Erinnerungen an die Kirmes der Nachkriegszeit in meinem Heimatdorf Struth

Im Monat Oktober wird in vielen Dörfern des Eichsfelds Kirmes gefeiert. So gingen dieser Tage meine Gedanken fast sechs Jahrzehnte in die Nachkriegszeit zurück. Zurück in die Zeit, wo meine Generation als Kirmesmädchen und -burschen dieses Traditionsfest aktiv miterlebten.

Der unselige Zweite Weltkrieg ging für die Bewohner meines Heimatdorfs Struth im April 1945 mit Leid und Schrecken zu Ende. Viele Familien büßten in dieser entsetzlichen Endphase des dritten Reichs noch Haus, Stallung und Scheune mit Vorräten und Tierbeständen einl. Was noch viel schlimmer war: Einige hundert deutsche und amerikanische Soldaten mussten noch ihr junges Leben lassen. Auch aus der Struther Dorfbevölkerung war eine Reihe Opfer zu beklagen. Trotz dieses furchtbaren Geschehens der letzten Kriegstage war man dann aber froh und glücklich darüber, dass nach dem 8. Mai nicht mehr geschossen und getötet wurde. Nach sechs Kriegsjahren mit Millionen Toten war der Krieg nun – Gott sei Dank – endlich vorbei.

Man begann, den teils noch qualmenden, rauchenden Schutt der abgebrannten Gebäude wegzuräumen und fand auch den Mut – trotz unsäglicher Schwierigkeiten – zum baldigen Wiederaufbau. Überdies waren viele Männer im Krieg gefallen. Auch war ein großer Teil noch in Kriegsgefangenschaft. Deshalb mussten viele allein stehende Frauen und Witwen, den Schritt des Neubeginns wagen.

Trotz vieler sozialer und wirtschaftlicher Schwierigkeiten in der Gegenwart sollte es gestattet sein, die jetzige jüngere Generation einmal an diese Zeiten zu erinnern. Vergleiche möchte ich gar nicht anstellen!

Es war damals kein Zuckerschlecken für die Urgroßeltern und Großeltern.

Bei den Kampfhandlungen in Struth waren beide Gastwirtschaften niedergebrannt. Heute sind beide wieder renommierte Gaststätten, die man zum Speisen und Übernachten empfehlen kann.

Der Lebensmut und Optimismus der älteren und jüngeren Generation sorgten gemeinsam dafür, dass bereits im Jahre 1946 die erste Nachkriegskirmes gefeiert werden konnte. Als Ersatzsaal wurde die Zigarrenfabrik der Firma Leopold Engelhardt genutzt. Kaum einer der jüngeren Generation konnte tanzen zu dieser Zeit. Wir jungen Burschen machten uns an die etwas älteren Mädchen heran, um das Tanzen zu lernen. Walzer, Schieber, englisch Walzer, Foxtrott, das waren so unsere ersten Tanzversuche. Aus Nazza und Umgebung kamen unsere damaligen exzellenten Musiker. Der sehr bekannte Ernst Klinkhardt – Jugendorchester Diedorf – war damals schon dabei. Alle hatten wir Nachholbedarf und so ging es oft bis morgens in die Frühe. Kaum einen Tanz ließen wir aus und Müdigkeit kam überhaupt nicht auf. Geld hatten wir bei dem damaligen Verdienst nicht allzu viel im Portmonee. Getränke waren ebenfalls knapp. Doch dies tat unserer Tanzemsigkeit und Fröhlichkeit keinen Abbruch. In Vorbereitung der Kirmes spielte unser Schulfreund Sigmund des Öfteren auf der Mundharmonika und Mädchen und Burschen schwangen das Tanzbein danach. Es war praktisch unsere Tanzschule. Trotz der Primitivität war immer Stimmung in der Bude. Gleichaltrige meiner Generation erinnern sich noch gern an diese Zeiten – trotz vieler Mangelerscheinungen.

Zum Nachmittagskaffee und Abendbrot wurde der Kirmesbursche ins Elternhaus des Kirmesmädchens eingeladen. Als Kirmesbursche überreichte man der Gastmutter eine Flasche Wein – damals selbst gemachter Johannisbeerwein. Ein neues Kirmeskleid bzw. neuer Anzug musste es auch sein – koste es, was es wolle. So wurde in der Kirmeszeit in den Dörfern so mancher Sack Weizen heimlich vom elterlichen Boden auf dem schwarzen Markt verkauft, um an den Kirmestagen einigermaßen flüssig zu sein. Es war ja noch vor der Währungsreform als der Schwarzhandel nur so blühte. Fertige Garderobe als Konfektion von der Stange gab es kaum zu kaufen, so wurde das Kirmeskleid bei der Schneiderin und der Kirmesanzug beim Schneider gefertigt. Entsprechende Stoffe konnte man erhaschen, wenn landwirtschaftliche Produkte als so genannte „freie Spitzen“ zur Ablieferung  kamen. So kam es durchaus vor, dass ein halbes Dutzend Kirmeskleider von gleicher Farbe und Muster im Kirmesumzug auftauchten. Tragisch war dies jedoch damals nicht, bei 80 bis 90 Kirmesmädchen. Überhaupt: Der Kirmesumzug hatte immer so etwas Aufregendes an sich, wenn man das Kirmesmädchen mit Musik im elterlichen Haus abholte. Vielleicht empfinden heute unsere Enkel das gleiche Gefühl?

An diese schönen Erlebnisse der Nachkriegszeit musste ich mich in den letzten Tagen erinnern, wo jeden Sonntag in der näheren Umgebung eine Kirmes stattfindet. Mangelerscheinungen am Angebot von materiellen Dingen für die heutigen jungen Menschen wird es kaum geben. Höchstens, dass die Finanzen im eigenen Geldbeutel den Bedarf nicht voll decken.

Gott Dank gibt es ja noch Oma und Opa!

Doch Fröhlichkeit und Zufriedenheit kann man sich bekanntlich auch nicht für alles Geld der Welt erkaufen. Diese Fröhlichkeit muss schon aus dem Herzen kommen.

In diesem Sinne wünsche ich allen Kirmesmädchen und -burschen in der Region eine fröhliche und unbeschwerte Kirmes 2004 mit dem Kirmeslied aller Zeiten:

„Kirmes, Kirmes, Kirmes ist heut’.
Essen und Trinken zum Zeitvertreib.
Madel schenke ein:
Bier und Branntewein.“

Wünschen wir unserer Jugend, dass sie auch weiterhin in Frieden und Freiheit ihre seit Generationen geprägte Kirmes feiern kann. Ihre Urgroßväter konnten dies leider nicht, da sie im Jahre 1939 in den unseligen Zweiten Weltkrieg ziehen mussten. Und über einhundert junge Männer aus Lengenfeld unterm kehrten aus diesem nicht wieder heim.

Daran sollten wir denken, wenn unsere Kirmesburschen zum Gedenken an die Gefallenen zum Kriegerdenkmal ziehen.

In freudiger und dankbarer Erinnerung

Willi Tasch
(Quelle: „Lengenfelder Echo“, Oktober-Ausgabe 2004)