Im Luttertal - Küllstedter Grund - Bei der Gläsener Quelle (1937)

Kommt man an einem schönen Sommertage von der Eichsfelder Höhe, etwa von Küllstedt her ins Ouellgebiet der Lutter, dann ist man überrascht über den landschaftlichen Wechsel. Eben noch schweifte das Auge über die Hügel und Felder der Höhe, tastete sich von der grünschimmernden Weite des Westerwaldes über die jähe Steile des Hülfensberges zum himmelstrebenden Berqdom Effelders, umfing die karge, schlichte Nähe und die gebirgige, mannigfaltige Weite.

Von diesem wirklichen Panorama, nämlich Aussicht über alles ringsum, kommt man unvermittelt zum Idyll. Erst sind es nur die Hecken, die man beim Abwärtssteiqen streift. Aber auch die können schön sein, wenn weiße Blütenpracht über sie hinschäumt. Dann ist man im Wald. Sieht die ernste dunkle Tanne, bald auch die stolze, stattliche Buche. Und dabei weiß man, dass dies der Beginn ist zu stundenlanqer Waldeseinsamkeit, langer Waldeseinsamkeit, wenn man immer dem Westerwald oder den Bergen zum Friedatal folgt. Bald hört man Wasser unter sich rauschen, und schon leuchtet auch das belle Grün der Wiese heraus. Der Szenenwechsel ist vollkommen, man ist schon drin im Luttertal.

Schmal und grün schiebt es sich hier hinein in die Berge. Überall quillt und rauscht das Wasser. Mit seiner Geschäftigkeit brinqt es Leben und Rhythmus in die Stille dieses weltverlorenen Winkels. Nicht weit braucht nun das Auge zu eilen. Es kann sich übergenug ergötzen im nahen köstlich grünen und köstlich bunten Raum. Man wird nicht müde, die Quellen und Quellchen alle zu zählen, sich an ihrem muntern Spiel zu erfreuen. Zwar hat der Volksmund dem beschaulichen Wandersmann die Arbeit des Zählens abgenommen. Neunbörner nennt er kurz und bündig diese Symphonie kristallenen Quellens. Aber wer sich im Zweifel dennoch aus zählen gibt, stöbert der Naturschönheit dieses idyllischen Fleckchens Erde doch eifriger nach.

Ist man im Luttertal, so wird man auch nach der Lutter selbst sich umsehen müssen. Das ist nicht ganz einfach. Es kommt da erst allerlei Gewässer dahergeschwatzt, aus dem herrlichen Küllstedter Grund sogar ein kleiner Bach, aber die Lutter selbst ist noch nicht dabei. Das ist ein ganz feines Fräulein, das seine Genossinnen sich schon zeitig auf den Weg machen lässt, bevor es sich dazu beimüht und gleich die Führung übernimmt. Im Garten der Obermühle ist die Lutterquelle, nach der die Mühle auch Luttermühle benannt ist. Berge und Wälder treten jetzt etwas zur Seite, an die Wiese gliedert sich Ackerland. In den Wiesen eilt die Lutter als breiter Bach dahin, begrüßt das beute untätige Mühlrad der Klostermühle, gischtet und braust im großartigen Wasserfall der Spitzmühle entgegen, lässt sich von drei Mühlen in den Werktag Großbartloffs einspannen, macht sich beim Elektrizitätswerk des Dorfes nützlich und fließt dann mit der schönen Ruhe seiner erprobten Tüchtigkeit an Herrode vorbei und über das Mühlrad der Entenmühle der ruhmreicheren Frieda zu, der sie Wasser und Namen schenkt.

Schön ist dies ganze Luttertal, von der Quelle bis zur Mündung. Aber am allerschönsten ist doch der Luttergrund, dort oben vom Wasserfall bei der Spitzmühle bis hinaus zur letzten Quelle, wo die Wälder immer enger sich schließen, bis sie schließlich im dichten grünen Ring dies herrliche Tal zu geschloffener Einheit abrunden. Plaudern wir deshalb ein wenig über diesen Luttergrund, der bisher immer noch das Entzücken jedes Gastes bildete.

Lutter, dies Wort ist rasch erklärt. Lauteres, reines Wasser bedeutet es. Klar und lauter ist die Lutter noch heute, weshalb es auch den Forellen so gut in ihr gefällt. Sie quillt in überraschender Stärke, nach wenigen Metern Lauf treibt sie schon die Luttermühle. Heute noch ist dort Mühlenbetrieb. Auf dem Gehöft ist noch ein kleiner Textilbetrieb. Der große Schlot, der so unvermutet aus diesem Waldwinkel ragt, hat schon mancherlei Fabrikation in den hohen Fabrikräumen zugeschaut, einer Spinnerei, einer Zigarrenfabrik und einer Möbelherstellung. Nicht weit entfernt liegt die Klostermühle oder Mittelmühle, direkt unter der Bahnstation Effelder. Sie gehörte früher dem Kloster Anrode. Als sie vor Jahren niederbrannte, wurde sie als Fremdenpension neugebaut und recht ansehnlich eingerichtet. Während diese beiden Mühlen zu Effelder gehören, ist die Spitzmühle immer bei Großbartloff gewesen. Nach der Kreuzspitze, in deren Nähe sie liegt, hat sie ihren Namen. „Die Mühle, die außerhalb des Dorfes in der Spitze liegt“, so nennt sie 1717 das Kirchenbuch. Aus der einen Mühle wurden später zwei, die obere und die untere Spitzmühle. Ein schönes Fachwerkhaus ist heute von der einen, eine Scheune von der anderen übriggeblieben. Daneben steht das Pumphaus, in dem das Quellwasser des Gläsener zu den sechs angeschlossenen Höhendörfern hinaufgepumpt wird.

Vor wenigen Monaten waren 25 Jahre vergangen, seitdem der Gläsener die Höhendörfer mit Wasser versorgt. Darum seien der Obereichsfelder Verbandswasserleitung, die ihre Wurzeln im Luttertal hat, hier einige Worte gewidmet. In Küllstedt, Wachstedt, Büttstedt, Effelder, Struth und Eigenrieden, die der Verbandswasserleitung angeschlossen sind, war das Wasser seit jeher eine der begehrtesten Gottesgaben. Quellen gibt es in diesen Fluren nicht genügend, und die Brunnen in den Orten konnten auch leicht versagen. Man macht sich deute keinen Begriff, was Wassernot bedeutet. Unendliche Mühe musste früher angewandt werden, um das unentbehrliche Nass heranzuholen. Auch hatte der Wassermangel Seuchen und Krankheiten zur Folge. Nach langen Versuchen kam man schließlich dahin überein, den Gläsener für die sechs Orte nutzbar zu machen. Wer von früher noch diese köstliche Quelle kennt, wird bedauern, dass mit ihr ein Stück Romantik geschwunden ist. Gern ließ man sich bei Spaziergängen auf den Bänken nieder, die rings um die ausgemauerte Quelle standen. Die Kinder nahmen sich trockenes Brot mit und tauchten es hier ins Wasser. Dann schmeckte es ihnen leckerer als ein Zuckerbrot. Sicher war der Gläsener die schönste Quelle weit und breit. Aber vielleicht hat sich in der Hochschätzung der Quelle auch unbewusst eine Erinnerung erhalten aus heidnischer Zeit, wo der Gläsener als heilige Quelle verehrt wurde. Und ein Hauch aus Jahrtausenden webte auch in der echten Trauer, mit der man besonders in Großbartloff die Quelle schwinden sah.

Mancher Bartlöffer hat damals in den Höhendörfern bei Bekannten mit Genuss ein Glas von „seinem“ Gläsener getrunken. Wer aber sah, mit welcher Freude vom 6. November 1911 ab die Höhendörfer ihr neues Wasser tranken, der wusste, dass sich die Romantik der waldumrauschten Quelle in die echte Wohltat einer zuverlässigen Wasserleitung verwandelt hatte. Fast 7500 Menschen und ungefähr ebenso viel Stück Vieh hatte der Gläsener 1911 zu versorgen. Das gelang ihm auch an trockenen Sommertagen leicht, es gelingt ihm noch heute bei stark gewachsenem Bedarf spielend. Noch immer wie vor 25 Jahren pochen im Maschinenhaus die Pumpen, rauscht die Turbine und stehen die zwei Dieselmotoren in geduldigem Erwarten für die Tage mit geringem Triebwasser der Lutter. Und in der Schaltuhr beruhigt der Zeiger, dass immer noch 3 Meter Gläsenerwasser im Haupthochbehälter bei Struth stehen. Immer noch werden Kinder sich irgendwo an die Kilometer lange Druckleitung horchend auf die Erde legen und das Pochen ahnungsvoll wie einen Herzschlag mitempfinden.

Zuerst war der Luttergrund Heimstatt vieler Menschen, als die Wüstung Lutterhusen noch bewohnt war. Vom Pfaffenborn bis über die Luttermühle soll sich der Ort erstreckt haben. Nur zwei Mühlen blieben. Heute teilen sich Grostbartloff und Esselder die Flur des versunkenen Lutterdorfs. In Eberstale soll einst eine Glashütte gestanden baden. Sie entstand ebenso wie die Pulvermühle an der Brücke über dem Wasserfall. Will man in die Vergangenheit wandern, dann hat man im Brausen und Gischen des jetzt ganz großartigen Wasserfalls die beste Träumerstimmung. Dann hört man mächtige Wasser rauschen, die einst das Tal füllten. Sieht, wie das Angesicht des Tals sich bildete, als von dem tiefen See nur die Lutter und all die vielen Quellen geblieben waren. Sieht, wie die Ämter Gleichenstein und Bischofstein sich im Luttergrund trafen, wie Menschen kamen und gingen, wie Siedlungen erstanden und zerfielen. Auch ins Luttertal webten die Stürme der Weltgeschichte, auch hier erfüllte sich Menschen- und Erdengeschick, wenn auch keine großen Zeugnisse davon künden.

Wir aber wollen uns freuen dieses anmutige», waldumsäumten Luttertals, das im Beginn des Stromgebiets der Weser zwischen die Berge so wundervoll eingebettet liegt, eine Perle unter den Naturschönheiten unserer Heimat.


Autor: unbekannt
(Quelle: „Eichsfelder Volksblatt“, Ausgabe vom 13.03.1937)