Winterfreud und Winterleid (1993)
Seit Jahren hatten wir keinen richtigen Winter. Nun, jetzt in den letzten Januartagen war es mal wieder so weit. Über Nacht hatte es tüchtig geschneit. Das Thermometer war außerdem auf 16 Grad minus gefallen. Nun war ein fröhliches Treiben an den Hängen des Dünberges und am Hasenborn. Schlitten und Skier wurden von unseren Kindern hervorgeholt, und sie konnten sich mal so richtig austoben, bei diesem herrlich sonnigen Winterwetter.
So kamen mir auch einige Gedanken an die Kinderzeit meiner Generation vor dem 2. Weltkrieg. Meine Kinderzeit erlebte ich ja auf den Struther Höhn, fast 600 m. über dem Meeresspiegel, und so waren diese Winter auch immer etwas deftiger als in den Niederungen.
Wenn ich so zurückdenke, so gab es damals kaum einen Winter ohne Schnee. Ja, oft lag der Schnee wochen- und monatelang. Auch hatten wir meistens eine weiße Weihnacht, und wenn wir morgens um 5 Uhr zur Christmette gingen, war es auch oft klirrend kalt. So bauten wir in diesen Wintertagen mannshohe Schneehöhlen und -burgen am „Kalten Berg“ ortsauswärts Richtung Effelder. Auf dieser Anhöhe lag meistens viel Schnee. Im Winter 1941/42 lag eine Unmenge Schnee, sodass tagelang kein Fahrzeugverkehr stattfinden konnte. Alles musste mit dem Pferdeschlitten transportiert werden. Auch die tägliche Milch der Bauern zur Molkerei nach Görmar. Tage- und wochenlang wurde auf den Straßen von Struth nach Eigenrieden, Effelder oder Küllstedt Schnee geschaufelt. Der Schneepflug wurde von 14 starken Pferden gezogen.
Übrigens war es eine kleine Einnahmequelle für die Pferdehalter. Teilweise blieb sogar der Schneepflug stecken, so mussten erst Männer mit der Schaufel notdürftig Bahn machen. Auf der Straße von Struth nach Eigenrieden lag der Schnee bis unter die Telefondrähte, und von Struth nach Lengenfeld war es tagelang zugeschneit und keinerlei Verkehr möglich.
Es sei vielleicht auch daran erinnert, dass in diesem Winter mancher unserer Väter und Brüder sein Leben oder Gesundheit als Soldat im winterlichen Russland vor Moskau lassen musste. Teilweise fehlte diesen die Winterbekleidung. Viele sind erfroren oder haben Erfrierungen mit Spätfolgen davongetragen. Mancher leidet heute noch darunter. Auch Napoleon hat seine Schlacht im winterlichen Russland verloren!
Doch der schlimmste und kälteste Winter dieses Jahrhunderts in unserer Region soll 1928/29 gewesen sein. Ältere Leute erzählen, dass die Quecksilbersäule auf fast 30 Grad minus gefallen sei. Bei den damaligen Heizmöglichkeiten in den Wohnungen recht kompliziert. Viele Wasserleitungen waren eingefroren und platzten. Die meisten Obstbäume sind erfroren. Das war natürlich etwas zu viel des Guten.
Alles in allem haben uns die Winter in unserer Kindheit eine fröhliche Zeit beschert. Es gab weder Fernsehen noch Radio. So gingen die Frauen und Mütter oft abends zur Spinnstube zu Verwandten oder Bekannten.
Oder es kam auch Besuch ins Haus. Es wurde gestrickt, geplaudert, auch gesungen und auch ein Kaffee-Kränzchen gemacht. In der Fastnachtszeit wurden hierfür meistens „Fettkräpfel“ gebacken. An so einem Abend durften wir dann als Kinder etwas länger aufbleiben und horchten „mucksmäuschenstill“, was sich die Älteren so an Episoden und Erlebnissen zu erzählen hatten. Doch dann kam auch plötzlich das Kommando: „Marsch ins Bett!“
Das war so die Zeit, von der man heute im Nachhinein von Großmutter und Großvater sagen kann: „Se hotten nüscht aan. Se saßen im Dunklen sö do. Kenn Radio, kenn Fernseher aan.“
Ältere Menschen konnten damals zur Dämmerstunde wunderbare Märchen aus dem Kopf (ohne Märchenbuch) erzählen. Wir Kinder hörten dann ganz aufmerksam der spannenden Erzählung zu. Wehe dem aber, wenn beim nächsten Mal die Erzählung etwas abwich, so machten wir uns lautstark bemerkbar.
Die Menschen dieser Zeit waren gewiss nicht unzufriedener als heute, trotzdem sie nur ein Mindestmaß vom heutigen Wohlstand hatten. Auch wir Kinder haben uns nicht unglücklich oder unzufrieden gefühlt. Wir kannten es nicht anders und waren mit den uns von unseren Eltern gebotenen Möglichkeiten zufrieden.
Dieser Tage fiel mir ein Kalenderblatt in die Hand, welches zu meinen Erinnerungen passt: „Jeder ist so glücklich oder unglücklich, wie er sich sieht.“
Willi Tasch
(Quelle: „Obereichsfeld-Bote“, Heft 7/1993)