppt und angezündet; 20 Fuß hoch sollen die Flammen geschlagen haben, als man auch die Akten und Wertpapiere ins Feuer warf. Sodann begann eine regelrechte Plünderung; Wein, Schnaps, Feldgieker und andere Esswaren waren die beliebtesten Raubobjekte. Zu Blutvergießen kam es glücklicherweise nicht, denn die Herrschaft hatte sich rechtzeitig geflüchtet und Förster Dunkelberg, auf den man es hauptsächlich abgesehen hatte, war unter Heu versteckt, bis auch ihm die Flucht gelang.

Gegen 3 Uhr morgens zog der Haufe, reichlich mit Raub beladen, ab. Was die Struther übriggelassen, holten sich am andern Tage Effeldersche und Faulunger. Den tieftraurigen Vorfall hat ein Dorfpoet verewigt in einem Liede, in dem fast jedes Dorf sein Fett kriegt. Wenn noch heute bei fröhlichem Gelage die Strophe ertönt: „Nun kommt die Reih wohl an die Struth, ralalallallala. Wo Schneidermichel trommeln tut, ralalallallala, da stürmt ja alles, wohl Groß und Klein. Mit Hurrah, zum Kloster Zella hinein“, kann man sicher sein, dass da besonders „aufgedrückt“ wird. Aber der Dorfpoet hat stark übertrieben; die biederen Struther sind durchaus nicht so rebellisch – nur ein paar irregeführte Querköpfe hatten den Sturm verschuldet.

Genutzt hat ihnen der Aufstand nichts, rein gar nichts, aber geschadet desto mehr. Auf den Hilferuf des Administrators Achilles waren Kürassiere aus Mühlhausen erschienen und 3 Einwohner sofort nach Mühlhausen ins Gefängnis abgeführt. Gegen 41 Personen wurde Anklage erhoben, davon 23 zu mehrjähriger Zuchthausstrafe verurteilt, und manchem hat es Haus und Hof gekostet.

Zwei Kampfhähne

Die Abschiedsstunde rief. Wir dankten dem Herrn Rittmeister für die freundliche Aufnahme und die genussreiche Stunde, die er uns mit seinen Erzählungen verschaffte. Dann bestiegen wir die Räder und fort ging es dem Friedatal hinab. Ist das eine Fahrt! Linkerhand Brandkopf und Schrännberg, rechts Kälberberg und neben uns gluckert die plätschernde Frieda dahin. Bald erweitert sich das Tal, immer mehr treten die Berge linkerhand zurück. In der Ferne leuchten rote Ziegeldächer auf und Lengenfeld grüßt herauf. Doch was ist das? An der Stelle, wo die Faulunger Chaussee in unsere Straße einmündet, erhebt sich eine Staubwolke. Wie Kampfhähne stehen sich zwei Schuljungen einander gegenüber. Ihr Schreien und Gestikulieren verrät nichts Gutes. Jetzt fuchtelt der eine mit geballter Faust dem andern unter der Nase herum. Ein Blutstrahl spritzt aus dem Gesichtserker. Schwapp! hat der Angreifer auch eins im Gesicht und ein regelrechter Faustkampf folgt. O weh! Da gleitet einer der Kämpfer aus; er bricht in die Kniee und wird nun zu Boden geworfen. Bald wälzt sich ein wirrer Knäul am Boden. „Au – minn Kopp!“, ruft der eine. „Wart, ich will dir schimpfen helfen!“, schreit der andere und dabei hagelt‘s nur so von Knüffen und Püffen. Selbst dem kleinen Spitz, der dabei steht, wird die Sache zu bunt. Wütend knäfft und packt er in den Knäul und – raaatsch – hat er ein Stück Hosenbein im Maule. Freudestrahlend springt er mit der Siegestrophäe umher. „Wart nur, ihr Rangen, Mutter wird heute Abend die Höschen wieder ausbessern und die Röckchen ausklopfen!“ Unsere Annäherung blieb unbemerkt. Die Jungen springen auf; ein paar Augenblicke starren sie sich an, regungslos. Dann ergreift der eine die Flucht und rennt dem Dorfe Faulungen zu. Das war auch unser Ziel und bald war der Flüchtling eingeholt. Jetzt erfuhren wir auch den Anlass zur Rauferei. Der Junge war aus Faulungen. Faulungen ist eingekreist von Obstgärten, in denen besonders Zwetschen- und Pflaumenbäume sehr ertragreich sind. Zur Zeit der Obstreife duften die Straßen von Musgeruch und die Muskrücke hat vollauf Arbeit. Das hat den Dorfbewohnern den Spitznamen „Muskrücken" verschafft. Der Faulunger Junge war in der Apotheke in Lengenfeld gewesen und war von einem Lengenfelder Jungen mit „Muskrücke“ gefoppt worden. Als dieser dann den Lengenfelder mit „Butterknoten“ quittierte, war es zu der Katzbalgerei gekommen.

Wie Faulungen seinen Namen erhielt

Nun aber vorwärts nach dem Dorfe; dort soll der knurrende Magen zur Ruhe gebracht werden. Bald war es erreicht und die Bäder hielten vor dem Wirtshause im langgestreckten Dorfe. Wir gingen hinein und mit den Worten „Ist das eine Hitze!“ hingen wir unsere Hüte an den Nagel. Der Wirt, ein Eichsfelder von echtem Schrot und Korn, zeigte sich sehr zuvorkommend. Wir stärkten uns mit frischen, weichen Eiern sowie mit gutem Bier. Bald fing die Unterhaltung an, gemütlich zu werden, da der Wirt voller Witze und Schnurren saß, die er uns als Selbsterlebtes auftischte. „Wie ist ihr wundervoll schön gelegenes Dorf nur zu dem prosaischen Namen „Faulungen gekommen“, wandte ich mich an unsern Wirt. „Ach ja“, erwiderte er, „der Ort sollte und musste ja Friedaroder Freudental heißen. Aber wie das oft so geht.“

Um das Jahr 1300 gab‘s noch kein Faulungen. Da, wo jetzt das Dorf steht, waren damals Wiesengründe. Ershäuser und Reinhard Kistner zu Hildebrandshausen hatten hier große Besitzungen. Die schöne Gegend aber lockte bald Ansiedler herbei und 1358 entstand das Dorf. Lange stritt man sich in einer Gemeindeversammlung um einen entsprechenden Namen. „Friedenstal“, meinte der Schultheiß, müsse der Ort heißen, weil er im Friedatal liege. Die Gemeindsleute aber bestanden auf Freudental, weil es hier so schön sei. Zufälligerweise trat da der Hildebrandshäuser in die Schenkstube. Er triefte nur so von Schweiß. Nur unter der größten Anstrengung hatte er sein Heu von der Wiese bringen können, da die Wagenräder bis an die Achsen im feuchten Boden einsanken. „Ach was Freudental – nee, Faulungen ist der rechte Name, da bei euch ja alles pol – pul, ful – pfuhlicht – sumpfig ist“, rief er. Das ärgerte die Dorfbewohner und: „So ein Hauberschüsser! Füllenbein!“, schrie da einer, und schnell riss der Hildebrandshäuser aus. Die Geschichte sprach sich aus und Faulungen hatte seinen Namen weg. –

Die Faulunger aber konnten sich mit ihrem Vornamen nicht befreunden und oft, wenn sich ein Hildebrandshäuser sehen lässt, wird er von der Faulunger Jugend mit dem Verschen bedacht:

„Hauberschüsser Füllenbein
Huck mich uff und track mich heim,
Track mich bis uff Keidelstein;
Geh ich ganz alleine heim!“

Über solch originelle Dorfjustiz treten meinem Begleiter vor Lachen die Tränen in die Augen. Übereilt wandte er sich an unsern Wirt, der mit einem ziemlich großen Riechorgane ausgestattet war, und meinte: „Bei Austeilung der Nasen sind sie wohl zweimal hingelaufen?“ „Im Gegenteil!“, entgegnete schlagfertig der so Angeredete, „als die Nachricht von der Nasenverteilung hier eintraf, war ich gerade beim Muskochen und da war mir der Kessel angebrannt. Ach, den musst du erst auskratzen, deine Nase wirst du noch kriegen, dachte ich. Doch ich hatte mich geirrt. Als ich hinkam, hatte Petrus nur noch zwei Nasen auf dem Tische zur Verteilung liegen. Die eine war eine recht große und die andere – nun das war so en Puppelding, so ne R.-tznase, wie dü do im Gesichte haat. Da dachte ich, da willst du doch lieber die große wählen und das tat ich.“ „Bravo, Vetter Görge!“, rief es da vom Nebentische und „Vetter Görge“ hatte die Lacher auf seiner Seite. –

Länger als beabsichtigt hatten wir uns bei „Vetter Görge“ aufgehalten; das sinkende Tagesgestirn ging allmählich zur Rüste und mahnte zum Aufbruch. Bald lag Faulungen hinter uns und Tannenwald nahm uns auf. Abendstimmung lag auf Feld und Wald. Wir konnten es uns nicht versagen, vom Waldrande aus einen kleinen Rückblick zu hasten. Mächtige goldene Ausstrahlung ging von der Sonne aus, die sich bald den ganzen westlichen Himmel eroberte und alle Wolken und Wölkchen erfasste. Wie ein Netzwerk spannten sich die Wolken und durch sie lugten blaue Himmelsflocken. Der goldgelbe Schimmer wandelte sich in flüssig Rotgold, bis die Sonne hinter den Bergen verschwunden war und dann ging das Rot in zartes Rosa über. Da hoppelt ein Hase nach dem Esperstück und mummelt die saftigen Stengel. Dort, weiter abwärts, tritt sichernd ein Reh heraus und zieht nach dem Wiesengrunde. Piepend flattern die Tannenmeisen von Ast zu Ast. Drüben ist inzwischen Freund Mond aufgegangen und mahnt zur Weiterreise.

Bald nimmt uns Laubwald auf. Drossel und Rotkehlchen, die Sänger der Dämmerung, zetern und ticken im Unterholze. Auch Reinecke, der Schelm, ist auf den Läufen und äugt uns mit seinem Spitzbubengesichte nach. Doch mir müssen weiter. – Immer steiler wird die Landstraße und der Laubwald wird vom Tannenwald abgelöst. Wir schieben unsere Stahlrosse und sind froh, als die Wanfried – Mühlhäuser Chaussee erreicht ist. Wir schwingen uns wieder auf die Räder und sind in 15 Minuten daheim. Voll von köstlichen Eindrücken war die Fahrt und ein Besuch des Friedatales kann nur jedem empfohlen werden.

Liborius Goldmann
(Quelle: „Mein Eichsfeld“, Jahrgang 1928, Seite 60 – 73)