Herbstwanderung in das Tal der Frieda (1933)

Ein wunderbarer Herbsttag. Mit letzter Kraft sendet noch einmal die Sonne ihre Strahlen auf die Mutter Erde und überflutet sie mit gleißendem Gold. Mich hält es nicht mehr im engen Zimmer – ich muss hinaus in die Natur, um den Sterbeprozess, der draußen vorgeht, zu schauen. Rasch habe ich mir ein Ziel gesteckt – das lauschige Friedatal mit dem in süßer Heimlichkeit verborgenen, sagenumwobenen Kloster Zella will ich in Herbstespracht bewundern.

Lustig wandere ich die Lengenfelder Landstraße entlang, vorbei an kahlen Feldern, über die der Altweibersommer seine langen Fäden gezogen hat. Silbern glitzert und funkelt es über die Flur. Der „Struther-Berg“ liegt in allen Farben schillernd vor uns. Doch nun verlasse ich die staubige Straße und biege links ab. Aus dunklen Tannen ragen über den „Lutterodtsbäumen“ (nach dem früheren Besitzer von Kl. Zella Wilhelm Lutterodt benannt) einige knorrige Äste einer alten Eiche hervor, im Struther Volksmunde „Wandereiche“ genannt. Nach kurzer Wanderung durch den dunklen Tannenwald stehe ich unter diesem Zeugen aus längst vergangener Zeit. Wie ein dem Tode geweihter Riese breitet die Eiche ihre mächtigen Arme nach allen Seiten hin aus. Ihr Stamm hat einen Umfang von 4 m. Auf der einen Leite hat der Zahn der Zeit ihn bis fast zur Mitte (1,15 m tief) ausgehöhlt, so dass ein Erwachsener in gebückter Stellung darin Platz nehmen kann. Vor mehreren Jahren war diese Stelle bereits durch ein Gemäuer befestigt worden; doch ist dieses wieder ganz zerfallen. Immer größere Stücke brechen vom Stamme ab. Manches Struther Kind und manchen Ausflügler hat dieses uralte Naturdenkmal schon auf seinen breiten, knorrigen Armen getragen und manchem Vogel hat es ein schützendes Obdach gewährt.

In Gedanken versunken, lasse ich mich auf einer der knorrigen Wurzeln nieder. Plötzlich knackt es in den Tannen, überrascht blicke ich auf und gewahre einen schmucken Weidmann, der eben in die Lichtung tritt. Es ist der jetzige Besitzer von Kloster Zella, Rittmeister von Fries. Nach herrlicher Begrüßung stelle ich an den Herrn folgende Frage: „Herr Rittmeister ist Ihnen über das Aster und den Namen dieser alten Eiche nichts bekannt?“ „Auch ich habe schon oft darüber nachgeforscht, habe aber bis heute noch nichts Spruchreifes darüber in Erfahrung bringen können, es ist aber anzunehmen, dass der Name „Wandereiche“ von einem in früherer Zeit hier vorbeiführenden ‚Wanderweg‘ stammt“, entgegnet mir der Herr in freundlicher Weise. Nachdem ich mir die Erlaubnis zur Besichtigung des Klosters erbeten habe, trennen wir uns mit einem kräftigen „Weidmanns Heil“.

Talabwärts schreite ich nun durch das dichte Unterholz der „Lutterodts-Bäume“ und gelange auf einen mit Moos bedeckten, weichen Waldweg, der bald wieder in die steile Landstraße mündet. Als ich in die rechts abliegende Klosterstraße einlenke, bleiben meine Augen an einem seltsamen Naturwunder haften. Eine Esche und eine Buche sind dicht ineinander verwachsen und haben sich gegenseitig mit ihren langen Armen umschlungen. Es mutet mich so an, als sei es ein Abschied nehmendes junges Paar und ich muss an die Lage vom „Ritter und der Nonne“ denken, die sich um dieses Naturwunder webt. Ein leises Rascheln in dem Gezweig über mir: – lustig und behänd hüpft ein Eichhörnchen von Krone zu Krone. Inmitten einer grünen, feinbeschnittenen Tannenallee schreite ich dahin und erblicke plötzlich das herrliche Waldidyll Zella. Eine Brücke führt mich über die „Frieda“, die leise murmelnd durch das Kiesbett springt. Hin und wieder nimmt das Bächlein seinen Lauf über einen Damm oder über eine Fischtreppe. Muntere Fischlein geben ihm das Geleit. Linker Hand liegt der alte Mühltisch. Wasserpflanzen und Moos schimmern aus der grünen Tiefe herauf. Wo sonst die alte Mühle stand, ist jetzt ein „Bassin“ entstanden, in dem sich allerlei Fischlein tummeln. Der Besitzer ist ein großer Liebhaber der Fischzucht.

In der weiteren Umgebung des Klosters gewahre ich noch einige größere Fischteiche. Rechter Hand des Mühlteiches und der Klosterstraße, unweit der Frieda, steht inmitten einer sattgrünen Wiese eine von einem Eisengitter umfriedete Eiche. Oberhalb des Gitters ist ringsum folgende Inschrift angebracht:

„Herr Christian Andreas Rudolph Weiß pflanzte diese Eiche im Jahre des glorreichen Friedens 1871.“

Also eine „Friedenseiche“, denke ich und schreite weiter der Klosterpforte zu. Wohin das Auge blickt, überall sieht es herrliche mit Ziertannen bepflanzte Anlagen, umsäumt von einer mit Efeu überwucherten Mauer. Nach wenigen Schritten stehe ich vor dem Klostertore. Uralte Linden lassen ihre langen, kahlen Äste bis fast auf die Erde herabhängen. Unter einer dieser Linden ist ein altertümliches Stationsbild, den leidenden Heiland mit dem Kreuze darstellend, errichtet. Im oberen Teil erkenne ich die Jahreszahl 1627. Ringsum in den Linden und im hohen Waldesdom zwitschern die Vögelein, – sonst herrscht majestätische Stille in dieser Friedensoase.

Im Klosterhof angelangt, fällt mein Blick auf das von einem wohlgepflegten Rasenplatz umgebene, altehrwürdige Klosterkirchlein. Wilder Wein, rot flammend, hat seine Ranken um das alte Gemäuer geschlungen. Das Innere des Kirchleins ist vom kunstliebenden Herrn von Fries in ein kleines historisches Museum umgewandelt worden. Alte, kunstvolle Waffen, Wappen, Figuren, Gemälde usw. werden hier dem Besucher gezeigt. Zum ganz geringen Teil stammen diese Gegenstände noch aus der Zeit der Nonnen.

Bei meinem weiteren Rundgange zieht ein in wilder Romantik gehaltenes Lustgärtchen meine Aufmerksamkeit auf sich. Auch der Klosterlaube mache ich meinen Besuch. Überall, wohin das Auge blickt, herbstliche Farbenpracht; dazwischen schlängelt sich die „Frieda“ durch den mit Herbstzeitlosen besäten Wiesengrund.

Nachdem sich meine Augen an dem farbenfrohen Bild satt geschaut haben, kehre ich zurück vor das Klostertor. Gleich linker Hand führt mich eine schmale Treppe auf den Waldweg hinter dem Kloster, auf dem ich meine Wanderung fortsetze, bis ich an einer Waldlichtung angelangt bin. Ein einfaches Holzkreuz, an einer Buche befestigt, grüßt mir entgegen. Hier ist der Familienfriedhof des Hauses von Fries. Unter dem Grabstein rechter Hand, mit einem Wappen verziert, ruhen die beiden Söhne des nunmehr ebenfalls verewigten Generalleutnants Rudolf von Fries und seiner noch lebenden Gattin Luise von Fries, geb. Freiin von Böcklin-Böcklinsau, Wolfgang und Lothar, die im Weltkrieg den Heldentod fürs Vaterland starben. Das Grab linker Hand ist ebenfalls mit einem schlichten Stein verdeckt. Unter diesem schlummert der im Januar d. J. verstorbene Generalleutnant Rudolf von Fries der Auferstehung entgegen. Im Buchenwalde ringsum ein leises Raunen. Blätter fallen hernieder auf die Heldengräber. Ein heiliger Schauer erfasst mich und mahnt auch mich an ein Sterben und Vergehen. Ein ergreifendes: „Memento mori.“ –

In dieser Zeit, in der die in letzter Pracht prangende Natur sich zum großen Sterben anschickt, greift mir leise die Wehmut ans bange Herz. Unwillkürlich falten sich meine Hände zum kurzen Gebet für die Seelenruhe der Verstorbenen. Dann steige ich durch die „Habesucht“ hinab, zur „Schwarzen Brücke“ an der Lengenfelder Straße. Ein breiter Staudamm hat hier das Wasser der „Frieda“ zu einem kleinen Teich angesammelt. In ansehnlicher Stärke plätschert hier das Bächlein über die Fischtreppe unter der Straße dahin. Mit meinen Blicken verfolge ich seinen Lauf, vorbei an der links liegenden „Klosterschranne“, dem Dörfchen Lengenfeld u. St. entgegen. Darüber, aus dem Waldessaum lugt verstohlen ein Rehlein hervor. Schüchtern tritt es jetzt ans Bächlein, um sich an dem kühlen Wasser zu laben. Es ist ein Bild, dem ich die Bezeichnung „Herbsteszauber“ geben möchte.

Das Glöckchen des Klosterkirchleins verkündet eben 6 ½ Uhr. Ganz allmählich kommt bereits die Dämmerung aus dem Tal heraufgekrochen und es wird Zeit, dass ich mich auf den Heimweg mache. Doch zuvor will ich noch den „Sommerieber" (Sommerberg), der sich links vor meinen Blicken erhebt, besteigen. Nach kurzer Wanderung erreiche ich das „Goldbörnchen“, an dem ich mich erquicke und bald stehe ich zu Füßen der „Klauskuppe“, dem unteren Teil des „Sommeriebers“. Etwa ein Viertelstündchen währt der Aufstieg. Nun stehe ich oben auf dem Gipfel des „Sommeriebers“. Zu meinen Füssen lugt still und verträumt Kloster Zella. Immer tiefer breitet die Dämmerung ihre schwarzen Schwingen aus. Erlkönigs Töchter schütteln ihre Schleier und die dunklen Nebelgestalten wecken in mir die Sagen, die sich um Kl. Zella weben. „Es war einmal …“ – so raunt es leise in der Abenddämmerung.

Drüben vom „Annaberg“ herüber erschallt langgezogenes Blöken. Es sind die von den „Struther Gemeindeweiden“ heimwärts ziehenden Herden. Durch die Fichten des „Struther Berges“ hindurch strebe auch ich nun eiligst meinem Heimatdörfchen zu. Geruch von verbranntem Kartoffelkraut durchzieht die Abendlust. Leise erklingt eine Abendglocke; drüben in Effelder läutet man den Abend ein. Fast im gleichen Augenblick setzt auch die Struther „Betglocke“ ein. In dem nahen Flurkapellchen kniee ich vor dem Bilde des Gekreuzigten nieder und bete den „Angelus“ aus dankerfülltem Herzen. „O Herr, wie schön ist deine Welt.“ In das vom süßen Abendfrieden umgebene Dorf eintretend, kommen mir plötzlich die Worte eines Heimatdichters in den Sinn:

„Sei mir gegrüßt, du waldumrauschtes Friedatal.“

Vinzenz Hoppe, Struth
(Quelle: „Mein Eichsfeld“, Jahrgang 1933, Seite 74 – 76)