Der fleißigste Bach des Eichsfeldes - eine heimatkundliche Plauderei

Jetzt werden die zahlreichen Bäche des Eichsfeldes gleich daher rauschen: „Der fleißig­ste Bach? Nun, das bin ich!" – „Nein, ich!“ Jeder Bach ruft es, und jeder glaubt auch, dass ihm der Ruhm gebührt. Leine, Unstrut und Wipper vollführen da ein lautes Gebrause, reden von ihrem langen Lauf, ihrer Breite und Tiefe, zeigen auf die vielen Mühlräder an ihren Ufern und schauen von oben herab auf die unbedeutenden Bächlein. Aber, ich meine, diese drei Prahlhänse schließen wir aus unserer Betrachtung von vornherein aus, da es nachweislich keine Bäche, sondern Flüsse sind. – Aber Geislede, Hahle, Brehme, Waise, Rosoppe und Ohme werden nicht nachlassen und werden beweisen, dass sie seit Menschengedenken fleißig Mühlräder drehen. Es ist richtig: alle Eichsfelder Bäche ha­ben schon in ihrer frühesten Jugend, kaum dass sie als Quelle der dunklen Erde entron­nen waren, arbeiten müssen, und sie haben es sich sauer werden lassen. Es ist ihnen wohl oftmals so gegangen wie der jungen Brehme bei der Buttermühle, wo das kleine Wässerlein und das große Mühlrad sich zusammen abmühen, die schweren Steine drin­nen in der Mühle zu drehen, und wo dann das Wasserrad manchmal stöhnt und die Brehme flüstert: „Ach, wenn doch de leiwe Chott mant käme!" – Das soll alles zugegeben werden, und doch ist ein Bach, der unser besonderes Lob verdient: es ist die Lutter, die durch Großbartloff rauscht.

Vor mehr als tausend Jahren, als noch der Ur ans Wasser kam, da zu trinken, und der Wolf in mächtigem Sprung über den Bach setzte, da hatte die Lutter gute Zeiten. Sie war jung und lebensfroh und voll Übermut. Sie hatte nichts zu tun, gar nichts. Das war ein wonniges Leben, so durch das Tal zu rauschen, mit den Forellen zu spielen und Dotter­blumen und Vergissmeinnicht am Ufer zu streicheln. Und sie blieb auch nicht immer allein. Denn kaum, dass sie das Tageslicht erschaut hatte, kam ein silberklares Bächlein rechts aus dem großen Walde, der Gläsener. Nun hüpfte und sprang sie über Steine und Baumwurzeln in ungebundener Kraft, bis sie an einen Absturz gelangte. Da gab es kein Halten und kein Besinnen; jählings, als wollte sie sich dem Untergang weihen, stürzte sich die Lutter über die Tuffsteinfelsen hinab in die Tiefe. Nach dem kühnen Sprung stockte sie, wurde ein wenig ruhig im Lauf, rauschte dann aber munter weiter und freute sich, als ein geschwindes Brüderchen, der Rottenbach, zu ihr kam.

Dann floss im Wolfental noch ein Wässerlein, silberhell und klar, und der Wulfenbach sprang hurtig mit ins Bett. Und dann ging‘s munter und fröhlich durch Wiesen und Erlengebüsch, immer dem Süden zu, allwo die Lutter mit einer größeren Schwester, der Frieda, zusammentraf und sich ihr in die Arme warf. Jetzt gab die Lutter ihr Eigendasein auf, ließ die Frieda herrauschen, brauste mit ihr durch das weite Tal um den Stuffenberg (Hülfensberg), dann wieder gen Süden, wo sie endlich im Bett der großen und tiefen Werra Ruhe fand.

Das wurde anders, als der Mensch in dieses Tal kam. Es dünkte ihm, dass hier gut zu wohnen sei, und er baute die erste Hütte und dann Blockhäuser und Lehmwohnungen. Später wurden Weiler und Dörfer daraus. Und es waren da, dicht bei der Quelle: Lutters­hausen; nahe beim Wasserfall: Rottenbach; da, wo es ins Wolfental ging: Bursdorf (jetzt Großbartloff) und an der Mündung Amscherode. Und in jedem Dorf wurden Mühlen eingerichtet. Das Wasser wurde in die Wehre geleitet; die Lutter musste nun bei Tag und Nacht die großen Wasserräder drehen. Und der Bach trieb in Luttershausen die Lutter­mühle, in Rottenbach die obere und die untere Spitzmühle, in Bartloff wieder drei andere Mühlen und bei Amscherode die Entenmühle. Kloster Zella aber ließ in der Klostermühle für sich das Korn mahlen. Das Tal war erfüllt vom Wasserrauschen und dem Geklapper der acht Mühlen. Das ging viele hundert Jahre so. Die Lutter wurde nicht müde. –

Aber der Friede blieb nicht im Tal: Krieg und Fehde wüteten und verwüsteten, was einst aufgebaut war. – Das Unglück kam: Feuer und Wasserflut und die entsetzliche Pest. – Die Menschen flohen aus ihren Orten, und die wurden dann wüst und verlassen, „sie gingen unter“. Luttershausen ist nicht mehr. Von Rottenbach ist nur noch der Name geblieben, und von Amscherode kennt man nur noch die alte Dorfstätte. Nur Bartloff blieb, wurde ein stattliches Dorf, nannte sich dann Bartolf und später und jetzt Großbartloff. – Aber die Mühlen der untergegangenen Orte blieben stehen oder wurden doch wieder aufgebaut, und sie klapperten weiter und mahlten das „Korn zu dem kräftigen Brot“, bis man 1911 den Spitzmühlen ihre Wasserräder wegnahm, und die Klostermühle später ein Gasthaus wurde und eine Mühle in Großbartloff und die Entenmühle sich selber aufgaben. Die Lutter brauchte jetzt nur noch drei Mühlräder zu drehen.

Dafür übernahm der Bach eine neue, große und schwere, aber besonders segensreiche Arbeit. Im Jahre 1911 fing man die Gläsenerquelle, die frisch und klar und mächtig am Rande des Westerwaldes entsprang, auf, leitete sie in Röhren zur alten Spitzmühle, er­richtete dort ein großes Maschinenhaus, baute eine Turbine ein und Motoren dazu: denn es sollte das frische Gläsenerwasser mehr als 200 m hoch auf den Rain zwischen Struth und Effelder gepumpt werden. Da musste die Lutter helfen. Man zog ihr Wasser herbei, lenkte es in die Turbine, und nun pocht‘s da unten im Tal Tag und Nacht, wie das Herz in der Menschenbrust, unaufhörlich. Und oben auf der höchsten Stelle der Eichsfelder Höhe rauscht jetzt immerfort das Wasser in den großen Hochbehälter. Von da fließt es in Röhren in die Orte auf der Höhe. Effelder, Struth, Eigenrieden, Annaberg, Kloster Zella, Küllstedt, Büttstedt und Wachstedt haben jetzt frisches Wasser im Überfluss: das sind wohl 10.000 Menschen. Und wie viele Tiere werden täglich in Ställen und auf Weiden mit diesem Wasser getränkt! Denken die Menschen in den Höhendörfern wohl manchmal daran, dass das Wasser in ihren Küchen klares, gesundes Gläsenerwasser ist? Und über­legen sie wohl auch, dass es die fleißige Lutter ist, die ihnen das Wasser hochschafft?

So ist die Lutter über tausend Jahre Freund und Helfer der Menschen gewesen. Welches Wasser des Eichsfeldes hat bessere, schwerere und segensvollere Arbeit geleistet?

Franz Huhnstock
(Quelle: „Eichsfelder Heimatborn“, Ausgabe unbekannt)