Die Geschichte einer Quelle (der Kellerborn in Effelder)

Diese „Geschichte“ wurde geschrieben vor allem für die Leute da oben in Effelder, insbe­sondere für die Alten, damit sie sich der segenspendenden Quelle mitten in ihrem Dorf wieder einmal erinnern möchten. Jeder Bewohner des Ortes wird jetzt gleich wissen, dass da mit der Quelle nur der alte, treue „Kellerborn“ gemeint sein kann. Ja, der ist‘s! Weit und breit gibt es keinen Brunnen, der den Menschen jahrhundertelang ein größerer Wohl­täter gewesen wäre als dieser. Wer sich aber unterfängt, die Geschichte dieser Quelle niederzuschreiben, der wird bald innewerden, dass da mit diesem Born gleich auch das Schicksal der Dorfgemeinschaft lebendig wird; denn Quelle und Dorf bildeten ehedem eine Einheit – sie können voneinander nicht getrennt werden.

Die Geschichte des Brunnens hebt schon in grauer Vorzeit an, vor tausend und abertau­send Jahren. Wer könnte die Zeit messen! Damals schon sprang der Quell glucksend aus seinem Muschelkalkfelsen hervor und gleich danach rauschte er als lustiges Bächlein zu Tal. Da ging‘s nun eilig bergab, über Stock und Stein, über sperrende Baumwurzeln dahin, ungestüm, in ungebundener Kraft, zuweilen kleine Wasserflächen bildend, bis sich das Wässerchen ausgetobt hatte und unten im „Luttergrund“ zu den „Neun Börnern“ ins Flussbett sprang. Es muss in jener Zeit gar herrlich da oben an der Waldquelle gewesen sein. Wenn die Sonne durch die Baumkronen lachte, glänzte es im Wasser golden, und wenn der Mond am Himmel stand, leuchtete der Brunnen wie eitel Silber. Am Born blühten Vergissmeinnicht und Dotterblumen, da wuchsen dicht beieinander Kresse und Wasserminze. Um ihn und über ihm aber wucherten in vielartigem Durcheinander Ge­sträuch und Gestrüpp, überragt von allerlei Waldbäumen, unter denen Eichen und Ei­ben am häufigsten waren.

Der Brunnen war nie einsam. Alle Tiere des Waldes kamen, an ihm zu trinken: der gewal­tige Ur, der starke Bär, der heimliche Luchs und die wilde Katze. Am Morgen trat der taubenetzte Hirsch zur Quelle; am Abend sprang das flinke Reh herzu. Reineke, der Fuchs, schnürte heran; und auch Isegrim, der Wolf, kam gern an die Wasserstelle. Oben im Baumgeäst musizierten muntere Vögel, da gurrten Ringeltauben, da balzte der Auer­hahn. Auch Frau Nachtigall trank aus der Quelle und sang hier bis in die Nacht hinein ihre wunderlichen Melodien, die aber ab und zu von dem schauerlichen Ruf eines Uhus übertönt wurden. – So wird es gewesen sein in der Zeit, da sich der Born noch seiner goldenen Jugendzeit erfreute.

Das friedliche Idyll währte lange Zeit und dauerte bis zu dem Tage, da der erste Mensch die Quelle droben im Walde fand. – Er kam aus den Talgründen herauf, stieg immer höher hinan, den flüchtigen Hirsch zu erjagen. Seine Schultern umhüllte ein zottig Bärenfell, das fest um die Lenden gegürtet war. Der Fremdling war trefflich bewehrt, trug Pfeil und Bogen, dazu einen scharfen Speer, am Gürtel hing ihm das gefährliche Steinbeil. So kam der erste Mensch, ein furchterregender, gefährlicher Jäger, auf diesen Berg. Und so fand er auch den Born oben bei der Eiche. Er freute sich des frischen Wassers, beugte sich zum Brunnen, schöpfte mit der hohlen Hand und schlürfte den kühlen Trunk.

Derlei Gesellen kamen von nun an oftmals in den Bergwald, selten allein, zumeist in kleinen Trupps. Da hallte dann allemal der Wald wider vom aufgeregten Gekläff der Bracken, dem dumpfen Blasen der Stierhörner und vom lauten Siegesruf der Jäger. Das Wild floh in die tiefsten Klüfte. Bei der Quelle aber machten die Weidmänner jedes Mal halt; man trank vom Wasser und wusch wohl auch die Hände und Arme, an denen das Blut von Ebern und Bären klebte.

So ging die Zeit dahin. – Doch eines Tages, da kamen andere Männer, auch gut gewaffnet. Etliche aber trugen obendrein noch Sägen, Beile, Äxte und anderes Gerät. Und bald hörte man nun vom Brunnen her die harten Schläge der Äxte und das Kreischen der Sägen. Ein mächtiger Eichbaum erzitterte, wankte und stürzte darauf krachend zur Erde. Gleich kam ein anderer an die Reihe, und noch einer, und noch einer, so dass zuletzt bei der Quelle eine Lichtung wurde. Auf der freien Stelle ward dann ein Blockhaus errichtet; es war aus rohen Stämmen zusammengefügt; Fugen und Ritzen wurden mit Lehm und Moos gedichtet. So also baute der erste Siedler bei dem Born sein Haus. Weib und Kind zogen ein. Über den Wipfeln der Bäume sah man nun zuweilen grauen Rauch aufstei­gen, der kam von der ersten Herdstätte, die der Mensch da oben errichtet hatte.

Nun ging man daran, den Wald mit seinen „weitverschlungenen Wurzeln“ gänzlich auszuroden. Man brauchte Äcker für die Saat. Mehr und immer mehr. Neue Siedler kamen aus dem Tal. Die taten wie der erste. Und nach wenigen Jahren schon zählte man sieben Herdstätten, allesamt unweit der Quelle, die den Menschen so notwendig und wohltätig war, die immer Wasser zum Trinken, zum Kochen und Waschen gab und obendrein noch reichlich Tränke bot für das gezähmte Vieh, das auf der Weide graste oder in den neugezimmerten Ställen überwinterte. So verschwand mählich der alte Wald. Nur einige wenige Riesenbäume blieben als Wahrzeichen stehen, darunter auch die großmächtige Eiche dicht bei der Quelle; sie war dem Donnergott Thor geweiht und galt als heilig.

Anstelle des Urwaldes breiteten sich nun mehr und mehr fruchttragende Felder aus. Die Siedler vertauschten mit der Zeit immer häufiger die Jagdwaffen mit Spaten und Pflug – der Jäger ward zum Bauern. So entstand auf dem Berge um die Quelle eine Siedlung, ein Bauerndorf mit einer Ackerflur um dasselbe. Dem Ort gab man den Namen Effelder, das heißt „Apfelbaum“.

Keine Chronik ist da, die uns das Werden des Dorfes vermeldet, wann das geschah und wie es hier eben dargestellt wurde. Genau weiß das alles freilich nur der alte Born, weil er von Anbeginn dabei war. Mit der Zeit wurden die Siedler bei der Quelle heimisch; sie schalteten und walteten, wie es ihnen das köstliche Wasser gab, fassten sie bald mit festen Quadersteinen ein und schafften alles so, dass mit Töpfen, Krügen und Eimern bequem zu schöpfen war. Der weite Platz um die Quelle blieb unbebaut, er hieß „Plan“, und unter diesem Namen macht er sich noch jetzt mitten im Dorfe breit. – Das überfließende Wasser des Brunnens lenkte man in einen steingefassten Trog; an den führte der Kuhhirt seine Herde zur Tränke; drum heißt diese Stelle, aus der später ein Gässchen wurde, noch heute die „Tränke“.

Die Herdstätten wurden mählich mehr und mehr; Kinder und Kindeskinder bauten neue Gehöfte auf, nicht ganz nach Willkür, sondern nach einem wohldurchdachten Plan, den die Dorfgemeinschaft für alle verpflichtend festgelegt hatte.

Die Wohnhäuser standen zuletzt in langer Doppelreihe da, man nannte sie die „Lange Gasse“ (daraus wurde später die „Lange Straße“). Dann baute man die Häuser in der „Hintergasse“, an der vor allem Tagelöhner, Hintersassen, Hirten und neue Zuwanderer siedelten. Damit auch die Anwohner dieser Gasse leichter zum Dorfbrunnen kommen konnten, hielt man eigens einen Weg für sie frei; der bekam den Namen „Borngasse“, den er heute noch führt.

Der Ort wuchs allmählich zu einem recht ansehnlichen Gemeinwesen an. Am „Plan“ und an der „Langen Gasse“ hatten die Blockhütten längst festgefügten Häusern Platz gemacht. Darunter waren schmucke Fachwerkbauten, sämtlich in fränkischer Bauart erstellt: alle mit der Giebelseite zur Straße, das feste Eichentor mit hohem Steinbogen überwölbt. Um diese Zeit nun muss es gewesen sein, dass einem Bewohner gestattet wur­de, direkt über dem alten Dorfbrunnen ein Haus zu errichten, so dass der Born nun – wie ein Gefangener – rundum von Gemäuer eingeschlossen war und kein Sonnenstrahl mehr zu ihm fand. Nur eine Schöpfstelle hatte man freigelassen. Von da an wurde drum die einst so muntere Quelle nur noch der „Kellerborn“ genannt.

Auch der weite Platz um den Dorfbrunnen hatte sich mählich verändert. Der heilige Eichbaum war verschwunden; ein Blitzstrahl hatte ihn in einer Wetternacht bis in die Wurzel zerspellt. Er war ohnehin nur noch ein Erinnerungsmal an vergangene Zeiten gewesen; denn die alten Götter – Wodan, Thor, Frija – waren aus dem Lande gewichen. Längst wurde eine neue Heilslehre den Menschen verkündet, und vom nahen Hügel grüßte schon seit langem der Turm eines Kirchleins mit seinem sieghaften Kreuz über Dächer und Baumwipfel zum Brunnen her. – Auf dem „Plan“ umstanden nun im Halb­kreis breitästige Linden den mächtigen „Angerstein“. Zu diesem umhegten Platz kamen von Zeit zu Zeit die Männer des Ortes, dort ernste Beratung zu pflegen. Hier feierte auch die Dorfgemeinschaft ihre Volksfeste. Dabei ging es oftmals hoch her, und das Glucksen und Murmeln der nahen Quelle wurde dann tausendfach übertönt vom Pfeifen des Du­delsacks, dem Flöten der Schalmeien, dem Singen der Fiedeln und dem lauten „Juhuhen“ einer fröhlichen Jugend.

Der alte Dorfbrunnen war tagsüber selten allein; es war dort immerwährendes Kommen und Gehen. Zumeist waren es Frauen und Mädchen, die zur Quelle kamen. Manche hatten es da nicht besonders eilig. Am kühlen Brunnen lässt sich‘s ja so traulich plaudern und schwätzen. Man konnte am Born immer Neues erfahren, insbesondere all das, was „das wechselnde Verhängnis“ den Dorfbewohnern gerade zuteilte: Frohes und Ernstes, Heiteres und Beklagenswertes. Und so mühsam das Wasserholen auch sein mochte; es hatte auch seinen besonderen Reiz: „Man wurde dabei etwas gewahr“. Weil nämlich – wie jederzeit und in allen Landen – die Frauen recht mitteilsam und wissbegierig sind, so wurde am Brunnen jegliches Ereignis gründlich besprochen, beraten und durchgehe­chelt. Daher kam‘s, dass bei weitausholendem, vertraulichem Gespräch manches Stünd­chen am alten Kellerborn vertan wurde. Und die schwere Wasserbütte schien leichter, und das harte Tragholz mit den gefüllten Eimern daran dünkte fast eine süße Last, wenn man mit interessanten Neuigkeiten davonschreiten konnte, um daheim und in der Nach­barschaft dieselben rasch zu verkünden.

Auch Kinder kamen oft zur Quelle. Sie lehnten gern am Brunnenrand und schauten im Wasserspiegel ihr Bild. Vielleicht, dass die größeren wohl dann erzählten, wie unten in der Tiefe der König Neck sein wunderliches Schloss aus Gold und Marmelstein gebaut habe und wie liebliche Nixen ihm dann in seinem kühlen Reich dienten. – Und weil seit undenklichen Zeiten die Mär ging, dass aus diesem Born die neugeborenen Menschen­kinder gezogen würden, so baten die Kleinen auch wohl den Quell um ein neues Brüder­chen oder Schwesterlein.

Nicht immer jedoch ging es am Kellerborn so friedlich zu. Wenn der „Rote Hahn“ über die Dächer flog, da gab‘s an der Wasserstelle hellen Aufruhr und große Geschäftigkeit. Es wurde dann ganz hastig geschöpft, und „durch der Hände lange Kette“ flog der Eimer, der verheerenden Feuersbrunst Einhalt zu tun und die Flammen zu ersticken. – Doch den schwärzesten Tag erlebte der Dorfbrunnen sicher damals, als der Schwede im Lande hauste, als sie auch nach Effelder kamen und am Kellerborn ihre Pferde tränkten und ihre blutbesudelten Kleider in seinem Wasser wuschen.

Der Ort dehnte sich mehr und mehr aus, und doch war für seine zahlreichen Bewohner immer nur der eine Brunnen da. Das Wasserholen wurde für viele mühsam, umständlich und zeitraubend, zumal für jene, die weitab, drunten im „Unterdorf“ wohnten. Man fand aber bald Rat und leitete das Wasser des Kellerborns durch Röhren ins niedere Dorf, allwo für das zufließende Wasser ein weites Bassin eingerichtet war. Diese neue Wasser­stelle wurde ob ihrer runden Vermauerung der „Runde Born“ genannt, obwohl er doch gar kein Born, sondern nur ein dienstbarer Wasserverteiler war. In trockenen Jahren blieb der „Runde Born“ oftmals ohne Wasser, weil in solchen Notzeiten der Kellerborn selbst knapp wurde und er nicht einen Tropfen Wasser für seinen „Filialbetrieb“ übrig hatte.

Zu guter Letzt konnte aber der alte Born für die immer zahlreicher werdende Bevölke­rung das Wasser nicht mehr schaffen. Man grub drum in den Gassen neue Brunnen. Zuletzt waren es deren acht. Sie hatten aber sämtlich nur wenig schmackhaftes Schicht­wasser aufzuweisen; in etlichen war das Wasser für die Menschen ganz ungenießbar; wenn Trockenzeit kam, versiegten sie allesamt. So war es auch mit den Brunnen bestellt, die man hie und da auf Hofreiten gegraben hatte. – – –

Um den alten Dorfbrunnen ist‘s nun still geworden; er scheint vergessen zu sein. Die Quelle gluckst zwar noch wie einst, doch niemand kommt, um Wasser zu holen. So wäre also der Brunnen tot!? Oder sollte der Born doch noch einmal zu neuem Leben kommen?! Vielleicht, dass es wahr wird, was man seit Langem plant: Unten am Dorfeingang soll eine Grünanlage werden. Mitten darin könnte ein Springbrunnen spielen – das Wasser dazu würde der Kellerborn liefern. So übernähme dann also der alte Brunnen noch einmal eine schöne Aufgabe, und er würde dabei zugleich wieder jung und froh, so wie einst, da er in goldener Jugendzeit dem Fels entsprang und um ihn her noch alles Wildnis war.

Franz Huhnstock
(Quelle: „Eichsfelder Heimatborn“, Ausgabe unbekannt)