Von der Heimatliebe der Menschen auf der Eichsfelder Höhe

Die Orte auf der Eichsfelder Höhe kennt jedermann; denn ihre Kirchtürme schauen weit ins Land hinein und verraten allen, dass da unten um Turm und Gotteshaus Dörfer liegen müssen, und einer sagt es dem anderen: „Da oben am Horizont, da liegt die Struth, und die Kirche im Blauen, das ist der „Dom“ von Effelder; und der schlanke, hohe Turmkegel auf dem kahlen Berge, der gehört der Kirche von Küllstedt. Schade, dass die Kirchen von Wachstedt und Kreuzebra sich hinter Bodenwellen verstecken, sonst könnte man auch diese weithin sehen.“ Doch die niedrigen Häuser der stattlichen Höhendörfer erkennst du aus der Ferne nicht, es sei denn, du stiegest auf den Schimberg, oder auf die Gobert, oder auf den Hülfensberg; denn die Menschen in diesen Orten haben versucht, sich mit ihren Häusern ein wenig hinter die schützenden Bergrücken zu kuscheln; sie fürchten den scharfen Sturm und die grimmige Winterkälte.

In früheren Jahren schickte die „Höhe“ alljährlich ihre besten Söhne als Handwerker und Hausierer und Wollkämmer als Ziegelei- und Zuckerfabrikarbeiter weit in die „Welt“, in der Fremde ihr Brot zu suchen, weil die heimische Scholle so karge Ernten gab. Denn die umliegenden Fluren sind dürftig, und die nährende Ackerkrume ist oft nur so tief, dass die Pflugschar manchmal den steinigen Felsen unter der dünnen Scholle anrührt. So haben die Menschen seit jeher einen harten Kampf ums Dasein führen müssen. Aber die raue Natur hat sie hart und zäh gemacht, und der karge Boden erzog ein anspruchsloses und bescheidenes Geschlecht. Die Höhenbewohner haben sieghaft aller Not getrotzt, und sie sind ihrer Heimat treu ergeben, wie alle, die im harten Schicksalskampf, in Gefahr und bei Entbehrung, ihre Heimat erhalten und schützen müssen. Der sauer vergossene Schweiß, den sie in mühsamer Arbeit der Heimat als Tribut zollten, war das feste Bindemittel, das sie ihr ganzes Leben innigst mit ihr verband.

Im Folgenden soll an etlichen kleinen Erlebnissen, die ich im Umgang mit den Menschen auf der Höhe vor vielen Jahren hatte, gezeigt werden, wie mir die Heimatliebe der Menschen auf der „Höhe“ offenbar wurde.

Dieses ist die erste Geschichte:

Es war ein unfreundlicher, nasskalter Novembertag. Von Nordosten pfiff ein schneidender Wind, doppelt bissig auf der kahlen Höhe zwischen Effelder und Struth, über die ich jetzt wanderte. Als ich so dem „Hohen Rain“ zuschritt, hörte ich durch den dichten Nebel helles Hammerschlagen, und bald erkannte ich hinter einem aufgestellten Windschutz einen alten Bekannten, der hier als Steinklopfer arbeitete. „Ach“, sagte ich da, „Herr M., suchen Sie sich doch für diese Arbeit bessere Tage aus, die Kälte schneidet durch Mark und Bein, sie erfrieren ja hier oben auf dem Rain.“ Da meinte der Mann: „Ich arbete nun schunt zahn Taje in disem pestellanzschen Watter; das wärd värm Frehjohr hie nit wärre anders. Aber das wau (will) ich Uch saje: die Menschen, die Effalder und Struth uf disem Barje angelät (angelegt) ha’n, kunn’ das in Ewigkät nit verantworte un mu‘n (müssen) dofer (dafür) in d‘r tifsten Hölle brenne.“ – Nun wusste ich, dass man meinem Bekannten wegen seiner langjährigen treuen Arbeit eine Lebensstellung auf einer Zuckerfabrik angeboten hatte, drum fragte ich bescheidentlich: „Warum sind Sie denn nicht nach Sarstedt verzogen, da hätten Sie es doch besser gehabt.“ Da sagte der Mann fest und bestimmt: „Ich bliebe, wo mine Hotzen (Wiege) gestenn hät, hie kriet (kriegt) mich keener wagk.“ – Da fiel mir das schöne Wort von Ernst Moritz Arndt ein: „Und seien es kahle Felsen und öde Inseln und wohnten Armut und Mühe dort mit dir, du musst das Land ewig liebhaben; denn du bist ein Mensch und sollst nicht vergessen, sondern behalten in deinem Herzen.“

Und hier eine zweite Geschichte:

Wilhelm, ein flotter Bursche in Effelder, kam wieder einmal zu spät aus der Schenke, und er hatte auch mehr getrunken, als er vertragen konnte. Da gab’s dann am anderen Morgen daheim eine lange Strafpredigt mit vielen bösen, brummigen Worten. Bei Wilhelm regte sich da auf einmal der Trotz, und er begehrte auf: „Ich geh‘ in de wiete Walt un kumme nie wärre.“ Und da der Vater kurz erklärte: „Je, es hält Dich doch kener, mach ruhig, dass Dü fortkimmst, dass Dü endlich mol geschät (gescheit) wärst“, suchte Wilhelm seine „Sieben Sachen“ zusammen, legte alles in eine braune Holzkiste, holte Strick und Bänder und machte den „Koffer“ zum Tragen fertig. Dann rief er seinem Vater noch: „Macht’s gut; ich kumme nie wärre, un ich schriebe äu ken äinzigmol.“ Und er ging trutziglich von dannen. Die Leute auf der Straße blieben stehen: „Wilhelm, wo wit Dü dann hen?“ Und Wilhelm antwortete ganz bockig und mit bösem Gesicht: „Ich geh‘ so wiet, wie mich de Bene träun (Beine tragen). Mach‘s gut, Kathrin!“ – Nun machte aber der wanderlustige Geselle einen großen Fehler. Als er nämlich zur Kapelle am Flügel gekommen war, schaute er sich noch einmal um. Da sah er sein Heimatdorf im Sonnenschein vor sich liegen – hoch über den Häusern die Kirche – und etwas weiter die vertrauten Wälder seiner Kindheit und in der Ferne die Berge an der Werra. Da wurde ihm auf einmal so eigen ums Herz, er wusste nicht, wie ihm geschah. Der Bock in ihm zog seine Hörner ein, das Trotzeis in seinem Gemüt begann zu schmelzen, und in die Augen schoss ihm das Wasser. So weh war ihm da, als er von der Heimat scheiden sollte. Sein Entschluss kam ins Wanken; er ging trübselig die „7 Gärten“ hinab bis ins „Hübenthal“. Da versteckte er sich mit seiner Wanderlust unter die Straßenbrücke, damit ihn niemand sähe und finde, und er blieb mit zerrissener Seele da, bis die Sterne am Himmel aufzogen. Dann raffte er sich auf, nahm sein Wandergepäck, schlich ins Dorf zurück, kam auf heimlichem Wege ins Vaterhaus, fand die Hoftür offen, trat in die Stube und sagte: „Ich kann nit fort; ees äs was, was mich festhält, ich bliebe hie.“

Und nun soll noch eine dritte Geschichte erzählt werden:

Das Häuschen war ganz niedrig und arm. Aus den kleinen Fenstern schaute jederzeit die Not, und wer durch die niedere Tür eintreten wollte, musste sich bücken. Im Hause waren nur eine Stube, ein Kämmerchen und eine rußige Küche. Und doch wohnten in der Hütte neben den Eltern die alte Großmutter und noch 9 Kinder; die armen Strohbetten standen bis oben unter die unverstrichenen Ziegeln. Der Vater, im Sommer ein Tagelöhner, im Herbst ein Zuckerfabrikarbeiter, im Winter ein Wollkämmer, brachte jeden Pfennig seines kärglichen Verdienstes heim, und es langte gerade, den Tisch so zu decken, dass keiner verhungerte, zumal neben dem Häuschen noch ein Stall mit zwei Ziegen und ein Koben mit einem Schwein stand. Die größeren Kinder halfen wacker mit, Brot zu schaffen: hüteten im Sommer auf grünem Anger die Gänse, holten Laub und Holz im Walde und verdienten ab und zu einen Groschen bei Botengängen und für Hilfe bei Feldarbeiten. Großmutter aber saß tagein, tagaus mit ihren sehschwachen Augen im Stübchen und spann fremdes Garn für fremde Leute. Das Hauptnahrungsmittel waren die gelben Kartoffeln, die auf dem „Hasselboden“ der steinigen Flur wohl gediehen. Da hieß es denn, wie überall in den dürftigen Gegenden unseres Heimatlandes:
 

Kartoffeln in der Frühe,
Kartoffeln in der Brühe,
Kartoffeln mit dem Kleid (Pellkartoffeln),
Kartoffeln in alle Ewigkeit!

Und wenn an einem Freitag zwei marinierte Heringe dazu auf den Tisch gestellt wurden, war das jedes Mal ein Festtag. – So verging die Zeit, die Kinder wuchsen heran, und die großen waren bereits starke Burschen und hübsche Mädchen geworden.

Da ging in jenen Jahren – es war um 1890 – wieder einmal die Sage von dem gesegneten Lande der „untergehenden Sonne“ um, wo man so mühelos reich werden könne und ein Leben in Glück und Wohlstand auf jeden warte. Da wurden in allen Orten des Eichsfeldes die Menschen unruhig, und viele kämpften damals den Kampf um ihre Heimat. Manche erlagen dabei, verkauften ohne großes Bedenken ihre Hütte und die steinigen Äcker, nahmen Abschied von der Heimat, reisten nach Bremen und fuhren auf dem Zwischendeck eines billigen Personendampfers nach Amerika.

Die verlockende Kunde von den Reichtümern der „Neuen Welt“ kam auch zu dem armen Häuschen auf der Höhe, klopfte mit ihren Verheißungen an die Tür und verwirrte die Gedanken der Menschen da drinnen. Und Andreas, der bereits 25 Jahre alt geworden war, eilte nach kurzem Besinnen nach Dingelstädt, schnell seine Braut heimzuführen, ließ sich von Vater und Mutter den Segen geben, zog fort in den Hafen, wo die großen Auswandererschiffe ankerten und ließ sich von den Wellen des Atlantik in das Land der „unbegrenzten Möglichkeiten“ tragen.

Nun hörte man etliche Jahre ganz selten etwas von dem Auswanderer, nur dass er noch lebe und dass es ihm „gut“ gehe.

Nach mehr als 20 Jahren – es war 1910 – lief durch das Höhendorf die Kunde: „Andres kämmt disen Summer vun Amerika zu Besuch häm!“ Und nun ging alles schneller als Du denken magst: Es kam ein Telegramm, man machte eine Ehrenpforte ans kleine Haus, schickte eine Kutsche an den Bahnhof, den Heimkehrer mit Frau und Kind abzuholen. Alle, die es möglich machen konnten, standen zum Empfang auf der Dorfstraße bereit, sperrten die Mäuler auf, staunten den Besuch wie ein Wunder an und schauten dem Willkommen vor dem Elternhause zu. Aber man wunderte sich, dass Andres nicht lachte, sondern weinte.

Ich habe Andres kurze Zeit nach seinem Einzug in die Heimat auch kennengelernt. Er fuhr nach Mühlhausen, und ich auch. Wir kamen ins Gespräch. Er lud mich ein, in einem Restaurant am Untermarkt mit ihm zu Mittag zu speisen. Da sprachen wir dann von diesem und jenem; ich wollte so viel von der fremden Welt erfahren. Er aber lenkte das Gespräch immer wieder auf seine alte Heimat, und ich musste mit ihm in Eichsfelder Mundart sprechen.

Als ich dann anfing, sein Glück zu preisen, das er jenseits des „Großen Wassers“ gefunden hatte, wurde der Mann ganz ernst, und er sagte: „Sie urteilen voreilig und falsch; das Glück sieht wohl anders aus; das braucht kein Geld und braucht keine Farm. Wenn Sie es recht besehen, habe ich großes Unglück gehabt; denn ich habe auf der Reise nach Amerika meine Heimat verloren. Die Heimat ist viel mehr wert als eine einträgliche Farm und rotes Gold. Hätte ich noch einmal die Wahl, ich bliebe daheim auf meinen Heimatbergen, bei den lieben treuen Menschen des Eichsfeldes. Es ist ein böses Beginnen, wenn man zwischen sich und seine Heimat einen Riegel schiebt, und niemand sollte das je ohne zwingenden Grund tun.“

So, nun begreift jeder, der diese kleinen Geschichten gelesen hat, warum den Eichsfeldern in der Fremde das Heimweh so stark in den Herzen brennt und warum die Sehnsucht nach den zurückgebliebenen Menschen, nach den geliebten Bergen und Triften, nach den heimlichen Buchenwäldern so unstillbar ist, dass das „Bild der alten Tage“ dauernd durch „ihre Träume weht“. Jetzt weiß auch jeder, warum alle, die die Heimat einst verlassen mussten, immer wieder auf die „Höhe“ zurückkommen. Jetzt versteht er auch, warum die Wachstedter an den „Klüschentagen“ so viel Besuch haben, und warum auf St.-Annentag die Struther in der Fremde so gern daheim sein wollen, und warum die Ausgewanderten von Effelder sich jeden Sommer etliche Tage Urlaub verschaffen, um auf „Albanus“ betend und singend mit durch die geschmückten Dorfstraßen ihrer alten Heimat ziehen zu können.             

Franz Hunstock
(Quelle: „Eichsfelder Heimatborn“, Ausgabe vom 12.02.1955)