Die Eiben des Küllstedter Grundes (1936)

Heimatkundliche Beobachtungen mit meinen Schulkindern

Leben kann sich nur am Leben entzünden. Deshalb sollen die Schulkinder das ganze Jahr hindurch Teile der Umgebung ihrer Heimat durchforschen und neu entdecken, unter Leitung ihrer Lehrer Beobachtungen machen und aufzeichnen, um so ihre Pflegebefohlenen zur Boden- und Heimatverbundenheit zu führen. Das Beobachtungsgebiet, von dem hier gesprochen werden soll, ist der Küllstedter Grund von Langerode bis nach Eckstedt. Der nach Süden zugewandte lange Bergzug zeigt viele schroffe, steil abfallende Felskanten und steile Hänge, die mit Mischwald und allerlei Buschwald bestanden sind und an denen auch seltene Blumen wachsen, blühen und Früchte tragen. Sie alle sollen im Laufe des Jahres geschaut und beobachtet werden, obwohl die Eibe im Mittelpunkt der Arbeit steht. Die ersten Gänge an den herrlichen Vorfrühlings- und Frühlingstagen galten den ersten Boten unserer heimischen Frühlingsflora. Überall, von der Talsohle bis hinauf zu den Steilkanten drängt unter den Strahlen der warmen Sonne neues Leben aus dem Kalkboden hervor. Unter Busch und Baum, am sonnigen Hang lugen sie hervor, die Zwergsegge, das FrühIingsrietgras, Immergrün, das Schneeglöckchen, Lungenkraut, Scharbockskraut, Haselwurz, ein wunderbares Blümchen, ein Überbleibsel aus der Tertiärzeit, die Salweide, die Haselnuss und der starkduftende Kellerhals. Doch nun Eibe. Der ganze Hang ist auch mit einer verhältnismäßig großen Anzahl von Eiben bestanden, die von einigen Kindern gezählt und gemessen wurden.

Im ersten Abschnitt des Bergzuges, der nicht so gut geschützt war, wurden 6 Eiben gezählt, die durchschnittlich eine Höhe von 2,70 m bis 3,10 m erreicht haben und einen Umfang von 0,70 m bis 1,30 m aufwiesen. In einer Schlucht, sehr gut geschützt, jedoch auch hoch am Felsen, wurden 19 Eiben gezählt. Sie stehen hier in schöner Gemeinschaft mit Buchen und Ahorn. Herrliche, kerzengerade, noch junge Exemplare streben hier dem Lichte zu. Ihre Wurzeln graben sich in die Risse des Muschelkalkgesteins ein. Sie mögen wohl recht tief in die Spalten hineinreichen, um die zu ihrer Erhaltung nötige Feuchtigkeit in sich aufzunehmen. Alle diese hübschen jungen Stämme erreichen eine Höhe von 4 bis 4,40 m, eine ist sogar 4,70 m hoch. — Der Umfang aller Eiben bewegt sich zwischen 40 bis 70 cm.

Ganz in der Nähe dieser 19 Eiben befindet sich ein uralter Stamm, Höhe 6,20 m Umfang 2,10 m, schon geborsten und stark aufgerissen, mit vielen Ausschlägen. Sie ist von allen Seiten gut zu erreichen, so dass sie wohl zweifellos von unverständigen Laubsammlern beschädigt und verstümmelt wurde. Sie ist eine lebendige Anklage von Verständnislosigkeit der Menschen und ein Beispiel für sein brutales Vorgehen in der Natur. Was würde diese uralte Eibe aus ihrem jahrhundertelangen Leben erzählen können von Menschen, die in ihrer Nähe gewandelt, von Unwettern, die über ihr hingegangen und von Tieren, die zu ihren Füßen ihr Leben aushauchen mussten! Eine kleine Weile stehen wir bewundernd vor diesem alten Baum, der einige männliche Blüten trägt, die in dem sonnigen Jahre 1934 schon Anfang März zur vollständigen Entwicklung gelangt sind. In dem nun folgenden Abschnitt sind 9 Eiben zu sehen, von denen auch mehrere ziemlich nahe aneinander stehen. Eine von ihnen hat ihre Zweige so nach den Seiten hin ausgebreitet, dass einer derselben mit einem Buchenzweig vollkommen ineinander gewachsen ist, eine wirklich innige Gemeinschaft beider Bäume. Die Eiben sind dünn und schlank und drängen, mit den umstehenden andern Bäumen wetteifernd, sehr nach oben zum Licht. Sie haben deshalb auch fast alle eine Höhe von 6,40 m.

Im letzten Abschnitt, in der Richtung nach Eckstedt (Wüstung) befinden sich an teils schwer zugänglichen Stellen des Gebirgszuges ganze Gruppen Eiben zu 4 oder 5 Exemplaren, auch häufig mehr Strauch als Baum, teils schlank und noch jung, teils Ausschläge aus alten knorrigen Stümpfen, die wohl auf ein recht ehrwürdiges Alter zurückzublicken vermögen. In diesem Abschnitt wachsen noch 2 besonders starke und alte Eiben, von denen die eine männliche, die andere weibliche Blüten trägt. Überhaupt finden sich hier genug blühende Bäume, so dass es durchaus nicht an dem nötigen Anschauungsstoff bei der Betrachtung der Blüten fehlt.

Ehe wir uns jedoch zu den Blüten wenden, sei etwas Näheres über das Alter der Eibe angegeben. Anton Kerner von Marilaun hat in seinem Werk „Pflanzenleben, Bd. II, Pflanzengestalt und ihre Wandlungen, Organlehre und Biologie der Fortpflanzung“ Folgendes dazu zu sagen:

„Die Höhe und das Alter der Bäume sind in ganz sicheren Zahlen nicht festzustellen, aber so viel ist gewiss, dass jede Baumart gleichwie jede Tierspezias an eine bestimmte Größe und an ein bestimmtes Alter gebunden ist, die nur selten überschritten werden. Mit ziemlicher Sicherheit wurde unter anderem auch als Altersgrenze berechnet: Eibe = 3000 Jahre; Höhe = 15 m, Durchmesser = 4,9 m.“

Eiben von solchem Alter, solcher Höhe und solchem Durchmesser sind natürlich in dem besprochenen Beobachtungsabschnitt nicht vorhanden, finden sich auch auf dem Eichsfelde nirgends, kommen aber in anderen günstigeren Landschaften Deutschlands vor. Überhaupt muss es nicht mit Freude und Bewunderung erfüllen, dass an dem kaum 2 km langen Höhenzug rund 100 Eiben wachsen und den natursinnigen Menschen durch ihr dunkles, geheimnisvolles Kleid erfreuen. Der zu Beobachtungen so geeignete Mischwald gehört in seinen kleinen Parzellen Küllstedter Waldgerechtigkeitsbesitzern, die den seltenen Baum durch Jahrhunderte schon geschont und geschützt haben. Ein Lob sei den braven Leuten an dieser Stelle gespendet.

Um nun hinter die Geheimnisse der Biologie der Eibe zu kommen, ist eine Beobachtung nötig, die sich auf das ganze Jahr erstreckt. Wenn der Winterwald schläft, die Laubbäume kahl sind und der Schnee an den Muschelkalkfelsen hängt, dann steht die Eibe da in ihrem dunkelgrünen Kleide. Sie trägt Nadelblätter, die von mehrjähriger Dauer sind. Die Zweige sind alle als Langtriebe ausgebildet. Sie tragen an den aufstrebenden Hauptästen allseitig, an den waagerecht ausgebreiteten Seitenzweigen nach rechts und links gescheitelt, die flachen Nadelblätter. Die Rinde der Bäume schält sich sehr leicht ab, so dass der rotbraune Stamm sichtbar wird. Das Holz der Eibe ist, wie schon eingangs erwähnt, sehr hart und eignet sich vorzüglich zu Drechslerarbeiten.

Uralte Stümpfe, die sich überall am Hange, manchmal sogar unter dem Steingeröll vorfinden, haben noch so hartes Holz, dass es schwer mit dem Messer zu bearbeiten ist. Wie steht es nun mit der Fortpflanzung der Eibe? Taxus baccata ist diözisch, d. h. beide Geschlechter der Blüten sitzen auf verschiedenen Bäumen im Gegensatz zu monözisch, wo beide Geschlechter der Blüten sich auf demselben Stocke befinden. Zuerst werden die männlichen Blüten betrachtet. Sie sind klein und fallen durch ihre Farbe nicht sonderlich auf. Die Blüten befinden sich auf der Unterseite der Zweige, wo sie als Achselsprosse vorjähriger Nadeln entstanden sind. Sie werden von einer Anzahl Schuppenblätter am Grunde umhüllt und haben 10 schildförmige Staubblätter mit 5 – 9 Pollensäcken. Sind sie reif, so öffnen sie sich. Dabei wird die Außenwand nach Lösung an der Basis und der Seiten zurückgeschlagen. Das Staubblatt sieht dann aus wie ein nach unten geschlagener Schirm, in dessen Höhlung die ausgefallenen Pollenmassen liegen bleiben bis der Wind sie entführt. Den Pollenkörnern der Eibe fehlen die Flugblasen, ein Umstand, der die Befruchtung erschwert. Nicht weit von dem Baume mit den männlichen Blüten steht der mit den weiblichen. Sie sind größer, fallen mehr durch ihre Farbe und vor allem durch ihre Gestalt auf. „Sie entstehen meist einzeln als sekundärer Achselspross der obersten Schuppe eines primären Triebes, dessen zur Seite gedrängter Vegetationskegel sich nicht weiter entwickelt.“

Die weibliche Blüte besteht aus einer einzigen Samenanlage, die von einer Bedeckung oder Haut umgeben ist. Bei günstigem Wetter erfolgt die Bestäubung der Eibe und die Natur vollzieht geheimnisvoll das Werk der Fortpflanzung und des neuen Lebens. Voll tiefster Ehrfurcht bewundert der Mensch das ewige „Es werde!“

Dann kommt der Sommer mit seiner Blütenpracht im Grunde und an den Hängen desselben. Das dichte Buschwerk, die etwas mehr gepflegten Hochwaldstellen und die Hochsitze auf den Felsenabstürzen werden Lieblingsplätze der Beobachtung. Da lebt es von Tagfaltern, Fliegen und allerlei Insekten, die die Blumen ringsum besuchen. Hoch oben schwebt majestätisch die Gabelweihe, ein stattlicher Vogel, der sich schon von Ferne durch seinen ca. 10 cm tief gegabelten Schwanz von andern Raubvögeln auszeichnet. Hühnerhabicht und Mäusebussard ziehen immer wieder über dem Beobachter dahin. Im Schatten von Busch und Baum, häufig auch den Strahlen der heißen Juni- und Julisonne ausgesetzt, blühen überall die schönsten Blumen, von denen einige genannt seien: VieIblütige Maiblume, der Meißwurz oder Salomonssiegel. Sumpfwurz, die prachtvoll blühenden Knabenkrautarten, die Fliegenblume, die Waldhyazinthe, das weiße und rote Waldvögelein, die offene Glockenblume, Nesselblättrige Glockenblume, Pfirsichblättrige, Waldziest, Habichtskraut, Hundswürger. Eine Blume, der unsere Beobachtung besonders noch galt, ist das Laserkraut, das hier fälschlich Enzian genannt wird. Stengel bis 1,50 m hoch, steil aufrecht, gestreift, Blätter lederartig, derb, länglich eiförmig, scharf gesägt, unterseits blaugrün. Eine herrliche Doldenblüte, kugelig, findet sich also auch oben an den Felsen des Küllstedter Grundes.

Günstige Herbsttage machten es möglich, den Grund und seine Höhen nach Früchten abzusuchen. Auf dem Waldboden wurden bald die roten Früchte der Maiblume entdeckt. Auch hatte der Aronstab schon seine roten dicht aneinander sitzenden Früchte entwickelt. Unsere lieben Eiben hatten auch Früchte bekommen. Von weitem leuchten sie dem Besucher schon entgegen. Das Samenkernchen ist von einem hochroten Becher umgeben, der auch Arillus genannt wird. Sein Fleisch schmeckt süß und ist klebrig. Gern wird er von den Vögeln gefressen, die dann auf diese Weise auch zur Verbreitung der Eibe beitragen. Laub und Samen, nicht aber der süße Arillus sind giftig.

Bald wird der Herbst mit seiner ganzen Schönheit hoch von den Felsenklippen hinab in den Grund steigen. Alle die lieben Eiben werden verlassen, aber im immergrünen Kleide ihren Wintertraum träumen, bis der Frühling wieder frohes und frisches Leben ringsumher wecken wird. Aber auch im Winter sollen sie unsern Besuch nicht entbehren brauchen. So wurden Eiben, allerlei Sträucher und viele Blumen an ihrem Standort, an dem mit Mischwald bestandenen Bergzug des Küllstedter Grundes betrachtet und angeschaut. Die Heimatnatur wurde in den einzelnen Jahreszeiten zu immer tieferen Erlebnissen der Kindesseele. Naturobjekte und Naturvorgänge, das Entstehen, Wachsen und Reifen bis zur vollendeten Frucht gelangten zu jener Vorstellungsklarheit, die zu Erkenntnissen drängt und schließlich auch die Beschauer in die rechte Gefühlslage versetzt, die zum Naturschutz führt.

Hermann Hanßmann
(Quelle: „Mein Eichsfeld“, Jahrgang 1936, S. 85 – 88)

Literatur

1. Anton Kerner von Marilaun, Bd II. Pflanzengestalt und ihre Wandlungen. Organlehre und Biologie der Fortpflanzung.

2. Strasburger, Lehrbuch der Botanik.

3. Neureuter, Illustrierte Flora des Eichsfeldes.

4. Kosmos, Handweiser für Naturfreunde. Jhrg. 1910.