Der Eichsfelder in der Fremde

Auf einer Eisenbahnfahrt kam ich einmal mit einem Geistlichen ins Gespräch. Er erzählte mir von seiner schwierigen Seelsorge in dem Außenbezirk einer Großstadt. Haarsträubende Dinge kamen da zum Vorschein. Ich habe selber auch schon manches erlebt, aber solch schlimme Verhältnisse hatte ich noch nicht kennengelernt. Als ich schließlich fragte, wer denn eigentlich noch von den Leuten in die Kirche gehe, erwiderte mir der Geistliche: „Fast niemand als die Eichsfelder.“ Ich erfuhr dann, dass sich in jenem Stadtviertel eine größere Zahl Eichsfelder angesiedelt hatte. Und diese Eichsfelder sind festgeblieben und sind die einzige Hoffnung in der Gemeinde. Ohne die Eichsfelder könnte man dort einpacken. Wenn man selber Eichsfelder ist, so freut man sich über solche Kunde noch ganz besonders. Sie war mir allerdings nichts Neues. Man kann es überall feststellen, dass die Eichsfelder im Allgemeinen ihrer Religion in der Fremde treu bleiben.

Es dürfte interessant sein, einmal über die Ursachen dieser Erscheinung nachzudenken.

Gewöhnlich erlebt man, dass gerade die Abwanderer in die größte Gefahr kommen, ihre Religion zu verlieren und dass sie dieser Gefahr erliegen. Wie erklärt es sich, dass der Eichsfelder standhält? – Es hängt selbstverständlich mit seinem Charakter und mit der Eigenart seiner Heimat zusammen. Das Eichsfeld ist zum größten Teil arm und ist als armes Land bekannt, beinahe verrufen, so dass mancher Eichsfelder sich seiner armen Heimat in der Öffentlichkeit ein bisschen schämte und sich nicht gern als Eichsfelder zu erkennen gab, um nicht abfällige Bemerkungen hören zu müssen. Heute denkt man darüber anders. Aber die Armut ist geblieben, wenn es auch mancherorts durch Heimindustrie besser geworden ist. Es ist so, dass der karge Boden und die starke Besiedlung die Bewohner von altersher zur Abwanderung zwingt. In verschiedenen Dörfern besteht geradezu eine Abwanderer- Tradition. Man zieht seit langem immer wieder in ganz bestimmte Gegenden, um dort den Lebensunterhalt zu suchen Dort trifft man sofort mit Leuten aus der Heimat zusammen und hat an ihnen einen Halt. Solche Abwanderer-Tradition besteht auch in anderen Gegenden, ohne dass man allerdings viel Günstiges davon spüren könnte. Bei den Eichsfeldern kommt dazu, dass sie ein lebhaftes, intelligentes und strebsames Völkchen sind, mit einer tüchtigen Dosis Dickköpfigkeit behaftet, die nicht immer bequem ist, aber ihre großen Vorteile hat. Der Eichsfelder lässt infolgedessen sich nicht einfach durch das Fremde und Neue imponieren, zumal obendrein nicht gerade die Dümmsten und Schlechtesten abwandern. Der Antrieb, in die „Welt“ zu ziehen, ist zumeist nicht die Sucht nach der Großstadt, sondern die harte Notwendigkeit. Der Eichsfelder geht ungern aus der Heimat fort. Damit stoßen wir auf einen sehr wichtigen Umstand, der den Abwanderer wohl am stärksten stützt, nämlich die außerordentliche Anhänglichkeit an die Heimat. Jeder Mensch liebt seine Heimat und hängt an ihr und wird auch von ihr beeinflusst. Beim Eichsfelder tritt dieses aber besonders stark hervor. Das Eichsfeld ist ein geschlossener Bezirk mit einer besonderen Struktur, und die Bevölkerung bildet einen eigenen Stamm, der sich von den nachbarlichen Thüringern, Hessen und Niedersachsen durchaus unterscheidet. So fühlen sich die Bewohner stark als Angehörige eines besonderen Stammes, und sie lieben die karge und doch so schöne Heimat und verlieren selten die Verbindung mit ihr. Diese Heimat ist treu katholisch. Entsprechend dem Volkscharakter ist es gewöhnlich nicht ein so schwerfälliger, gewohnheitsmäßiger Katholizismus, sondern ein mehr lebendiger, bewusster. Und gerade die Ortschaften, die eine starke Abwanderung aufweisen, haben eine lebendig katholische Bevölkerung. So nimmt der Abwanderer eine gute fundierte Religiosität mit in die Fremde.

Die Abwanderer setzen sich selbstverständlich nicht sofort in der Fremde fest. Sie ziehen als Fabrikarbeiter fort oder als Handelsleute oder als Musikanten. Jahrelang kommen sie immer wieder nach Hause und stehen dann in der starken religiösen Tradition ihres Heimatdorfes. Man hört zuweilen aus anderen Gegenden, dass solche Heimkehrenden keine guten Einflüsse ausüben. Beim Eichsfelder ist dieses nicht der Fall. Die Heimat ist so stark, dass die Zurückkehrenden sofort wieder von der Heimatsitte erfasst werden. Der Zusammenhang mit der Heimat wird auch durch das eichsfeldische Erbrecht begünstigt. Das elterliche Gut wird unter die Kinder aufgeteilt. Man weiß wohl, dass dieser Zustand für die Landwirtschaft nicht günstig ist. Aber jedes Kind möchte gern ein Stückchen väterlichen Grund und Boden besitzen. Dadurch, dass der Abwanderer zu Hause noch einen Besitz hat, versucht er zunächst immer wieder, in der Heimat zu bleiben. Erst wenn er etwas Günstiges in der Fremde gefunden hat, siedelt er sich draußen an. So kommt es auch, dass er sich in der Fremde nicht unter die niederen Volksschichten mischt. Er will kein Großstadt-Proletarier werden und wird es gewöhnlich auch nicht. Im Gegenteil, der Eichsfelder bringt es infolge seiner Strebsamkeit und Einfachheit häufig zu einem gewissen Wohlstand und ist auch dadurch vor vielen Gefahren geschützt, denen andere Abwanderer zum Opfer fallen.

Selbstverständlich trifft das Gesagte nicht für alle Fälle zu. Es gehen in der Fremde auch viele Eichsfelder ihrer Heimat und ihrer Religion verloren. Wie könnte es anders sein! Dadurch wird aber die Tatsache nicht umgestoßen, dass der Eichsfelder im Allgemeinen seiner Religion treu bleibt. Möge der Herrgott geben, dass sich daran nichts ändert!

Autor: A. L.
(Quelle: „Bonifatiusbote: Kirchenzeitung für das Bistum Fulda“, Ausgabe vom 29. September 1929)