Zum 100-jährigen Jubiläum von Schloss Bischofstein, der ehemaligen Internatsschule

Liebe Bischofsteiner Familie, die sich leider aber dem Naturgesetz folgend, immer mehr verkleinert, da die Nachfolge seit 1945 fehlt. Es ist der 25. November 2008 und ich schaue aus dem Fenster im Meierhof in Langenhain, nicht fern von Lengenfeld unterm Stein, Eschwege und Wanfried. Ich sehe eine märchenhaft schöne, verschneite Winterlandschaft in unserer kurhessisch-thüringschen Mittelgebirgslandschaft. Sie liegt so still und friedlich, fast feierlich, ja besinnlich da, als wollte sie alle Unbilden dieser geschundenen Erde, die Gräber unserer Ahnen und Freunde, auch gefallene und Umgekommene in zwei Weltkriegen, sowie 12 Jahren Hitler-Herrschaft mit der weißen Pracht überdecken ... zum Gedenken. Aber auch zum Umdenken des Homo sapiens bezüglich menschlichen Verhaltens und Entscheidungen einzeln, untereinander und global. Die momentane verheerende Finanzkrise erfordert international, exakte Bedingungen für Politikziele; Finanz und Wirtschaft, Menschen und Naturrecht, ehe unser Planet unregierbar wird und im Chaos versinkt.

Ich möchte 2008 nicht enden lassen, ehe mir nicht des 100-jährigen Jubiläums unserer alten Penne, nein, unserer aller Jugendtraum und Erinnerung an „Schloss Bischofstein“ und alles was wir damit verbinden, gedenken.

Er fand seine Schule im abgelegenen, rauen Eichsfeld, mitten in Deutschland, mit seinen zuverlässigen Einwohnern. Am 18. Januar 1908 eröffnete Dr. Marseille im stillen, kurfürstlich-mainzischen Schloss Bischofstein seine Erziehungsschule, mit 35 Schülern. Der Leitspruch des Philosophen de Lagarde „Alle Erziehung ist Hilfe am Werden“ galt der Erziehung und Bildung, die nach individueller Begabung, in kleinen Klassen und nahen Lehrern gefördert wurde. Allgemeinwissen und musische Fächer regten die Schüler an, neben Handwerk, Sport und Außenarbeit in den 25 Hektar Landwirtschaft; die auch die Küche versorgte, zu arbeiten.

1911 heiratete Dr. Marseille seine zweite Frau Hedwig geborene Vowinckel, sie war eine Schülerin Max Reinhardts in Berlin, sie gab eine große Theaterkarriere auf, um ihrem Mann bei der Förderung junger Menschen zu helfen. Bischofstein erlebte von da an einen kulturellen Aufschwung und Frau Marseille war die Mütterliche Seele der Schüler.

Dr. Marseille verlangte von seinen Lehrern und Schülern gleichen Einsatz, der für ihn selbstverständlich war. – Wie hat dieser national gestimmte Mann gelitten, „als seine Schüler“ im Ersten Weltkrieg zu den Fahnen eilten ... und nicht mehr heimkehrten!

Im Oktober 1917 zog sich Marseille eine Lungen- und Rippenfellentzündung zu, bei Außenarbeit im strömenden Regen. Am 6. November verstarb dieser rastlose Mann an Herzversagen. In tiefer Trauer wurde dieser Pädagoge von seinen Lehrern und Schülern auf dem kleinen Friedhof unter dem Stein, zur letzten Ruhe getragen.

Es sollte eine schöne Wiedersehensfeier miteinander sein, die so viele (oder noch) Alte und Junge ersehnt und erwartet hatten. Doch, oh Schreck, man warf der Internatsplanung „Knüppel“ in die Weiterführung. Mangels Internatsschülern wurde man nun zur Insolvenz gezwungen. So ist leider der Traum und Wunsch vieler Bischofsteiner, die das Objekt tatkräftig unterstützten und dem von unserem lieben verehrten „Wölfi“ zielstrebig und mit Energie begleiteten Internatsaufbau, sowie die Jahrelange selbstlose Internatsleitung und Arbeit unseres lieben Förderers Hans-Georg Hildebrand und seiner Familie, wie auch die große Unterstützung unseres Freundes Klaus-Dieter Heßler, trotz aller Anstrengungen wie ein Luftballon zerplatzt. – Leider!

Wir Bischofsteiner können allen Mitwirkenden am schwierigen Erwerb des Schlosses und dem Aufbau wie Betrieb des Internates nicht genügend Dankbarkeit erweisen, was sie, auch in unserem Namen, geleistet haben. Sie haben so manche Stunden und Tage ihrer Familie geopfert. Darf ich Ihnen ein herzliches Dankeschön von uns aussprechen? – Alles ist schade und traurig aber wahr. –

Sehenswert ist und bleibt die bauliche Teilrenovierung und Umgestaltung des Schlosses außen und innen, im Park und Umgebung.

So war es auch möglich, nach kurzer Umbauzeit des Torhauses und Internats, durch die Schlossbesitzer, das Gebäude an eine Gesellschaft für Kurzzeitpflege für ältere Menschen zu verpachten.

So wünschen wir den pflegebedürftigen Menschen in „unserem Schloss Bischofstein“ einen erholsamen Aufenthalt und Hilfe in der schönen Eichsfeld-Umgebung.

Es ist gut, dass das Schloss weiter genutzt wird, heute nun zum Wohl betagter Menschen ... Wer weiß, vielleicht auch mal wieder für die Jugend!

Nun einige Daten vom Gründer des Landschulheimes „Schloss Bischofstein“:
Gustav Marseille wurde am 20. August 1865 in Homberg/Efze geboren. Nach dem frühen Tod des Vaters, der Lehrer dort war, siedelte die Mutter mit ihren Kindern in die Universitätsstadt Marburg. Hier besuchte Gustav das Gymnasium und studierte Theologie und Philosophie. Später arbeitete er u.a. in Düsseldorf und Putbus an Gymnasien und unternahm 1904 eine Studienreise nach England, wo ihm der freie Lebensstil und die Landschulheime beeindruckten. Er kehrte heim und fand im Erziehungsheim „Schulpforta“ seine Vorstellung der Schule. Der Reformpädagoge Dr. Hermann Lietz hatte 3 verbundene Landschulheime gegründet, nach englischem Vorbild. Lietz, der mit Gustav Marseille befreundet war, übertrug ihm die Leitung der Schule im Thüringer Wald. Doch Marseille trennte sich bald von Lietz und suchte ein geeignetes Objekt, um seine Vorstellungen zu verwirklichen.

Es blieb ihm erspart, den Tod seiner Söhne Ernst und Wolfgang (aus erster Ehe) zu erleben, die auf einer Ferienfahrt in der Warthe ertranken. Sein Sohn Walter, ausersehen, seines Vaters Werk in Bischofstein fortzuführen, starb als bekannter Psychotherapeut 1975 in München. Anlässlich des 50. Jubiläums von Bischofstein widmete Dr. Ripke folgenden Nachruf für Dr. Marseille: „Die seltene Gabe, Erzieher der Jugend zu sein, besaß Gustav Marseille nur deshalb, weil ihm nie sein persönliches Führertum wichtig war, sondern die Sache dem Bischofstein geweiht war: Jugendlichem Menschentum zu dienen. Nicht, um Grundsätze und Programme, um Richtungen und Ansichten war ihm zu tun, sondern im Tiefsten beseelte ihn der Wunsch, die seiner Obhut anvertrauten jungen Menschen das erleben zu lassen, was so stark und ursprünglich in ihm lebendig war: Ehrfurcht vor allem wahrhaft Wirklichen, es sei auch was es sei, Ehrfurcht vor dem Leben in seiner Mannigfaltigkeit, seiner Farbigkeit und Vielförmigkeit, in seiner nie zu erschöpfenden Tiefe und Fülle.

Denn ein Mensch, der sich wie Gustav Marseille zum Wahlspruch seiner Lebensarbeit das schlichte Wort eines deutschen Mannes erwählt hatte „Alle Erziehung ist Hilfe am Werden“ (de Lagarde), der war in seinem Inneren demütig und wusste, dass von Erziehung nur da die Rede sein kann, wo dem Kinde die Möglichkeit gegeben wird, den Weg zu seinem inneren Schicksal zu finden, auf das es in freudiger Bejahung seines eigenen Wesens den Mut finde, sich zu sich selbst zu bekennen. Darum ist Erziehung nur möglich durch Freiheit, sonst wäre sie nicht, was sie sein sollte: Wagnis; denn auch das Leben selbst ist Wagetat, und die Freiheit ist der ewig glühende Atem der Welt.“

– Wenn man diesen tiefgreifenden Nachruf eines so hervorragenden Pädagogen, der Ripke verkörperte, auf Gustav Marseille vortrug, kann man ihn getrost auf Dr. Wilhelm Ripke übertragen, er war der beste Erzieher und Lehrer, von Gottes Gnaden!

Hier noch einige Daten über Wilhelm Ripke:
Ripkes Ahnen stammten aus Wannenburg und wanderten aus Balkkum aus, sein Vater leitete in der Universitätsstadt Dorpal (Estland) das Gymnasium, wo Wilhelm Ripke am 23. Februar 1886 geboren wurde, seine Mutter, Anna Gräfin Igelström entstammte einem alten schwedisch-estnischen Geschlecht, ihr Bruder war Adelsmarschall und Ritterschaftshauptmann. Sie schenkte 11 Kindern das Leben und war eine sozial engagierte, volkstümliche und weltoffene, sowie beliebte Frau, die 6 Sprachen beherrschte. So wuchs Wilhelm im offenen baltisch-russisch-deutschen Umkreis auf. Er verbrachte die Jugendjahre in St. Petersburg, wo er das Gymnasium absolvierte und in Moskau als Privatlehrer wirkte. 1906-1912 studierte Ripke in Heidelberg Philosophie und promovierte zum Dr. Phil. zum Thema: „Über die Beziehung zwischen Ficht’scher Kategorienlehre und der Kant’schen“ Danach wirkte er als Hochschuldozent an der Moskauer Universität. – Hier erlebte er die Spannungen und Wirren, den 1. Weltkrieg. Nach der russischen Oktoberrevolution 1918 kehrte er nach Deutschland zurück.

Für den jungen auslandsdeutschen Pädagogen war es schwer, eine Anstellung in seinem Schulfach zu finden, so war es für ihn und das Landschulheim Schloss Bischofstein ein großes Glück, dass er am 1. Februar 1919 dort eine neue Aufgabe fand. Vor einem Jahr war der Gründer der Schule, Dr. Gustav Marseille, verstorben und seine Witwe suchte junge Lehrer für die Weiterführung der Schule im Sinne ihres Mannes. Ripke gelang es in kurzer Zeit, das Vertrauen von Schülern und Lehrern zu gewinnen. Am 17.7.1920 übertrug man Ripke durch Erlass des preußischen Kulturministers die Leitung der Schule und die Genehmigung von Abschlussprüfungen. Durch die Heirat von Wilhelm Ripke und Hedwig Marseille folgten die glücklichsten Jahre für Schloss Bischofstein für die folgenden 10 Jahre.
Auch Ripkes Devise lautete dem Leitsatz Marseilles folgend „Alle Erziehung ist Hilfe am Werden“.

So führte und leitete er seine Schüler und Zöglinge vom Frühsport an zu den Schulstunden, die bei ihm besonders begehrt waren. Die Förderung und Neigung der Schüler begleitete er stets aktiv auf allen Gebieten – von Sport, Theateraufführungen, Werkeln und Arbeiten auf dem Feld. Auch schöne Feste wurden gefeiert, so auch das 25. Jubiläum der Schulgründung. Der aufkommende Nationalkommunismus bereitete allen Probleme, Ripke versuchte zu vermitteln, doch seine Humanität und Toleranz gegenüber Andersdenkenden und jüdischen Mitbürgern brachten ihm die Ungnade des NS-Regimes. Am 31. März 1936 musste er die Leitung niederlegen auf Weisung des Oberpräsidenten in Magdeburg; kurz darauf auch die Lehrberechtigung.

1942 folgte die völlige Enteignung des zum „staatlichen Heimschulkomplex“ umgestalteten Schlosses. Die Schule wurde am 23. März 1945 geschlossen. Die Ripkes richteten noch einen Kindergarten im Schloss ein für die Flüchtlingsfamilien. Sowjetische Truppen rückten ein und waren überrascht über den Russisch sprechenden Schlossherren, der dann öfter als Dolmetscher fungierte. Am 23. September 1946 eröffnete eine pädagogische Fachschule für Russisch ihre Pforten, Ripke unterrichtete angehende Lehrer in alter und neuer russischer Literatur.

Die Schule wurde 1947 nach Dingelstädt verlegt. Nach Leerstand eröffnete 1954 die Lehrergewerkschaft im FDGB ein Erholungsheim, mit jährlich 3000 Gästen. – Ripkes hatten viele Schwierigkeiten im Schloss, der Landwirtschaft, mit dem Abgabesoll und Personal. – Schwer traf es ihn und uns alle, als am 10. April 1954 seine liebe Frau Hedwig verstarb. Nun wurde es auch stiller um diesen rastlosen Mann, der zeitlebens für und mit jungen Menschen arbeitete, sie anregte und lehrte, um sie auf ihren Lebensweg zu führen, was ihm durch seine Ausstrahlung, sein geistiges Wissen und sein persönliches Vorbild außerordentlich gelang. –

Frau Wund war Ripkes treue Begleiterin und so verließen sie am 13. September 1963 Schloss Bischofstein, welches Ripke 44 Jahre Heimat und Lebenshalt gewesen war. Hunderte glückliche Schülerinnen und Schüler erinnern sich ein Leben lang an Ripke und die „Dünne“, und liebevoll an ihre schönsten Jugendjahre auf Bischofstein, egal wie lange sie dort verbrachten, in großer Ehrfurcht und Dankbarkeit.

Frau Mund und Herr Ripke fanden gastfreundliche Aufnahme auf dem Kalkhof (bei Wanfried), bei Amchen und Wolfgang („Wölfi“) von Scharfenberg, nachdem sie die DDR störungsfrei verlassen hatten. – Der Kalkhof war ja nach dem 2. Weltkrieg unser „Ersatz-Bischofstein“, der gemeinsamen (jährlichen) Treffen der überlebenden Bischofsteiner und deren interessierten Nachkommen und Freunde. Nicht vergessen wollen wir unseren jährlichen „Bischofsteiner Blick“, von der Waldgrenze (der Plesse), oberhalb des Kalkhofes, hinüber zum Schloss, mit dem dortigen Gruß – einem weißen Laken auf dem Dach.

1964 zogen Frau Mund und Wilhelm Ripke nach Hannover-Linden, wo Arnd von Jagoni großzügig eine Wohnung zur Verfügung stellte. Dort konnten sie noch 14 glückliche Monate verbringen, im engen Kontakt mit alten Bischofsteinern, Lehrern und Schülern. Kurz nach Ripkes 79. Geburtstag vollendete sich der lange und segensreiche Lebensweg dieses außergewöhnlichen, einmaligen Mannes. Viele alte Bischofsteiner nahmen bei der Trauerfeier Abschied von dem großen Förderer ihrer Jugendzeit. Auf Wunsch des Verstorbenen wurden die Urnen auf dem Bischofsteiner Bergfriedhof, am 29. April 1965, unter großer Anteilnahme der Bewohner des Schlosses und der Lengenfelder Bevölkerung beigesetzt. Die Trauerpredigt hielt Pfarrer Jürgen Mahren Holz, Schüler in Bischofstein von 1933–1941. Helmut Bomer, von 1923–1931 in Bischofstein, hielt eine ehrende Grabrede und endete mit dem Goethe-Spruch:

„Nach ewigen, ehernen,
großen Gesetzen
müssen wir alle
unseres Daseins
Kreise vollenden.“

Am 28. November war der 94. Geburtstag unseres lieben „Wölfi“. Zum Gedenken rief ich seinen Sohn Andreas und Frau Ilse an, mit Verlaub auch in Eurem Namen, das werden Herbert Töpfer und ich auch am 19. Dezember tun, wenn wir am 3. Todestag „Wölfis“ Grabstätte aufsuchen und seiner ehrend gedenken.

„Wölfi“ war Bischofstein und Ripkes sein Leben lang eng verbunden und hielt unsere „Bischofsteiner Familie“ eng zusammen. Diese Zeit ist leider vorbei, der „Chef“ fehlt uns sehr, zurück bleibt uns nur die schöne Erinnerung an eine schöne, erlebte Jugendzeit.
Wölfis liebe Frau Amchen besuche ich übers Jahr öfter und halte unsere Verbindung aufrecht, leider geht es ihr nicht mehr so gut, so dass wir ihr nur eine gut friedliche Adventszeit wünschen können. Diesen Bericht wollte ich Euch doch gern zukommen lassen, mit den besten Wünschen für Eure Zukunft. Vielleicht wird es kleinere Wiedersehen im Eichsfeld geben.

Dies wünscht allen Bischofsteinern und Freunden mit der Hoffnung auf eine einsichtigere, friedlichere Menschheit und Zukunft,

Euer
Heinrich („Kalle“) Ehrenberg