Winter auf Schloss Bischofstein 1940/1941
... Grausig war er. Grausig und schön zugleich. In den Weihnachtsferien fing er an. Ungefähr damals, als Wölfi und Harald Scharfenberg im Schneesturm heimzogen. Nach diesem Schneesturm kamen wunderbare Wintertage. Wie im Gebirge, Blauer Himmel. Die Sonne schien. Alles glitzerte. Klare, reine Luft. Und die Farben! Besonders abends und morgens, so zart, so reich an Tönen, wie auf den Bildern der Impressionisten. Ich wünschte mir manchmal Heinitzens (Zeichenlehrer auf Bischofstein) herbei, um das zu sehen. Ich weiß, dass ich diese Zeit, obgleich ich wahrlich kein Freund von Kälte bin, richtig genossen habe. Manchmal war wunderbarer Raureif, dass der Wald wie verzaubert dastand. Wie im Märchen. So sah‘s draußen aus. – Und drinnen? Entsetzlich! Die Dampfheizung revoltierte einfach. Sie hatte nichts übrig für Märchenstimmung. Die unverschämte Kälte passte ihr nicht, und sie platzte einfach aus allen Ecken und Enden. Manchmal spritzte brauner Gischt bis zur Decke empor. Überschwemmungen allerorten, die gleich zu spiegelglatten Eisflächen wurden. Teile der Decke polterten herunter. Natürlich passierten im Lokus furchtbare Dinge. Außer Thomas Kaufhold waren zwei Monteure aus Mühlhausen wochenlang mit unserem neuen Schweißapparat beschäftigt, allen Schaden wieder zu reparieren. – Nun war das wahrlich Unglück genug. Aber es war noch nicht das Schlimmste. Das Schlimmste war, dass unsere geringen Kohlenvorräte bei der furchtbaren Kälte erschreckend schnell dahinschwanden. Und es wollten und wollten keine neuen heranrollen. Sonst hatten wir immer schon im Sommer ein schwarzes Gebirge neben dem Autoschuppen liegen gehabt. Aber trotz allen Drängens und immer wieder Bestellens waren keine zu kriegen gewesen. - Und nun brach eine furchtbare Zeit an. Wochen, in denen man die Hauptzeit des Tages am Telefon zubrachte. Das Wirtschaftsamt wurde angefleht, der Kohlenhändler bestürmt. „Die Scheine sind abgeschickt! Morgen oder übermorgen kommt ein Waggon. Bestimmt!“ Man war voll Hoffnung. Und dann kam die bittere Enttäuschung. Der furchtbare Frost war schuld. Überall war alles eingefroren. Und die Waggons konnten nicht kommen. Was sollte man machen? Die Jungen nach Hause schicken? Jeden Mittag bei Tisch wurde die Frage erörtert. Aber zu Hause war es ja auch nicht besser. Wenigstens bei den meisten nicht. Nur einer wusste immer noch einen Ausweg. - Und das war Thomas Kaufhold. Überhaupt, wenn man nicht mehr aus noch ein wusste, gab es einen Ort, wo man sich Trost holen konnte. Die ehemalige Bollmannsche, jetzt Kaufholdsche Küche. Sie war von jeher ein tröstlicher Ort. Auch der gute, alte Bollmann, wenn es ganz dicke kam, er wusste noch einen Rat, und so ist's jetzt mit Thomas auch, der sein Erbe angetreten hat. Er kaufte noch irgendwelche alten Pflaumenbäume, die in die gefräßigen Mäuler der Kessel hineinwandern konnten. Und nachts halfen ihm treulich die großen Jungen, die abwechselnd wachten und die Biester jede Stunde fütterten, damit sie nicht streikten.
Als ganz besonderes trostlos ist mir noch ein Morgen erinnerlich, an dem mein Mann mich ganz früh aus dem Bett holte mit den Worten: „Komm schnell runter! Große Verzweiflung in der Küche!“ Und wahrlich, da war kein Auge tränenleer. Die arme Martha hatte sich seit vier Uhr abgequält, Feuer im Herd zu machen, aber das klitschnasse Holz war ihr immer wieder ausgegangen. Da tat Hilfe not. Aus irgendeinem Winkel wurde noch ein Restchen trockenes Holz hervorgezaubert, und endlich, endlich fing der Brei an zu kochen. --- Ähnlich schauerlich ging es in der Waschküche zu. Die war der reinste Eispalast. Mit Pickeln gingen die Männer dran, das Eis loszuhacken. Und die Wäsche?! An Trocknen war nicht zu denken. Da hingen nur steif gefrorene Bretter. - Wahrlich, hier muss ich mal meinen dankerfüllten Herzen Luft machen. Erst in solchen Zeiten der Not wird es einem so richtig klar, welchen Dank wir alle den Menschen schuldig sind, aus denen solch ein Betrieb stillschweigend und selbstverständlich ruht. Von Thomas Kaufhold sprach ich schon. Aber Käte in der Küche dürfen wir nicht vergessen und ihren Stab. Sie haben den Kochlöffel nicht hingeschmissen und sind nicht davongelaufen, wenn nichts kochen wollte. Das Essen kam trotz allem pünktlich auf den Tisch. Ja sogar Dampfnudeln, Reibekuchen und Äpfel im Schlafrock, die so viel Mühe machen. Auch die Wäsche wurde schließlich fertig dank Annchen Kucklicks und ihrer Getreuen unermüdlichem Eifer. Auch wenn ihre Hände vor Kälte erstarrten und sie große Frostbeulen an den Füssen hatten. - Und dann! Ein Wunder! Hucke rettete sich sein Treibhaus durch den Winter mit einem winzigen Häufchen Kohlen. Wie er's gemacht hat, ich weiß es nicht. – Unbedingt muss hier auch der kleinen Marie gedacht werden. Was hätten wir wohl ohne sie gemacht bei den ewig überschwemmten und eingefrorenen Lokussen? Sie hat nicht gestreikt. Geduldig hat sie die immer wieder gewischt und gewischt. - Bei der kleinen Marie fällt mir ihre Freundin, die gute Stumme, Rara, die treue Seele ein. Sie ist im Februar bei ihrer Tochter in Hamburg gestorben. - Übrigens haben wir, seit Bollmann eingezogen ist, wieder einen taubstummen Tischer. Aber nicht den von früher. Er macht seine Sache ganz ausgezeichnet und ist Fräulein Buris besonderer Freund. - Der arme Riese hat jetzt ein ganzes Teil mehr zu tun, seit sie auch Albert zu den Soldaten geholt haben. Aber das verdrießt ihn nicht. Unermüdlich zieht er seine Furchen und sät fein Korn.
Immer noch will die Kälte nicht aufhören. Jeden Morgen glitzert sie uns von neuem an. Riesige Schneepolster liegen auf dem Brunnenrand. Das Dach hat schwere Lasten zu tragen, und an seinem Rand hängen die längsten Eiszapfen des Eichsfeldes. Die geheimnisvolle Flasche, die bei meinem Mann immer in der Dachrinne liegt, ist vollständig verschwunden. An einem bitterkalten Tag nun habe ich sie heimlich ans dem tiefen Schnee ausgebuddelt und ein paar Schlückchen genommen. Und als mir so schön warm danach wurde, bin ich noch öfter drangegangen. Lacht da nicht jemand? Das Lachen kommt mir so bekannt vor. Wer sind doch die beiden Damen? Meine lieben Damen, freut Euch nicht zu früh. Jetzt bin ich wieder ganz brav. Aber was sollte man machen?
Während drinnen im Haus alles fror und klapperte, auf den lauwarmen Heizkörpern rum hockte und sich ein Kleidungsstück übers andere anzog, konnte man draußen herrliche Schitouren machen. Schiwettkämpfe wurden ausgetragen. Und einmal ist auch Herr Hoffmann mit einer ganze Menge Jungens zwei Tage lang auf dem Meißner gewesen. Und alle kamen hell begeistert zurück.
Übrigens haben nicht nur wir Menschen unter dem Winter zu leiden gehabt. Die armen Tiere hatten‘s noch viel schlimmer. Beim Bondyhäuschen (Haus im Garten der Schlossanlage) fand Herr Thierbach eines Tages einen erfrorenen Bussard. Er hatte die Flügel ausgebreitet und den Kopf zur Seite geneigt. Wie ausgestopft sah er aus. 2 kleine Sextaner brachten auch mal ein totes Reh auf ihrem Schlitten heim. Diese armen Tiere hatten furchtbar zu leiden. Nachts kamen sie oft in den Garten. Beim Heinitz-Haus hatten wir ihnen einen Futterplatz eingerichtet. Eines Morgens fand mein Mann ein Reh, das sich auf dem Tennisplatz gefangen hatte. Er brachte es in den Holzstall, und man gab ihm Milch aus der Flasche zu trinken. Bald bekam es einen Kameraden, den Riese bei den Ställen fand. Leider ist eins von den beiden eingegangen. Dem anderen machte Billo als Erkennungszeichen einen Druckknopf ins Ohr. („Pfui", sagt Billo, ,,es heißt doch Lauscher!") Und ließ es dann laufen. Fröhlich sprang es von dannen, aber seine Geschichte ist damit noch nicht zu Ende. Im Spätherbst, an einem Sonntagmorgen, Billo ist gerade im Revier, da kommen ein paar Jungen ganz aufgeregt an: ,,Wir haben am Bahndamm ein totes Reh gefunden!" Wir denken an Wilderer und furchtbare Geschichten und rufen gleich den Oberförster. Was war passiert? Das Reh muss gegen den Zug gerannt und dabei zu Tode gekommen fein. Und was entdeckt der Oberförster in seinem Ohr? Den Druckknopf!!! So endete die traurige Geschichte von dem Reh mit dem Knopf im Ohr.
Eine schlimme Winterplage waren auch die zum Teil erfrorenen Kartoffeln, mit denen wir uns bis zur neuen Ernte herumquälen mussten. Die eisige Kälte hatte sogar einen Weg in unsere guten, festverschlossenen Keller gefunden. - Später stellte sich heraus, dass der Winter uns noch einen schweren Verlust gebracht hat. Etwa 170 Obstbäume sind uns erfroren. Besonders viele Zwetschenbäume.
Endlich, endlich setzt das Tauwetter ein. Lawinen poltern von den Dächern herab, und die wunderbaren langen Eiszapfen über den Schlafsaalfenstern werden heruntergeschlagen. Jedes Mal, wenn einer unten in tausend Splitter zerspringt, gibt‘s ein Freudengeheul.
Der erste Vorfrühlingstag (23. Februar) ist meines Mannes Geburtstag.
Hedwig Ripke (Frau des Internatsleiters Dr. Wilhelm Ripke)
(Quelle: Bischofsteiner Chronik 1940/1941)