Ein Schulausflug auf der Kanonenbahn vor 70 Jahren

Als Weihnachts- bzw. als Jahresabschlussgeschenk gibt die Josef-Apotheke in Lengenfeld unterm Stein jährlich einen Monatskalender mit 12 Foto-Impressionen heraus. Für das Jahr 2010 sind es „Eichsfelder Impressionen“ mit dem Titel: Alte Bilder erzählen. Alte Fotos erzählen dann monatlich bildlich über geschichtsträchtige Orte, Denkmäler und Landschaften des Eichsfeldes. Und deren gibt es viele, wovon jedes einzelne Foto ein Kunstwerk ist. Auf dem jeweiligen Kalenderblatt sind wichtige Eichsfelder Daten wie Prozessionen, Wallfahrten, Gottesdienste, Pilgertage, Namenstage usw. aufgeführt.

So entdeckte ich für den Monat September ein altes Foto vom Viadukt der Kanonenbahn in Lengenfeld unterm Stein, wo eine Dampflok auf der historischen Brücke über das Dorf braust. Beim Betrachten des Fotos werden in mir innerliche Gefühle wach. So sind auf diesem Foto noch einige Häuser wie „Mimis“ Wohnhaus, nebenan das kleine Gebäude der damaligen „Deutschen Post“, sowie die damalige Milchverkaufsstelle zu erkennen. Fehlend sind auf dem Foto die vier neuen Wohnhäuser, die noch zur DDR-Zeit errichtet wurden, als Baumaterial noch Mangelware war, doch die Bürger sich trotzdem wagten, einen Bau zu beginnen.

Auch an das neue Feuerwehrhaus und den heutigen Parkplatz „Am Plan“ hat damals noch niemand zu denken gewagt. Beides direkt am Viadukt der Kanonenbahn. Wenn ich mir dieses historische Foto wehmütig verinnerliche, fällt mir folgendes Erlebnis aus meiner Schulzeit, vor dem Beginn des II. Weltkrieges ein:

In meinem Heimatort Struth besuchte ich die vierklassige Volksschule mit 60 Schülern in einer Klasse mit zwei Jahrgängen mit zweierlei Unterrichtsstoff. Eines Tages sagte unser Lehrer: „Nächste Woche machen wir einen Schulausflug. Wir laufen von Struth nach Lengenfeld unterm Stein und fahren dort mit der Eisenbahn auf einer Brücke über das ganze Dorf hinweg.“ Die Ankündigung war fast unglaublich. Wir konnten uns dies kaum vorstellen, zumal mancher von uns noch nie in Lengenfeld unterm Stein gewesen war. Zwanzig Reichspfennig sollte uns dieser Ausflug kosten, so kündigte unser Lehrer an. Doch zu meiner Betrübnis hatte ich kurz vorher meiner Mutter 5 Reichspfennig aus ihrer Geldbörse geklaut (entwendet). Sie bemerkte es und als Strafe hierfür sollte ich diesen Schulausflug nicht mitmachen dürfen. Doch um mich nicht vor meinen Schulfreunden zu blamieren, stimmte sie kurz vorher diesem Schulausflug noch zu und ich erhielt das Geld. Darüber war ich sehr glücklich, den Schulausflug mitmachen zu können und auch vor meiner Klasse nicht als der Spitzbube dazustehen. Das hätte mir sehr weh getan. Liebe Mutter, dafür danke ich dir heute noch!

So wanderten wir bei schönem Frühlingswetter aus unserem Heimatdorf Struth diese 6 km zum Lengenfelder Bahnhof. Schon als wir die mächtige Brücke im Dorf unterliefen, staunten wir sprichwörtlich „Bauklötze“. Doch von einem Viadukt, wie man das mächtige Bauwerk heute nennt, sprach damals kein Mensch. Mit dem zweiten Morgenzug fuhren wir in der 3. Klasse – immer noch staunend – auf der Brücke über das Dorf. Es kam uns wie ein kleines Wunder vor. Vor lauter Begeisterung überschlugen wir 60 Schüler uns in einem Sprachgewirr. So etwas hatten wir alle noch nicht gesehen und miterlebt! Wir waren sprichwörtlich in Hochstimmung! Für viele war es das schönste Erlebnis ihres bisherigen Lebens!

An der ersten Station in Großbartloff stiegen wir aus und wanderten bis zur Spitzmühle, ans Pumpwerk des Obereichsfeldischen Wasserleitungsverbandes Großbartloff. Als wir dort übergroße Dieselpumpen im gleichmäßigen Takt bis auf die höchste Erhöhung des Eichfeldes – zwischen Struth und Effelder – Wasser pumpen sahen, war unser Staunen riesengroß und fast unbegreiflich. Ein solches Wunder der Technik hatten wir in unserem bisherigen Leben noch nicht gesehen. Übrigens, im Jahre 2011 werden es bereits 100 Jahre, dass von hier auf die Eichsfelder Höhe, 517 m.ü.M. gepumpt wird. Ein Jubiläum, welches man feiern sollte. Bis 1911 holten die Struther ihr Trinkwasser teils mit Eimern aus dem Goldborn bei Kloster Zella.

Noch dort im Pumpwerk packten wir unsere mitgebrachten Frühstücksbrote aus und verspeisten unsere mitgebrachten Eichsfelder Spezialitäten. (Feldgieker, Schwarze Garwurst oder ein Fettbrot). Unser Getränk war frisches kühles Quellwasser aus dem Pumpwerk von der Lutterquelle. Es schmeckte uns wunderbar. Zwanzig Pfennig für die Fahrkarte hatten unsere Eltern schon geopfert, aber mehr war auch nicht drin. Ihr Schüler von heute, bitte nicht lachen!

Der Geldbeutel der Eltern gab es damals – bei sehr großen Familien – nicht her. Fast alle im Dorf waren gleichgestellt und so vermissten wir auch nichts. An diesem Tag waren wir alle riesenfroh und glücklich, eine solch’ herrliche Eisenbahnfahrt erlebt und so einen bisher unbekannten historischen Ort, das Pumpwerk, kennengelernt zu haben. Daheim bei den Eltern und Geschwistern angekommen, erzählte ich voller Begeisterung das Erlebte.

Ja, liebe Kinder und Jugendliche, über solch’ kleine Dinge des Lebens konnten wir uns damals noch riesig freuen.

Heute werden oft Kinder von Erlebnissen überhäuft, sodass man sie oft nicht mehr zu schätzen weiß.

Doch nicht lange später endete unsere unbesorgte Kinderzeit. Hitler mit seinem Faschismus überfiel halb Europa und bracht Not und Elend in viele Familien. Vier meiner älteren Brüder mussten für dieses System in den Krieg ziehen, mit vielen Vätern und Söhnen unseres Dorfes, von denen 120 Männer in fremder Erde begraben sind.

Das Fazit lautete 1945: Nie wieder Krieg! Leider hat dieser gute Vorsatz in der Welt nicht standgehalten.