Als Brüderchen und Schwesterchen über die Grenze gingen

Da waren einmal ein paar Kinder gewesen, ein Brüderchen und ein Schwesterchen. Ihr Vater war im Krieg gefallen, und die Mutter musste den baufälligen Schuppen reparieren lassen. Da es im Osten keine Nägel gab, schickte sie die Kinder schweren Herzens über die Grenze zum Einkaufen. Sie selbst konnte nicht, denn sie hatte ja noch den Pflegebedürftigen Vater im Haus, den sie nicht allein lassen konnte.

Frische Eier packte sie ihnen ein, etliche Paar selbst gestrickte Socken und ein geschlachtetes Huhn.

Die Kinder waren tags zuvor fort gewesen und hatten kleine Sträuße mit Klatschmohn und Kornblumen gepflückt. Man hatte ihnen erzählt, dass andere ostdeutsche Kinder das auch so handhabten, um die Sträuße dort auf Westdeutschem Gebiet feilzubieten.

Als alle Aufträge erledigt waren, marschierten sie mit ihren Paketen Nägeln in Richtung Heimat. Beim Überschreiten der Grenze war es ihnen nicht wohl, und sie waren heilfroh, als sie ein Stück des Weges gegangen waren und das herrschaftliche Gut auf Ostdeutschem Boden erblickten.

Ein Neubauer von auswärts, mit einem eingefallenen Gesicht, der sich dort angesiedelt hatte, sah den prall gefüllten Rucksack auf Brüderchens Rücken an trat an sie heran:

„Sagt, was tragt ihr da, was habt ihr dort gekauft?“ Brüderchen war soeben im Begriff, den Mund zu öffnen, als ihn Schwesterchen heftig in das Bein kniff. Fast hätte er laut „Auwah!“ geschrien. Aber das ging nicht, er durfte nicht schreien!

Der Neubauer sprach erneut auf die Kinder ein und erzählte ihnen, dass, wenn sie nur noch ein Stückchen weiter mit ihrer Last zu gehen gedachten, sie einer scharfen Kontrolle in die Hände laufen würden. Sie sollten doch am besten ihren vollen Rucksack dort unter jenen eiche, die am Waldesrand stand, legen und Laub und dünne Zweige darüber tun. Morgen könnten sie ja kommen und dann den Rucksack wieder abholen. Brüderchen blieb stehen, sah zu Boden und fühlte die Last auf seinem Rücken schwerer und schwerer werden. Schwesterchen kniff nun noch stärker.

Wortlos trabten die Kinder weiter und wagten nur noch den Blick geradeaus.

„Na wenn ihr nicht hören wollt, dann müsst ihr eben fühlen“, vernahmen sie die keifende und ärgerliche Stimme des Neubauern hinter sich.

Da packte das Schwesterchen das Brüderchen bei der Hand und zog mit all ihrer Kraft, und die war wahrhaftig nicht von Pappe.

„Hab keine Angst“, sagte Schwesterchen, „Ich nehme mir jetzt diesen Stock hier und binde daran mein Taschentuch. Dann gehe ich immer ein Stücklein voraus. Solange die Luft rein ist, halte ich meinen Stock gerade in die Höhe. Droht Gefahr, dann senke ich ihn, und du weißt Bescheid.“

„Was soll ich tun, wenn die Kontrollposten vor mir stehen?“

„Dann lässt du den Rucksack auf deine Strickjacke fallen, und setzt dich darauf!“

„Und wenn die wissen wollen, was darin ist, mir das abnehmen und uns einsperren?“

„Ganz einfach, dann reißt du deine Augen ganz weit auf und zeigst hinüber in den Wald und rufst dabei mit lauter Stimme:

„O, da drüben laufen ein paar Männer mit ganz großen Kisten! Was die da bloß drin haben?“

Dann lassen sie dich in Ruhe und rennen in den Wald hinein und suchen die mit den großen Kisten!“

Natürlich hatte das Brüderchen Angst, riesengroße sogar! Aber er nahm all seinen Mut zusammen, denn er wollte die Mutter nicht enttäuschen und ihr die Nägel bringen!

Schwesterchen späte wie ein Luchs nach allen Seiten. Brüderchen sah den Braunen Haarschopf des Schwesterchens hoch- und niederwippen, aber den Stock mit dem Taschentuch, den hielt es stramm und gerade, und es schritt munter weiter.

Brüderchen erblickte einen Hasen, wie er quer durchs Gebüsch jagte, und sein Herz klopfte laut. Unter seinen Füßen knackte ein dünnes Zweiglein. Immer schneller wurden seine Schritte, und er fühlte, wie ihm Schweißtropfen übers Gesicht rannen.

„Nicht stehen bleiben, solange Schwesterchen läuft“, dachte er.

Ihm war es, als laufe Schwesterchen immer schneller. Erst, nachdem es eine Lichtung erreicht und den Blick ins freie Feld hatte, blieb es stehen und wartete aufs Brüderchen. Wie einen Fahnenmast hielt es den Stock mit dem weißen Tuch in beiden Händen, und es lächelte dem Brüderchen entgegen.

Diesem schien mit einem Male, als wäre die Last auf seinem Rücken leichter und seine Füße sogar flinker! Es ging vorbei an den Feldern und den Büschen, über den Bach, und linker Hand sahen sie den Bahndamm liegen.

Im Schatten des wilden Birnbaumes machten sie Rast, und Schwesterchen schenkte ihm den Riegel mit den Karamellbonbons, auf dem „Stollwerck“ stand.

Schmetterlinge tanzten neben ihnen im Reigen, und der Wind strich über das Kornfeld, sodass sich die Halme im Sommerwind hin und her wiegten.

Ein Gefühl der Freude stieg in ihnen auf, und nun rannten sie fast.

Es war nicht mehr weit bis zum Dorfe, denn sie hörten schon die Kirchenuhr schlagen.

Keine halbe Stunde später erreichten sie ihr Haus. Sie sahen Mutters banges Gesicht am Fenster.

Auch ihr leuchtendes Strahlen, als sie die Kinder erblickte.

Und der Schuppen? Der wurde umgebaut, und wenn er nicht abgerissen wurde, dann steht er heute noch!

Vor etlicher Zeit, da traf ich sie in gemütlicher Runde und sah sie dort sitzen, Brüderchen und Schwesterchen, und sie erzählten ihre Story von anno dazumal.

Das „chen“ bei ihnen, das passte nicht mehr, denn der Bruder hatte erheblich zugelegt und erreichte eine stattliche Länge von fast zwei Metern. Aber das Schwesterchen, das schien es wohl versäumt zu haben, bei der Längenverteilung mit lauter Stimme mehrmals „Hier!“ zu rufen.

Nur die Augen, die waren allemal noch recht flink und die Arme auch, denn als sie am Ende anlangten, da streckte Schwesterchen plötzlich den kleinen Arm nach ihm aus.

Ha, und der große Bruder? Der rückte doch wahrhaftig spontan und geschwind zum nächsten Stuhl!

Ich rückte natürlich von der anderen Seite auch sofort ein Stückchen weiter, denn ich verspürte auch keine Lust, mich vom Schwesterchen kneifen zu lassen, nachdem ich in Erfahrung gebracht hatte, dass sich der große Bruder davor heute noch fürchtete.

Anneliese Blacha