Wohl auf der Ziegelei
Ich erinnere mich, dass früher, in meiner Schulzeit, unsere eichsfeldischen Ziegler so eine Art Zunftgesang sangen, eine Hymne auf das Zieglerleben. Leider habe ich davon nichts behalten als einen wertlosen Brocken von dem nach jeder Strophe wiederkehrenden Refrain:
Wohl auf der Zie - Za - Zie - Za - Ziegelei .....
Weil ich nun so gar nichts von dem alten Zieglersang, der wohl alles drum und dran einer Kampagne in poetischer Form veranschaulichte, behalten habe, so will ich einiges aus meinem eigenen Zieglerleben in Prosa wiedergeben. Ich will aber gleich zu Anfang nicht verhehlen, dass ich nicht aus langjähriger, sondern nur etwa einhalbjähriger Erfahrung etwas wiedergeben kann, - weil ich also gleich nach der ersten Kampagne erkennen musste, dass der Zieglerberuf für mich ein verfehlter war. Zum anderen teile ich noch mit, dass die nachfolgenden Erlebnisse rund ein Vierteljahrhundert zurück liegen. Es wird sich sicher während der Zeit, die dazwischen liegt, manches gewandelt haben. Eine Schilderung des Zieglerlebens gemeinhin soll, was ich erzähle, keinesfalls sein, sondern nur persönliche Eindrücke und Erlebnisse des Dorfjungen sollen wiedergegeben werden. Ein wenig Humoristika, was ich als Würze des Ganzen hineinmenge, wird der Sache sicher keinen Abbruch tun.
An einem schönen Maiensonntage anno ... rüsteten wir zur Reise. Was freut sich so ein schulentlassener Dorfjunge auf eine Eisenbahnfahrt Unser Ziel war keinesfalls weit - lag sogar noch im heimatlichen Kreisbezirk. Aber dennoch bot die Reise allerlei Eindrücke für mich, der ich das erste Mal „in die Welt“ machte. Wie war es mir überwältigend, in dunkler Nacht durch die dröhnenden Tunnels zu fahren, fern und nah die Lichter von Dorf und Stadt zu betrachten, die geheimnisvoll wie zahllose tanzende Irrwische flackerten und glühten. - Da, wo die Lichter glühten, da wohnten Menschen und sahen wohl herüber auf den rollenden Zug, der einer glitzernden Riesenschlange mit Feueraugen ähnelte und uns entführte von den heimatlichen Gefilden. In später Nachtstunde lief der Zug in die Bahnstation eines beliebten Kurortes, im Werratal gelegen ein.
Schwer bepackte mit Koffern und Decken, schritten wir durch die schweigsamen Kastanienalleegänge der Bahnhofstraße, gingen über die wuchtigen Flussbrücken, unter denen sich die dunklen Fluten wälzten. Massig und dunkel ragten Salzgradierwerke gegen den sternenbesäten Himmel auf. So schritten wir dahin, mein Begleiter und ich, der angehende Ziegelsteinbrenner, als zwei einsame Wanderer, teilend „Eichsfelder Los.“Bald hatten wir das Städtchen hinter uns und gingen vorüber an der raunenden Linde: „Am Brunnen vor dem Tore“… Vom nahen Flussbette der Werra quakten die Frösche, an der Straße dufteten die Kirschbäume. Bald war W. erreicht. Dunkel und still lag das Dörfchen da. In grauen Mauern Unkenklage, - irgendwoher der hässliche Schauerton einer Nachteule. Am Ausgange des Dorfes schimmerten im Mondlichte die Leichensteine des Friedhofes. Ich drückte mich näher an meinen schweigsamen, stark ausschreitenden Begleiter.
Um Mitternacht erreichten wir unser Ziel und stiegen die primitive Stiege des Ringofens hinan. – Gasgeruch erfüllte die Luft. Da stand im Hintergrund mein ältester Bruder. Schwach leuchtete das Licht einer Öllaterne über den geheimnisvollen Raum. Mein Bruder, der Brenner, hob gerade eine Verschlusskapsel und speiste die feurige, unterirdische Glut. – Unter uns eine glühende Lavamasse. – Das war nun für mich die Stätte meines zukünftigen Schaffens. Nach kurzer Begrüßung schritt uns mein Bruder mit der Laterne voran. Knarrige Stiegen ging es hinan - eins - zwei - drei - Stock hoch. Zu beiden Seiten kohlenverstaubte Ziegelhürden. Endlich war unsere „Bude“ erreicht. Der Boden war in Lehm gestampft. Die Tür fehlte gänzlich. Die Innendekoration bestand in einer von den Zieglern selbst gefertigten Holzbank, drei selbst gezimmerten Lagerstätten aus wurmstichigen Brettern und einem ebenfalls selbst gefertigten Tisch. Dieser Tisch war zwecks Verdeckung seiner Mängel mit Packpapier (Ofenschieberpapier) bedeckt. An den Wänden standen die Holzkoffer. Meine Eindrücke wurden geschwächt durch die große Müdigkeit. Aus einer Ecke des Raumes kamen monotone Schnarchtöne. Dort lag ein Landsmann, „mit froh Wanderblut“ süß schlummernd in Morpheus Armen. Mit nicht wiederzugebenden Gefühlen entkleidete ich mich. Wie schon erwähnt, hatte mich die ungewohnte Nachtwanderung recht müde gemacht und bald lag ich, in meine Decken gehüllt, in festem, traumlosen Schlaf.
Ein Rütteln weckte mich, Der Brenner, der meinen Bruder abgelöst hatte, stand vor mir und gab mir Weisung, aufzustehen. Es war 5 Uhr morgens. Auf dem Tisch stand der dampfende Kaffeekessel. Schnell kleidete ich mich an. Einer Toilette bedurfte es nicht. Die Kleidung des Brenners besteht in einem Barchenthemd, leichter Blautuchhose und Jacke und Holzschuhen. Strümpfe oder Socken sind ebenfalls überflüssig. Lederschuhwerk würde auf dem heißen Ringofen bald spröde und rissig. Als einziges Essgeschirr besaß ich ein von Mutter eingepacktes „Kümptchen.“ Dieses „Kumpts“ bediente ich mich zur Aufgießung des Morgenkaffees. Es war Bohnenkaffee und wurde derselbe ohne Milchzusatz getrunken. Um sparsam zu wirtschaften und recht viel „übrig“ zu haben, nahm ich mir meine älteren Arbeitsgenossen zum Vorbild und machte mir gleich diesen „Proklamation.“ – Diese Bezeichnung war in unserer Ziegeleisprache gängig. Zu Deutsch sind es „Brocken mit Kaffeeaufguss“.
Nach Beendigung dieser Stärkung ging es mit den anderen hinab. Mein Bruder, der erste Brenner, bemühte sich, mir die Anfangsgründe der Tonbrennkunst theoretisch zu erläutern. Von seinen Ausführungen begriff ich zunächst sehr wenig. Meine praktische Arbeit bestand in regelmäßigen „Schmeißen“ der Kohlen in die Kapselöffnungen des Ringofens, wo in unterirdischen Kammern die glutzitternden Feuerwellen lohten. Zur pünktlichen Einhaltung der Feuerungspausen übergab mir der Bruder seine Taschenuhr. Zu einer eigenen hatte ich es noch nicht gebracht. Außerdem oblag mir noch das Kochen für die Ofenleute. Trotzdem ich in der edlen Kochkunst keinerlei Ausbildung hatte, gelangen mir die Suppen zu Mittag und die Pellkartoffeln zu Abend „vorzüglich“. – Das „Selbstgekochte“ schmeckte mir besser, als die ungleich besseren Mittags- und Abendgerichte auf Mutters Tisch es getan hatten. In den Gerichten hatte ich nun auch für Abwechslung zu sorgen. Der Küchenzettel wurde deshalb wie folgt aufgestellt. Der Verfasser desselben war der humorvolle Wenzel – Anton, der mir folgendes nahe legte:
Erster Tag: Bohnen mit Kartoffeln und Schwarten.
Zweiter Tag: Böhnchen dito.
Dritter Tag: Erbsen dito.
Vierter Tag: Erbserchen dito. - Dann wieder wie erster Tag.
Man sieht also, wie abwechslungsreich so ein Ziegeltücherprogramm ist. Nachdem ich zum ersten Mal den Kommunekochtopf in Schwung gebracht und dann nach Vorschrift Kohlen gefeuert hatte, sah ich mir die nähere Umgebung einmal genauer an. Durch das enge Tal rauschte ein Bach, ähnlich meiner heimatlichen Frieda. Aus den waldigen Berghängen schallten Amsellieder. Saftige Wiesenflächen schmiegten sich zu beiden Seiten des Bachlaufes, der sehr fischreich war. Das war noch mein Eichsfeld, meine Heimat; nur fehlte mir das traute Elternhaus. So gingen nun die ersten zwei Wochen vorüber und ich hatte den ersten freien Sonntag. Am Nachmittage des Vortages hatte ich zum ersten Male Löhnung auf Abschlag. Nach Abrechnung der Kommune und des noch stehen bleibenden Betrags war das, was ich erhielt, allerdings herzlich wenig. Aber es war mein erstes Geld, das ich selbst verdient hatte. So machte ich mich mit Herzensfreude mit einem Landsmann auf den Weg, unseren freien Sonntag daheim zu verbringen. Wir legten den Weg zu Fuß zurück. Es ging durch Täler und Schluchten, über kahle Höhen und durch dunkle Wälder, an einsamen Gehöften vorbei und durch freundliche Dörfchen.
Ich kam mir vor wie ein richtiger „Wanderbursche mit dem Stab in der Hand.“ Es kam mir vor, als marschierten wir in entgegengesetzter Richtung, wo nach meinem Dafürhalten meine Heimat liegen musste. Ich hatte die Orientierung in dieser mir fremden Gegend verloren. Da tauchte endlich, als wir auf einer Höhe waren, die Turmspitze des Hülfensbergkirchleins auf. Da wurde mir ganz wehleidigfroh zu Mute und neue Kraft kam in die müden Wanderglieder. Ich wusste, dass ich Heimweh gehabt hatte, vierzehn Tage lang. Noch mehrmals habe ich den Weg im Laufe des Sommers zur Heimat zu Fuß zurückgelegt und immer überkam mich die seltsame Stimmung, wenn ich von jener Anhöhe den Hülfensberg erblickte. Anderenmals aber benutzten wir auch die Eisenbahn zur Heimkehr. Der Weg bis zur Station nach A-S. war mir auch recht vertraut geworden, da ich sonntags morgens stets zum Städtchen wanderte, um meiner Pflicht des Messebeiwohnens dort im katholischen Diasporakirchlein zu genügen. Dort in dem Kirchlein sah ich auch Heimatmenschen. Mein vor Jahren nach hier verzogener Onkel tat sogar dort den Altaristendienst. Diese Frühwanderung am Sonntagmorgen durch das taufrische Tal war mir jedes Mal eine Erholung.
Eine wahre Erquickung waren auch jedes Mal die wenigen Heimatstunden. Dass ich in der kurzen Zeit meiner jeweiligen Abwesenheit den Wert der Heimat schätzen gelernt habe, brauche ich wohl nicht näher zu erläutern. Schnell gingen diese Heimatkehrstunden jedes Mal vorüber und am Abend des Sonntags führte uns der Zug wieder an unsere Arbeitsstätte, wo wir jedes Mal, nach etwa eineinhalbstündiger Wanderung von der Bahnstation aus, um Mitternacht anlangten. Mit dem „Übrighaben“ hatte es, da mein Lohn sehr gering war, gute Wege. Aber ich wollte aushalten. Das kleine Dörfchen, an dessen Ausgange unsere Ziegelei lag, wurde mir schnell bekannt. Es wurde auch von Vater, der dort als der „Wollenmann bekannt war, auf der Tour besucht. Die Bewohner waren alle „echte Leutchen“ und mir wohlgesinnt. Bei „Nollfranz“ (Abkürzung von Nolte - Franz) deckten wir unseren Bedarf an Kommunalsachen, als Kaffee, „Tittschen“ und Hülsenfrüchte.
Meine Arbeitszeit währte von morgens 5 Uhr bis abends 8 Uhr. An Sonntagen, die nicht frei waren, begann meine Frühschicht um 3 Uhr morgens und währte bis 6 Uhr morgens, wo ich abgelöst wurde, damit ich das Sonntagshochamt in A. noch erreichte. Der nächstfolgende jeweilige Sonntag war frei und wurde regelmäßig in der Heimat verbracht. So ging der Sommer dahin und kalte herbstliche Tage brachten den Abschluss der Kampagne. Die waldigen Höhen ringsherum waren schon mit den ersten Herbstfarben getupft, als ich Abschied nahm von ihnen, um nie wieder zurückzukehren. Dass ich der Zieglerbranche damals Valet sagte für immer, lag nicht daran, dass mir dieselbe zu wenig „poesievoll“ gewesen wäre.
Durchaus nicht. Von dieser Zieglerromantik träume ich noch heute - und immer, wenn ich die Ziegler abreisebereit am heimatlichen Bahnhof stehen sehe, summt in mir unbewusst der Refrain ihres alten Zunftgesanges: Wohl auf der Zie - Za - Zie - Za – Ziegelei… Die Gründe für die Abwendung lagen damals in persönlichen Verhältnissen. Das Schicksal hatte mich eben nicht zum Ziegler erkoren. Ich weiß auch nicht, ob unser Heimatdichter Martin Weinrich – Gott habe ihn selig – schon damals das Gedicht: „Drhäimen äs drhäimen“ niedergeschrieben hatte. Aber dass es Wahrheit ist, was der Dichter so schön sagt, habe ich recht eingesehen nach Beendigung meiner ersten und letzten Zieglerkampagne – und die Erkenntnis kam auch mir, als ich wieder im Vaterhause war: Dr’häimen äs dr’häimen!