Weißer Sonntag – 50 Jahre danach

Aus Anlass des 50. Jahrestages zum Ende des II. Weltkrieges und der schrecklichen Ereignisse in der Woche zwischen Ostern und dem „Weißen Sonntag“ in Struth, wurde in den letzten Wochen in diesem Blatt auch ausführlich berichtet.

So war es denn wohl Verpflichtung und Mahnung zugleich, auf den Tag genau nach 50 Jahren, am 7. April 1995, zu einer Gedenkfeier zum Ort des Geschehens – auf dem Dorfanger – nach Struth einzuladen. Einige hundert Menschen – einheimische Zeitzeugen aber auch viele andere Gäste –, vornehmlich der älteren und mittleren Generation, hatten sich auf dem Dorfanger von Struth eingefunden, um der schmerzlichen und bitteren Tage vor 50 Jahren zu gedenken. Ebenso viele Menschen mögen es vor 50 Jahren gewesen sein, die sich laut Befehl der Amerikaner auf dem Dorfanger und den umliegenden Häusern in der Brandstraße versammeln mussten. Auch ich war damals als 16-Jähriger mit bei den vielen vor Todesangst betenden und wartenden Menschen, warten auf das Ungewisse, was nun kommen sollte. Etwas Ungewisses, was nichts Gutes bedeutete. Durch Unterhaltungen in den letzten Tagen über die damaligen Geschehnisse – ebenfalls mit Zeitzeugen – wurden auch bei mir wieder Erinnerungen wach, die ich teilweise vergessen oder auch verdrängt haben mag.

So entsinne ich mich, an diesem Samstag, dem 8. April 1945, einen Tag vor dem „Weißen Sonntag“, dass unsere Familie in den frühen Morgenstunden von lautem Geschützdonner und MG-Feuer geweckt, verängstigt in den Gewölbekeller unseres Hauses gekrochen ist. Mein Vater aber wollte erkunden, was eigentlich im Dorf vorging, schlich sich über den Hof durch die Scheune, um nachzusehen. Plötzlich standen amerikanische Soldaten bis an die Zähne bewaffnet vor ihm und zwangen ihn, mit der Waffe ins Haus zurückzugehen. Im Laufe des Vormittages, ein ganz gefährliches Bersten und Krachen und der Turm der unserem Haus gegenüberliegenden Kirche wird von einer Granate getroffen. Jede Menge zerschmetterte Schieferplatten zischen durch die Lüfte und landen auf unserem Gehöft. Dieser Granateinschuss war auch die Ursache, dass plötzlich die Glocken zu läuten begannen. Die Amerikaner deuteten es jedoch als Signal für die deutschen Truppen. Plötzlich entdeckt mein Vater, dass auf der gegenüberliegenden Straßenseite die Post brennt. Wir schnappen uns Eimer mit Wasser, um zu löschen. Doch ein amerikanischer Soldat, der gebrochen Deutsch spricht, gibt uns zu verstehen: „Nix löschen, morgen wieder brennen.”

Wir löschen trotzdem weiter, der Gefahr gar nicht so recht bewusst, in der wir uns befinden, denn es sind noch immer starke Kampfhandlungen im Gange. Andererseits kommt der Brandherd aus dem Mitteldorf immer näher an unser Gehöft heran bis zum angrenzenden Weg „Tränke”. So rechnen wir inzwischen stark damit, dass auch unser Haus ein Raub der Flammen wird. Die Eltern erkannten, dass es nun höchste Zeit sei, das Haus zu verlassen. Was wir so in der Angst und Aufregung zusammenraffen konnten, packten wir auf den Leiterwagen und mit dem Kuhgespann zogen wir in Richtung Lengenfelder Straße. Dort luden wir unsere 87-jährige Großmutter mit einer Tante noch auf den Leiterwagen. Jetzt stellten wir auch fest, dass amerikanische Jeeps durch die Straßen fuhren und mit MGs Häuser, Scheunen und Stallungen in Brand schossen. Vor unseren Augen wurde gerade die Scheune vom Schmied Otto Stude in Brand geschossen.

Innerhalb weniger Minuten brannte sie lichterloh. Granaten schwirrten durch die Luft, Jagdbomber im Tiefflug rasten in Richtung Annaberg und feuerten unaufhörlich. Zur Angst hatten wir vor Aufregung überhaupt keine Zeit. Gleich vor dem Dorf: ein Bild des Grauens. Unzählige deutsche Soldaten, in ganz fla­che Schützenlöcher eingegraben, alle tot. Einige von ihnen se­he ich noch heute vor mir. Einer mit gefalteten Händen, den Ro­senkranz in der Hand. Ein anderer lag auf dem Rücken und man hatte dem Toten eine Zigarre in den Mund gesteckt. Einem Dritten war der Kopf durch ein Fahrzeug zermalmt. In meinem jugendlichen Alter hatte ich bis zu diesem Zeitpunkt nur wenige Tote gesehen und nun gleich in solchen Massen. Doch es blieb uns kaum Zeit zum Denken. Die Kühe scheuten durch die vie­len Detonationen von Geschossen bzw. dem Lärm der Jagd­bomber. Hierdurch verloren wir einen Teil unserer Habe an Be­kleidungsstücken. Meine Mutter lief ein Stück zurück und hob sie auf. Etwas erleichtert waren wir, als der Wald erreicht war. Es ging zur Eiche hinunter, aber aus Sicherheitsgründen be­nutzten wir dann den Waldweg am Sommeriber. Ein Korb, mit dem wenigen guten Geschirr was wir besaßen, rutschte vom Wagen, und mit beiden Rädern fuhren wir unwillkürlich darüber. Ein einziges Milchkännchen blieb unversehrt und dies besitzt meine Schwester heute noch, es erinnert uns immer wieder an dieses Geschehen. Doch es hätte schlimmer werden können, denn die 87-jährige Großmutter Wilhelmine saß ja auf dem Lei­terwagen. Wir atmeten erst einmal auf, als wir am Nachmittag unversehrt in Kloster Zella ankamen. Viele Leidensgefährten waren schon dort, und man war trotz vieler Angst erst einmal froh, eine vorläufige Bleibe gefunden zu haben. Herr v. Fries tat alles Mögliche, um uns in der Not die Unterkunft lebenswert zu gestalten.

Ein Teil der flüchtigen Menschen fand in Zimmern Unterkunft, die anderen herbergten auf dem Heuboden über dem Pferde­stall. Die ganze Nacht, bis in den Sonntag hinein, war noch Ge­schützdonner zu hören und die Granaten pfiffen unaufhörlich durch die Lüfte. Es war Zeichen dafür, dass in der Nähe noch immer Kampfhandlungen stattfanden. Und dieser Sonntag, es war der „Weiße Sonntag”, hätte eher „Schwarzer Sonntag” heißen können.

Es war ein wunderbarer warmer Frühlingstag. Unsere Kühe be­fanden sich auf der Weide bei Kloster Zella. Zu diesem Zeit­punkt war uns noch gar nicht bewusst, was sich in Struth alles abgespielt hat. Es wurde immer wieder gebetet. Unsere Eltern und viele der Älteren schlichen sich durch den Zellweg, nach Struth um zu sehen, was ist zu Hause los, was ist übriggeblie­ben? Auch musste das zurückgelassene Vieh versorgt werden. Die Nachrichten, welche sie jeweils bei ihrer Rückkehr nach Kloster Zella mitbrachten, waren erschütternd. So verbrachten wir drei Nächte in Kloster Zella.

Am Dienstag, dem 10. April sind die Eltern wieder nach Struth, meine ältere Schwester ging nach Lengenfeld, um Brot zu besorgen. Meine jüngere Schwester und ich blieben in Klo­ster Zella.

In Struth kommt inzwischen der amerikanische Befehl: „Sämtli­che Einwohner haben sich auf dem Anger und in der Brand­straße einzufinden.’’ Unsere Eltern durften somit nicht wieder zurück nach Kloster Zella. Dieser Befehl erreichte auch die Flüchtigen in Kloster Zella und wir müssen zurück nach Struth. Wir spannten die Kühe vor unseren Wagen – meine Schwester und ich – und fuhren verängstigt in Richtung Struth. Als wir aus dem Walde herauskamen, empfing uns ein furchtbarer Anblick! Schwarze, rauchende Ruinen, dazwischen die stehengebliebe­nen meterhohen Schornsteine, die wie mahnende Zeigefinger anmuteten.

Ähnliche Bilder sehen wir heute im Fernsehen aus dem Kriegs­gebiet von Bosnien und Tschetschenien. Am Nachmittag ka­men wir auf dem mit Maschinengewehren umstellten Anger an, wo sich schon viele Einwohner aufhielten bzw. in den anliegen­den Häusern Unterschlupf suchten. Alle hier Versammelten ahnten nichts Gutes. In unserer Todesangst taten wir das Einzi­ge, was wir in unserer Situation noch tun konnten, wir beteten unaufhörlich. Im Nachhinein könnte man sprichwörtlich sagen: „Wo die Not am größten, ist Gottes Hilfe am nächsten!“ – Es mag so zwischen 18 und 19 Uhr gewesen sein (ein richtiges Zeitgefühl hatte man nicht), so kam die uns rettende Nachricht, wir können nach Hause, so weit es noch ein Zuhause gab. Erst später erfuhren wir, welch mutigen Menschen wir es zu verdan­ken hatten, dass die verantwortlichen amerikanischen Offiziere ihren ursprünglichen Plan, uns alle zu erschießen und Struth dem Erdboden gleich zu machen, fallen ließen. Bis zu diesem Zeitpunkt waren ja die Amerikaner der Meinung, dass es sich in Struth um ein Partisanendorf handelt. Und wie man im Krieg mit Partisanen verfährt, das hatte der inzwischen sechs Jahre alte Krieg in der Vielfalt bewiesen. Nun standen viele Einwohner vor einem Nichts. Mancher besaß nur noch das, was er am Leibe trug. Andere waren wie durch ein Wunder verschont geblieben. Hier setzte nun eine echte und wahre Nächstenliebe ein. Ver­wandte, Freunde und Bekannte gaben den brandgeschädigten und wohnungslosen Dorfbewohnern ein Dach über den Kopf – eine Bleibe.

Die nächsten Tage und Wochen setzten die Aufräumungsarbei­ten ein. Stehende Schornsteine wurden wegen der Umsturzge­fahr umgeworfen. Das teils verbrannte, verkohlte und erstickte Vieh wurde aus den Stallruinen geborgen und in den alten Steinbruch gefahren. In vielen Fällen waren die toten Kühe so aufgedunsen, dass sie gar nicht durch die Türöffnung der Ställe gingen. Mit Pferden wurden sie herausgezogen. Ebenfalls be­gann man die Trümmer in den Steinbruch zu fahren, die zunächst die Kadaver des Viehes abdeckten. Das angebrannte und verkohlte Vieh verbreitete einen ganz unangenehmen stin­kenden Geruch. Den Männern, die den Abtransport vornahmen, wurden durch Zigarrenmeister Schminke Zigarren gebracht, um beim Rauchen derselben den Gestank nicht allzu sehr zu verspüren. Auch ich steckte mir eine dicke Zigarre an, doch nach den ersten Zügen wurde mir speiübel und ich musste mich übergeben.

Trotz heute unvorstellbarer großer Materialschwierigkeiten be­gann man im Sommer und Herbst 1945 schon mit dem Wieder­aufbau. Manche Witwe oder alleinstehende Frau und Mutter hat zu dieser Zeit Außergewöhnliches geleistet. Viele Männer be­fanden sich zu dieser Zeit noch in Kriegsgefangenschaft, ande­re waren gefallen oder vermisst. Alles erlittene Leid und Elend konnte den starken und mutigen Willen zum Wiederaufbau nicht brechen. Heute sagt man stolz, das Heimatdorf Struth ist schö­ner denn je. Doch wie viele Tränen, wie viel Schweiß, wie viele schlaflose Nächte damit im Zusammenhang stehen, können nur die Betroffenen voll nachvollziehen. Auch sind die Geschehnisse von denen nicht vergessen, deren Familien vor 50 Jahren bitte­res Leid erfahren mussten.

Die Gedenkfeier, 50 Jahre später, am 7. April 1995, sollte da­her Zeugnis und Mahnung zugleich sein, wie schrecklich die Geißel Krieg ist. Krieg, der von Menschen gemacht, aber auch von Menschen im Ansatz schon verhindert werden sollte.

Leider hat die Menschheit aus diesen furchtbaren Ereignis­sen immer noch nicht gelernt.

Die machtsüchtigen Diktatoren wie Hitler und Konsorten finden immer wieder Nachfolger, das zeigt die jüngste Geschichte. Diese Gedanken und Erlebnisse kehrten in mein Gedächtnis zurück, als ich mit vielen anderen Teilnehmern die Gedenkfeier in Struth besuchte.

Und weil am nächsten Sonntag wieder ein „Weißer Sonntag”, 50 Jahre nach diesen schrecklichen Ereignissen, ist, sollte es für uns ein Sonntag zum Nachdenken sein. Beten wir und tun wir etwas dafür, dass meine Generation, unsere Kinder, Enkel und Urenkel ein solches Trauma nicht wieder erleben müssen. Daher ist der Friede unteilbar!

Gewiss, kein schönes Thema zum „Weißen Sonntag”, trotz­dem muss man darüber nachdenken und sprechen, meint

 
Ihr Willi Tasch
(Quelle: „Obereichsfeld-Bote“, 1995, Nr. 16, S. 5-6)