Wollenkämmers Auszug und Heimkehr

Infolge seines kärglichen Bodens war das Obereichsfeld von jeher außerstande, seine zahlreiche Bewohnerschaft allein zu ernähren. Da mussten viele Eichsfelder ihr Brot in der Welt (Fremde) verdienen als Hausierer, Fabrikarbeiter, Ziegelbäcker und Wollenkämmer.
Ehe das Eichsfeld Eisenbahnen hatte, ging’s nach Art des fahrenden Volkes, der Handwerksburschen und Schirmflicker, auf Schusters Rappen in der Fremde. Gar mancher Biedermann, der im Winter zuviel in der Gemeindeschenke oder bei Schenk Julchen oder in der „Oberländer Schenke“ gewesen war und dort seine guten Groschen in volle „Kännchen“ umgesetzt hatte, musste sich vor der Abreise erst einige Taler Vorschuss leihen. Einer dieser redlichen Nothelfer im Dorfe L. nahm für den Taler drei gute Groschen Zins, zahlbar nach der Heimkehr. Da bei ihm fast jeder Hilfeheischende Gehör fand, stand er im Rufe der Geldmacherei.

Mit Zehrung für des Leibes Wohlbefinden versehen - den ungastlichen Gefilden der Heimat den Rücken kehrend – erfolgte alsdann der Aufbruch in jene Lande, allwo Milch und Honig fleußt, ins Sächsische, Braunschweigische, Hannoversche bis hinauf gen Bremerhafen und Budjadingen. Manche Wegebenennungen erinnern an jene Fahrten. Im Dorfe L. gab es zu jener Zeit eine Berliner Gasse, und im Hakel, einem Walde bei Halberstadt, gibt es heute noch einen „Eichsfelder Stieg“.

Was dem Nomaden seine Ochsenkarre, dem Eskimo sein Renntierschlitten, dem Zigeuner sein grüner Wohnwagen - das war manchem unserer fahrenden Eichsfelder sein Handwagen. Die hoffnungsvollen Sprösslinge, soweit sie sich ihrer Gehwerkzeuge für weitere Strecken noch nicht bedienen konnten, pflagen auf dem mit Bündeln und Kämmlingssäcken bepackten Gefährt der süßen Ruhe, während Vater, Mutter und ältere Geschwister die wenig beneidenswerte Tätigkeit des Zugtieres ersetzen mussten. Zuweilen begab es sich wohl auch, daß das Familienoberhaupt, eingedenk seiner Mannesehre, seinen Lieben allein das saure Geschäft des Ziehens überließ. Ungeachtet der Schweißtropfen, die jene vergossen, zog er – „munter fördern seine Schritte“ – des Weges fürbass. Kam ein Fremder daher, so schwang er wohl mit nachlässiger Eleganz sein spanisches Röhrchen und rief seinen Befohlenen geflissentlich auf hochdeutsch ein aufmunterndes Wort zu. Doch zählten – Gott sei Dank – solche Väter zu den Ausnahmen. Auf sie passte das Wort, das einmal jemand gesagt hat: „Der Eichsfelder hat wohl Glauben, doch die Liebe fehlt ihm.“

War man nach glücklicher Überwindung aller Fährnisse, die jenes mühselige Reisen mit sich brachte, im Hannöverschen angelangt, so wurden die größeren Kinder, hier eins, da eins, bei wohlhabenden Bauern ins Gedinge gegeben um, wie weiland der Knabe Menrad, als Hirte das Vieh des Bauern in treue Hut zu nehmen.

Zweifachen Vorteil genoss unser Wollenkämmer durch solche weitblickende Politik. Einmal hatte er sich unnützer Kostgänger entledigt und sie in gute Atzung gegeben, wo „ittel Bröt un Keemelsaalz“ unbekannte Größen waren, zum andern erwarb der Vater durch die Arbeitsleistung der Kinder Anrecht auf eine kleine Entschädigung, die zwar nicht in klingender Münze bestand, sondern in zartem Schinken und feistem Schweinespeck. Diese edlen Erzeugnisse deutscher Viehzucht, diese nach Ansicht vieler Eichsfelder, dem Schnaps gleichwertigen Nahrungsmittel in möglichst hoher Auflage als Arbeitslohn zu erlangen, war Wollenkämmers Ideal. Dass seine Kinder ihre Dienstzeit benutzt hatten, sich von dem Überfluss ihres Brotherrn Pausbacken anzuessen, schwellte die Brust des Vaters voll Freude und Stolz.

Manch glücklicher Wollenkämmer war sogar in die Lage versetzt, auf der Heimreise das harte Problem Kraft mal Weg durch ein Rösslein lösen zu lassen. Irgendeiner altgedienten Mähre wurde so der Gang zum Schinder gestundet. Und so verschönte sie ihren Lebensabend, indem sie als Zugtier und Weggefährte der heimkehrenden Familien durch das niedersächsische Land trottete, deren Oberhaupt jetzt stolzer sein spanisches Röhrchen schwang und nunmehr buchstäblich von sich sagen konnte: „Ich fahr dahin mein Straßen“. Doch diesmal ging es nicht ins fremde Land, sondern der lieben Heimat zu. „Hüh und hott“, klang es nun und „juh, Max!“ nicht ohne eine Beimischung von Schadenfreude, kam ein Handwerksbursche mit zerfransten Hosen und durchgelaufenen „Trittchen“ des Weges daher. Machte auf steiler Straße des Rössleins Alter seine Rechte geltend, und wollte es da nicht so recht voran gehen, so griffen die kräftigen Fäuste der Interessenten helfend in die Speichen, dem Gefährt zu schnellerer Bewegung verhelfend.

War man dann im heimatlichen Dorfe angelangt, dann zog der „Familienzuwachs“ wohl manch erstauntes Augenpaar auf sich, und verwunderte Reden wie: „Ha hett je änn Gül! Wee mäit dann wee do traane kummen si?“ wurden hörbar. Einen stolzen Wollenkämmer in L. geschah es einst, als er hoch zu Ross die Dorfstraße entlang ritt, dass die Rosinate über einen Kieselstein von beträchtlicher Größe stolperte, der heimtückischer Weise gerade in der Reitbahn lagerte, und darob zu Fall kam, seinen Reiter zum Glück nicht unter sich begrabend. Hilfsbereite Nachbarn mit Retteln und Hebebäumen taten ihr Möglichstes um dem altersschwachen Gaul wieder auf die Beine zu helfen, wobei sie weidlich von ihrem derben Mutterwitz Gebrauch machten.

Na, und auf die Dauer kann auch ein Pferd nicht von Luft leben. Trotz aller hochgemuten Zukunftsträume von einem Häuschen und einem Stückchen Land musste Freund Wollenkämmer alsbald seinen vierbeinigen Hausgenossen wieder veräußern.

Anton Fick