Die Hochwasserkatastrophe des 4. Februar 1909 auf dem Eichsfelde

In seltenem Zusammentreffen haben widrige Umstände in der ersten Woche des diesjährigen Februar wie in zahlreichen Gebirgsgegenden Deutschlands, so auch auf dem Gesamteichsfelde, eine Hochwasserkatastrophe veranlasst. Reichliche Niederschläge in den Monaten November und Dezember 1908, die den Boden durchsättigten und ihn, als er im Januar im Frost erstarrte, unfähig machten zur Aufnahme neuer Feuchtigkeit; der starke Schneefall in den Tagen vom 27. Januar bis 2. Februar, der bedeutende Temperatursturz, der 13 Grad und mehr betrug (von - 12° bis - 18° auf 1° bis - 4°); endlich heftiger Regenfall, der am Abend des Mariä-Lichtmesstages einsetzte und bis zum 4. Februar währte: alle diese Momente verursachten auf dem Eichsfelde ein Hochwasser, wie man es dort noch nicht gekannt hat.

Alle eichsfeldischen Gewässer füllten sich in der Nacht vom 3. zum 4. Februar mit schmutzig-gelbem Wasser. Reißend strömte das Wasser von den Bergen, die Bäche verwandelten sich in Flussläufe und die Leine nahm zwischen Heiligenstadt und Arenshausen stromartige Breite an. In allen Ortschaften, die in der Nähe solcher Gewässer und tief gelegen sind, entwickelte sich nun dasselbe Bild: In früher Morgenstunde suchen die Bewohner bestürzt Hab‘ und Gut, vor allem das Vieh, aus den teils schon in den Fluten stehenden Gebäulichkeiten in Sicherheit zu bringen. Das Wasser dringt in die Keller, in die Wohnungen; es reißt die Stege nieder, rüttelt an den Grundfesten der Häuser und schleppt, was niet- und nagellos ist, mit sich talabwärts.

Es würde zu weit führen, alle Einzelheiten dieser Katastrophe aufzuzeichnen. Die Geschehnisse in den betroffenen Dörfern, – Wendehausen, Heyerode, Lengenfeld und den Werradörfern auf dem Obereichsfelde und Rhumspringe, Gieboldehausen, Germershausen, Lindau a. H. u. a. m. auf dem Untereichsfelde – sollen darum übergangen werden, und es sei nur kurz berichtet, was sich in den Orten, die am meisten gelitten haben, zugetragen hat, nämlich in Heiligenstadt, Duderstadt, Arenshausen und Uder.

Durch Sturmgeläute und Alarmsignale der Feuerwehr aus der Nachtruhe aufgeschreckt, eilten die Bewohner Heiligenstadts in jener Schreckensnacht ins Freie. Die Anwohner der Aue sahen vor sich eine seeartige Flut; durch die Wilhelmstraße und Giekgasse wälzte die Geislede 60 – 80 Zentimeter hoch ihre Wellen. Der Friedhof war meterhoch überspült; die Scheuche glich einem wilden Katarakt. Die Leine hatte die Ochsenwiese, die Gerlingsche Wiese, den Zwehlschen Garten, die Bahnhofstraße, den Gymnasialturnplatz am Liesebiehl, das städtische Schlachthaus und das Elektrizitätswerk, kurzum alles, soweit das Auge reichte, unter Wasser gesetzt und furchtbaren Schaden angerichtet. Die zerwühlten Gräber des Friedhofs; die zerstörten Bürgersteige der Wilhelm- und der Bahnhofstraße; die dem Abbruch geweihte Steinbrücke am Göttinger Tor; die weggerissene Brücke an der Nadelfabrik; die zertrümmerte städtische Badeanstalt; das eingestürzte Haus von Gerling am Göttinger Tor und der ebendort teilweise weggeschwemmte Breitensteinsche Bauplatz – all‘ das sind Schäden, die allein der Stadt über 100 000 Mark kosten. Handel und Industrie erlahmten an jenem Tage; das Elektrizitätswerk gab keinen Strom, die Geschäfte blieben geschlossen, und die Zeitungen konnten nicht erscheinen.

In Arenshausen ist das Unterdorf mehrere Meter hoch überflutet gewesen und ein Drittel aller Tiere in den Stallungen ertrunken. In der Kirche, die wie alle Privathäuser fußhoch mit Schlamm sich füllte, stand das Wasser bis zum Tabernakel, und durch Beschädigung der Paramente in der Sakristei ist der Gemeinde großer Schaden erwachsen. Viele Häuser find in den Fundamenten beschädigt und fast alle Grabdenkmäler und Kreuze auf dem Kirchhofe umgelegt worden.

In Uder riß die Leine die Steinbrücke am Bahnhof mit weg und richtete in der Feldflur unermeßlichen Schaden an. Am empfindlichsten wurde der Mühlenbesitzer Rosenthal geschädigt. Auf der Straße nach Hessenau wurde der Eisenbahndamm 80 bis 100 Meter weit weggespült und die Eisenbahnbrücke so beschädigt, daß der Durchgangsverkehr aus fast vier Wochen, bis anfangs März lahmgelegt war, während der Lokalverkehr durch Umsteigen dürftig aufrecht erhalten wurde.

In Duderstadt überflutete das Wasser die Straße am Steintor und die Rosengasse, sowie die Gärten oberhalb der Hahlebrücke an der Bahnhofstraße; es bedeckte den Fußboden der Kapelle des St. Martinihospitals und des Erdgeschosses im neuerbauten Krankenhause. Die Gärtnerei von Lier wurde total verwüstet. Die Orte Gieboldehausen, Rhumspringe, Germershausen u. a. m. waren 24 bis 36 Stunden von allem Verkehr abgeschnitten. Der Gutsbesitzer Schirmer in Lindau a. H. verlor 23 Schafe, und in mehreren anderen Ortschaften gingen einzelne Stücke Groß- und Kleinvieh verloren.

Die tiefen Narben in den Bergfluren, die metertiefen Furchen und Gräben in den Uferfeldern unseres schönen Heimatländchens werden zwar bald ausgefüllt, die fruchtbare Ackererde in wenigen Jahren wieder ausgetragen sein und die niedergerissenen Brücken werden aufs neue von Ufer zu User sich schlagen, – aber die Erinnerung an diesen Schicksalstag dürfte sich selbst durch unsere schnelllebige Zeit hindurch noch manchen Generationen vererben.

Georg Heinrich Daub
(Quelle: Unser Eichsfeld – Zeitschrift des Vereins für Eichsfeldische Heimatkunde, Duderstadt: Mecke, Vierter Band, 1909-1910, S. 43-46.)