Wanderung durch die Herbstschönheiten des Südeichsfeldes

Verschwunden ist die reiche Blumenpracht des Sommers. An seine Stelle ist das Leuchten in vielfachen Farben der reifen Hagebutten, Ebereschen, Holunder und Vogelbeeren getreten. Nur längs des Weges, den wir aufwärts wandern, grüßen uns die letzten hellblauen Blüten des Wegwarts und die dunkelblauen Blumen des Herbstenzians. Gleich einem silbergrauen Schleier lagern sich über die Raine die sich tausendfach windenden Zweige des Teufelszwirns, durch die blaubereifte Schlehen lugen. Von Distelkopf zu Distelkopf huschen die bunten Stieglitze vor uns her, und vom Rand des nahen Hochwaldes tönt das sich immer wiederholende melodische „süd-süd“ der rotbrüstigen Dompfaffen. Doch da fällt uns eine eigenartig geformte gelbrote Frucht an einem Strauch auf, es sind die Früchte des Spindelbaumes (Evonymus europaea), der auch wegen der kreuzweise geteilten Frucht Pfaffenhütchen genannt wird. Aus dem Holz des Spindelbaumes wurden früher die Spindeln gemacht. Damals ließ man sie noch zu Bäumen auswachsen, während sie heute bei uns nur noch als Büsche anzutreffen sind.

Doch wandern wir weiter zur Höhe, dort auf steinigem Untergrund des abgestürzten Gehängeschuttes vor dem Waldrande, fällt unser Blick auf eine Pflanze, deren scharlachrote Blume geschlossen ist, gleich einem Lampion. Einige sich schon öffnende Lampions lassen in der Mitte eine Kirsche sehen. Es ist die auch bei uns auf dem Südeichsfeld immer seltener werdende Judenkirsche (Physalis Alkekengi). Durch das dichte Unterholz des Waldrandes sehen wir die flinken Eichhörnchen schlüpfen, auf der Suche nach Haselnüssen. Doch da entdecken wir auf einem Haselzweig ein kleines, reizendes Mäuschen mit großen Augen und Büscheln am Ohr und Schwanz. Wir verhalten uns ganz still, um das possierliche Tierchen nicht zu verjagen und weiter beobachten zu können. Es ist die in den meisten Gegenden schon ausgestorbene Haselmaus – da ein unvorsichtiger Tritt, und verschwunden ist das kleine Tierchen.

Nun betreten wir den Hochwald, ein Häher schreit, als wollte er uns den Eintritt wehren. Hier passieren wir eine feuchte Stelle des Waldes, die ein Rinnsal durchzieht und an dessen Rändern im Frühjahr der Aronstab (Aracea Arum), auch Waldkalla genannt, blühte. Die langgestielten Blätter der Pflanze sind verschwunden; allein steht nur noch der kurze Blütenkolben von einem Kranz mennigroter Beeren umgeben. Ein eigenartiger Anblick, als wüchsen die Beeren direkt aus der Erde. Höher steigen wir durch den Hochwald, vorbei an zweihundertjährigen Eiben, wovon die schwarzgrünen Zweige der weiblichen Bäume unterhangen sind mit unzähligen rubinroten, becherförmigen Fruchtzapfen. Diese Eiben geben ein bezauberndes Bild, von dem man sich schwer trennen kann. Dann fallen uns zwischen den Hochwaldriesen einige uns fremdanmutende Bäume auf. An Größe wetteifern sie mit Buchen und Ahorn, doch ihre Blätter und auch die Rinde gleichen eher Obstbäumen. Da entdecken wir ja auch kleine birnenförmige braune Früchte, jetzt wissen wir, dass es die bei uns noch vorkommenden Elsbeerbäume sind (Pyrus torminalsi). Immer höher steigen wir durch Farnwedel und durch die kniehohen, mit schwarzen Beeren besäten krautartigen Sträucher des Christoffkrautes (Actea spicaba). Allmählich lichtet sich der Wald und wir sind auf einem der vielen Kalksteinfelsen angelangt.

In weiter Sicht schweifen unsere Augen über die in tausend Farben prangende Herbstlandschaft des Südeichsfeldes. Die Gipfel der umliegenden Bergwälder haben sich schon gefärbt und scheinen zu brennen. Dunkel und ernst stehen in diesem Flammenmeer Fichten und Eiben. Über die frischgebrochenen braunen Felder sieht man schon die nassen Fäden der Erdspinne in der Sonne glitzern. Unter uns aus einer Felsspalte schießt ein Turmfalk in die dunstig-blaue Luft, scheint, mit den Flügeln rüttelnd, hier auf einem Fleck zu hängen und lässt sein übermütiges „Glik-glik-glik“ ertönen.

Wohin man blickt, immer wechselnde Bilder.

Berauscht von all dem Schönen, beginnen wir den Abstieg an einer Waldwiese vorbei, wo letzte Herbstfalter um letzte Blumen gaukeln. Auf einem sonnenbeschienenen Stein sitzt ein Admiral mit ausgebreiteten, rotberänderten Flügeln, um die letzten Herbstsonnenstrahlen in sich aufzusaugen. Über den Weg hastet noch eine verspätete bunte Raupe des Wolfsmilchschwärmers, um sich ein geeignetes Plätzchen zur Verpuppung zu suchen und hier sicher den Winter verschlafen zu können. Auf den Dornenhecken sieht man noch einige vom Würger aufgespießte Heuschrecken und Käfer, die er bei seinem Fortzuge vergessen hat. Über diesen traurigen Resten sitzt eine Goldammer: und singt ihr langgezogenes „Rit-rit-rit-rit-rie-de-lie“.

Gestärkt an den Schönheiten der Natur beenden wir unsere Wanderung mit der streitenden Frage im Innern: Welche Jahreszeit ist schöner, der junge schwellende Frühling mit jauchzendem Amselschlag, der blumen- und früchtebeladene Sommer mit hundertfachem Vogelsang oder der in Schönheit sterbende Herbst mit dem melancholischen Lied der Goldammer?

Jede Zeit hat ihre eigenen Reize, man muss sie nur zu finden wissen — auch der kommende Winter.

Unsere Heimat darf in ihrer einzigartigen Schönheit nicht mehr das Ziel verbrecherischer Angriffe werden. Denn eine einzige Atombombe schon würde genügen, die von allen Ferienurlaubern unserer Republik bewunderte Pracht der Natur zu vernichten.


Lambert Rummel
(Quelle: „Lengenfelder Echo“ – Erste Ausgabe als Sonderheft zur Volkswahl 1954)